Man muss doch ganz schön viel Selbstvertrauen mitbringen, wenn man sein Leben auf fast 600 Seiten niederschreibt und bei einem großen Verlag verlegt, oder? Doch wer ein wenig vertraut ist mit der Lebensgeschichte und der (Bühnen-) Persönlichkeit von Hannes Wader, der weiß, dass es so einfach nicht sein kann.
In der schwäbischen Provinz geboren, hatte ich irgendwann als Jugendliche das Glück, Hannes Wader in der Stadthalle unserer mittelgroßen Kreisstadt zu erleben. Den Stern des norddeutschen Liedermacherhimmels sozusagen – so fühlte sich das für uns Schwaben zumindest an. Eigentlich hört man als Jugendlicher ja eher ganz andere Musik, aber es gab so ein paar deutsche Liedermacher, die sprachen einen einfach an, trafen einen mitten ins Herz. Und dazu gehörte auch Hannes Wader. Ernsthaft und eher introvertiert, trotz Bühnenkarriere – so wirkte er immer auf mich, doch hatte ich keine Ahnung, bevor ich das Buch las, wie viele Themen da so in ihm schlummern.
Geboren wurde Wader, erstaunlich für mich, in der Nähe von Bielefeld. Ich als Süddeutsche hatte ihn komplett in den Norden eingeordnet, also quasi „von der Nordseeküste wech“ ;-).
Er ist ein Nachzügler und erfährt nie große Zeichen der Liebe und Zuneigung – eine Tatsache, die ihn bis heute begleitet und prägt. Immer hat er das Gefühl, nicht gut genug zu sein, der Wunsch, geliebt und gesehen zu werden, ist riesengroß. Das Fehlen der körperlichen und emotionalen Nähe, das seine Kindheit und Jugend auszeichnet, formt ihn. Alle Erlebnisse, seien sie schön oder traumatisierend, muss der Junge mit sich selbst ausmachen. Der Vater ist noch nicht wieder aus dem Krieg zurückgekehrt und so ist Onkel Edi, der Bruder des Vaters, sein „Vaterersatz“. Das setze ich deshalb in Anführungszeichen, weil es abstrus ist, ihn so zu bezeichnen. Dieser Onkel, der durch seine Kriegserlebnisse traumatisiert ist, ist derart brutal, unemotional und verbittert, er lässt an dem kleinen Kerl, der Wader damals war, kein gutes Haar. Und wenn Edi dann mit Haselnusszweigen nach ihm peitscht und ihn blutig schlägt, kriegt der Junge abends noch Ärger mit Muttern, die vermutet, dass Sohnemann sich wieder nur in den Büschen rumgetrieben hat.
Man geht nicht zimperlich mit dem kleinen Kind um, bei Mittelohrentzündungen wird ihm beispielsweise heißes Rapsöl in den Gehörgang gekippt. Heute ist Wader stark schwerhörig und führt das unter anderem auf diese ruppigen Heilmittelchen zurück.
Weder zum Vater, als dieser endlich wieder zu Hause ist, noch zu sonst einem Familienmitglied kann der kleine Junge eine heilbringende, liebevolle Verbindung aufbauen – der betagte Hannes Wader lamentiert nicht, aber er macht deutlich, wie sehr ihn all diese Lieblosigkeit nachhaltig verletzt hat.
Wader widmet den unterschiedlichsten Phasen seines Lebens ausführliche Abschnitte, er gliedert sie in große Kapitel:
- Kindheit
- Lernen
- Singen
- Handeln
Im detaillierten Anhang finden sich Zeittafel, Diskografie, Liedverzeichnis, Literaturverzeichnis und Bildnachweise.
Die großen Einheiten, die er bündelt, sind dann wiederum durch kleine Kapitelchen, die Sinneinheiten bilden, untergliedert. So bekommen in der Kindheit prägende Personen oder auch wichtige Erlebnisse eigene Kapitelüberschriften. Dadurch lassen sich, beim nachträglichen Durchblättern, leicht Stellen wiederfinden, die einem besonders gut gefallen haben und die man noch einmal durchlesen möchte.
Wader beginnt seine berufliche Karriere erst einmal als Lehrling eines Dekorateurs für Schuhläden – eine Ausbildung, die er zwar zu Ende bringt und durch die er sich sein erstes Geld verdient, in der er aber nie Freude empfindet. Die empfindet er in seiner Freizeit, wo er nebenbei in Bands mitmischt, da er Mandoline und Gitarre spielen kann und später auch Klarinette und Saxophon beherrscht. Wader entdeckt den Jazz für sich. Ihm wird als Dekorateur schließlich vom Chef gekündigt, was aber für ihn auch eine Chance bedeutet, denn sie bringt ihn dazu, sich neu zu orientieren. Er beginnt schließlich ein Grafikstudium in Bielefeld, geht dann aber weiter nach Berlin, wo er an der Akademie für Graphik, Druck und Werbung (heute: Universität der Künste Berlin) studiert. Neben künstlerischen Fächern wird dort auch Politik, Geschichte, Psychologie, Kunstgeschichte, Germanistik und Englisch unterrichtet. Literarisch vertieft er sich in dieser Zeit in Romane von Balzac. Der Sohn einfacher Eltern vom Lande sammelt sich seine Bildung zusammen. Es sind im besten Sinne Lehrjahre.
Tief beeindruckt von einem amerikanischen Straßenmusikanten, versucht auch Wader eines Tages sein Glück in der geteilten Stadt Berlin, überwindet seine Hemmungen und verdient sich immerhin einen Teller Erbensuppe mit Gitarrenspiel und englischem Gesang. Er ahnt, dass etwas von der Überzeugungskraft, die der Amerikaner ausstrahlte, darin liegt, dass er sich seiner sicher war und dass er sich in seiner Muttersprache wohl und zu Hause fühlte. Deutsch ist durch den Krieg negativ besetzt. Wie soll er, Wader, sich also jemals so gut verkaufen können, wie dieser Sänger, wenn er vor dieser sprachlichen Krux steht? Er beschließt, eigene Lieder zu schreiben – tatsächlich auf Deutsch. So kann er immerhin authentisch von dem singen, was ihn beschäftigt. Und vorbelastet sind seine Melodien auch nicht durch irgendwelche widerwärtigen Ideologien. Und so nimmt allmählich alles seinen Lauf und aus dem Landei wird einer junger Mann, der dank seiner Sangeskunst die Welt kennenlernt.
Wader hat die großartige Begabung, seine Lebenserfahrungen ähnlich poetisch zu formulieren wie seine Liedtexte. Man merkt ihm die Routiniertheit beim Schreiben an – da ist jemand dran, der sein Handwerk beherrscht. Dennoch muss ich sagen, dass mich die vielen Seiten angestrengt haben – nicht, weil sie schlecht geschrieben wären, sondern weil ich in der momentanen Ausnahmesituation bedingt durch Corona nicht das Sitzfleisch habe, mich so lange an ein Oeuvre zu setzen. Und man muss schon Fan sein, um jedes Detail dieses großen Buchs verschlingen zu wollen. Sicherlich umspannt dieses Leben, das mitten im Krieg (1942) begann, eine große Bandbreite an politischen Umwälzungen, Veränderungen in der Welt und Wader flicht diese auch immer in seine Betrachtungen ein, dennoch wäre dieses Buch vielleicht noch leichter zugänglich, auch den Nicht-Fans, wenn es ein wenig entschlackt worden wäre.
Fazit: Wader ist ein durch und durch sympathischer Mensch, der einem vielleicht noch ein bisschen netter erscheint durch den charmanten Charakterzug, grundehrlich von sich und seinen eigenen Fehlern zu berichten. Er ist das Gegenteil eines eitlen Gockels und dieses Buch ist ein guter Lesestoff für alle, die ein großes Durchhaltevermögen haben – diese allerdings werden dann belohnt!
Trotz alledem von Hannes Wader ist im Oktober 2019 im Penguin Verlag erschienen. Rezension von daslesendesatzzeichen.