Im Gespräch mit Pressenza beschrieb Marie Dutrepont den Prozess und die unerträgliche Situation im Flüchtlingslager Moria (Lesbos) in Griechenland. Sie beschrieb die alltäglichen Bedingungen in einem Lager, das für 2.500 Menschen konzipiert wurde, in dem heute aber 25.000 untergebracht sind. Sie sprach über die Ängste und Risiken für Frauen, die nachts auf die Toilette gehen. Am erstaunlichsten ist ihre Beschreibung der institutionalisierten physiologischen Folter, die von der Europäischen Union an den Flüchtlingen durchgeführt wird.
„Als ich dort war, waren wir etwa 6 Anwälte für damals 7-8.000 Menschen“, sagte sie. „Es gibt also nicht genug, um die Menschen richtig vorzubereiten. Und es gibt keine Unterstützung. Wenn hier in Belgien jemand einen Asylantrag stellt, begleite ich ihn zu seiner Anhörung. Dort war es fast unmöglich; es gibt keine Genehmigung, ausländische Anwälte dürfen sie nicht begleiten, usw. Alles ist auf allen Ebenen so problematisch. Es gibt wirklich nichts, was geht, sei es in Bezug auf Information, Informationsübermittlung, Klarheit… selbst als auf Asylrecht spezialisierte Anwälte haben wir oft nichts verstanden; die ständige Veränderung der Regeln…“.
Als ich diesem Interview zuhörte, war ich erstaunt über die Parallelen zwischen den Techniken und Strategien der Europäischen Union und denen des Immigration and Customs Enforcement (ICE) in den USA. Wie können zwei sehr unterschiedliche Systeme – die EU mit 27 Ländern und die US-Regierung – dieselben illegalen Aktionen gegen Asylsuchende entwickeln und anwenden, die aus Kriegs- und Gewaltmilieus stammen? Es handelt sich um zwei verschiedene politische Systeme mit sehr unterschiedlichen Strukturen und Rechtsverfahren.
Wir alle haben die schrecklichen Bilder von lateinamerikanischen Familien gesehen, die unter ICE-Gewahrsam getrennt, wobei kleine Kinder allein in Käfigen gehalten werden. Wir haben auch gesehen, wie Karawanen aus Mittelamerika an der mexikanischen Grenze angehalten werden, wodurch diese Migranten der Gnade lokaler Kartelle ausgeliefert sind. Wir haben auch gesehen, wie diese Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer Schiffbruch erlitten. „Wenn wir nicht bald eingreifen, wird es ein Meer von Blut geben“, sagte Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Italien.
Die EU hätte leicht wirtschaftliche Sanktionen gegen die USA wegen Menschenrechtsverletzungen verhängen können, und die USA hätten dasselbe gegen die EU tun können; natürlich geschah beides nicht, aber beide verhängten seltsamerweise immer wieder Sanktionen gegen Russland, Iran, Venezuela und so weiter.
Diese Situation ist nur möglich, weil die Weißen glauben, dass sie das Zentrum des Universums sind und tun können, was immer sie wollen (um jeden Preis), unter Missachtung von internationalem Recht (von allen Parteien unterzeichnete Abkommen). Am inakzeptabelsten ist dabei, dass Diskriminierung und Rassismus die Grundlage ihrer Einwanderungsstrategie bilden. Viele Länder der Welt haben es mit Flüchtlingen in einem Verhältnis zu tun, das weit über das hinausgeht, was der „Weiße Westen“ jemals akzeptiert hat. Bangladesch zum Beispiel, eines der ärmsten Länder der Welt, nahm proportional mehr Flüchtlinge auf als Frankreich, Belgien, die USA, Norwegen, Finnland, die Niederlande, Spanien, Ungarn, Portugal und Irland (Einzelheiten dazu auf Cato.org).
In Wahrheit geht dieses Verhalten weit über einen einfachen Fall von Diskriminierung oder Rassismus hinaus; es zeugt von der tiefen Überzeugung, dass der Weiße Westen Rechte hat, die über jeder anderen Kultur stehen, und dass er frei ist, jegliche Rechtfertigung (Demokratie, Menschenrechte, Freihandel, Redefreiheit usw.) zu nutzen, um sich durchzusetzen. Dies ist, seit Tausenden von Jahren so tief in unserer Kultur verwurzelt, dass es etwas kompliziert geworden ist, dies von innen heraus zu sehen – wie ein Fisch, der das Wasser nicht in Frage stellt. Wir sehen nicht, dass es nicht menschlich ist, Kinder in Lagern einzusperren, dass es nicht menschlich ist, jemanden mit einem Knie zu töten, dass es nicht menschlich ist, eine Pistole in den Rücken eines anderen zu leer zu schießen, dass es nicht menschlich ist, weiterhin Energieformen zu benutzen, die unsere eigene Umwelt zerstören, dass es nicht menschlich ist, der Mehrheit der Menschen den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen zu verwehren, nur um ein unkontrollierbares kapitalistisches Monster zu sättigen.
Europa und die USA müssen Asylbewerber aufnehmen, und wir müssen sie gut behandeln. Wir müssen in unseren Köpfen und Herzen etwas tun, um eine unbequeme Situation in eine gültige Handlung zu verwandeln, die wir bereit sind zu wiederholen. Diese Umwandlung könnte unseren Horizont für eine neue Reihe von Überzeugungen und Werten öffnen, die nicht auf Ängsten, sondern auf Erfahrungen mit gut gemachten Taten beruhen. Wir können nicht zulassen, dass People of Color allein dagegen ankämpfen: Schließlich haben sie das Problem gar nicht erst geschaffen, und es liegt in unserer Verantwortung, diesen historischen Fehler zu beheben, bevor es zu spät ist.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!