Von ihrem Haus in San Salvador de Jujuy (Argentinen) aus, wo sie immer noch unter Hausarrest steht, hat die Leiterin der sozialen Organisation Tupac Amaru in der Öffentlichkeit (*) einige Überlegungen zur aktuellen Situation und zu den Folgen der Coronavirus-Pandemie angestellt.
Anfang Juni war der 1600. Tag seit der Verhaftung von Milagro Sala. Im Januar 2016, als Gerardo Morales als Gouverneur der Provinz Jujuy die Macht übernahm, wurde sie im Rahmen eines sozialen Protests verhaftet. Seitdem sah sie sich einer wahren Lawine von konstruierten Anschuldigungen und Gerichtsprozessen mit zweifelhaften Kompromissen zwischen Gouverneur und Justiz gegenüber, die erst zu ihrem Gefängnisaufenthalt und dann seit geraumer Zeit zu ihrem Hausarrest führten.
Milagro nutzt diese Zeit zur Reflexion und um ihren Standpunkt zur aktuellen Situation darzulegen. Sie ist eine Coya (indigenes Volk in Südamerika; Anm.d.Ü.) und hat eine Vision von der Welt, in der die Erde einen zentralen Platz einnimmt. „Die Coronavirus-Pandemie sollte uns zum Nachdenken anregen. Mutter Erde bittet uns, solidarischer zu sein und andere nicht mit Gewalt zu behandeln; die Familie zu schätzen. Dies ist eine sehr kraftvolle Botschaft, die wir für die Zukunft nutzen sollten“, sagt sie.
„Es gibt Botschaften, auf die wir hören sollten. Eine der Lehren, die wir aus diesem Moment ziehen können, lautet: Wozu nützen Geld, Waffen oder politische Macht? Nicht alles ist Geld und nicht alles ist politische Macht! Es ist paradox, dass das Land, das am meisten von dieser Krankheit betroffen ist, die Vereinigten Staaten sind, die über alle Ressourcen, alles Geld und alle Macht der Welt verfügen! Wir müssen lernen, mit der Natur zu leben und mit ihr zu leben! Heute sind Familien wieder vereint, studieren zuhause zusammen mit ihren Kindern. In den Kanälen von Venedig kann man wieder Fische sehen, in China sieht man wieder die Tata Inti (Sonne). Die Farben der Natur beginnen sich wieder zu zeigen. Der Planet atmet auf. Die Fabriken, die die Verschmutzung verursacht haben, mussten gestoppt werden. Pachamama (Mutter Erde) sagt uns, dass wir wie Zugvögel sind und dass die wahre Besitzerin der Erde die Natur ist“, erklärt Sala, seit mehr als vier Jahren politische Inhaftierte der Provinzregierung von Jujuy.
Rassismus
Von der Ermordung von George Floyd in Minnesota (USA) über die Ermordung von Luis Espinoza durch die Polizei von Tucumán bis hin zu den Misshandlungen, die die Polizei im Chaco an einer Familie aus der Qom-Gemeinde verübt hat, denkt Milagro über Rassismus und Diskriminierung nach, die sie als indigene Frau am eigenen Leib erfahren hat. „Ich glaube, dass die indigene Frage nicht so behandelt worden ist, wie sie behandelt werden sollte. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Wenn Sie in Formosa Teil einer indigenen Gemeinschaft sind, erhalten Sie dort keine medizinische Versorgung oder werden bestenfalls als letzter in der Reihe behandelt. Dies geschieht heute leider in vielen Provinzen. Wir werden nach wie vor als indigene Völker diskriminiert, und Diskriminierung ist Gewalt.“
Gemeinschaft und Spiritualität
In einem anderen von der argentinischen Gewerkschaft CTA auf Instagram geführten Interview erklärt Milagro weiter: „Zu lernen, ohne Hass und Ressentiments zu leben, ist gut für Körper und Seele. Das ist es, was wir lernen müssen. Jeden Tag sollten wir etwas lernen. Manchmal lerne ich etwas von meinem Neffen oder meinem Partner.
Auch auf die Anfänge der Organisation und des Gemeinschaftsprojekts Tupac Amaru geht Milagro ein und bezieht sich dabei auf die Prinzipien der Vorfahren: „Tupac Amaru wurde aus den Prinzipien der indigenen Völker und humanistischen Zeremonien heraus geboren. Die Humanistische Bewegung hat die gleichen Lehren wie die Urvölker. Das heißt, wenn Ihr einen Teller mit Essen oder ein Paar Pantoffeln anbietet, solltet Ihr das mit dem Herzen tun und nichts dafür zurück verlangen. Immer wieder wurden wir aus politischen Kreisen kritisiert, weil wir einen Rollstuhl, eine Brille oder ein paar Krücken verschenkt oder den Kindern zu Essen gegeben haben. Und warum tun wir das? Weil wir uns um die Bedürfnisse unserer Brüder und Schwestern kümmern und uns darauf stützen. Damit meine ich, ein Stück Brot zu geben bedeutet, ist den eigenen Egoismus zu bekämpfen. Wir müssen wieder solidarisch miteinander sein! Wir müssen uns alle gegenseitig helfen, denn wir brauchen uns alle gegenseitig! Wir müssen die Bräuche der indigenen Völker wieder beleben. Wir müssen uns an einen Tisch setzen und das Essen teilen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Wie wir sagen: Ich bin Du und Du bist ich. Schauen wir uns gegenseitig in unsere Gesichter! Jenseits der körperlichen Unterschiede sind wir alle gleich, denn wir haben alle Gedanken, alle ein Herz, ein Leben, eine Familie. Ich kann Dir etwas geben und Du kannst mir etwas geben. Und wenn ein Nachbar unsere Hilfe braucht, um eine Mauer zu bauen, dann gehen wir alle hin und helfen mit, sie zu errichten. Das ist die organisierte Gemeinschaft, wie Perón sagte, die Egoismus und Ich-Bezogenheit überwindet. Sie ist Teil unseres Lebens. Die organisierte Gemeinschaft kann die Übermacht des Feindes und das, was sie uns auferlegen wollen, überwinden.“
Vor kurzem wurde Milagro Sala erneut Opfer einer Kampagne durch die rechte Presse. Die argentinischen Medien veröffentlichten Fotos von einem Tanz mit ihrer Familie, der tatsächlich am Silvesterabend stattfand, und stellten diese aber bewusst als aktuell dar, um Milagro und ihre Familie beschuldigen zu können, die Abstandsregeln während der Pandemie nicht eingehalten zu haben. „Sie haben alles mögliche gesagt und sich Unwahrheiten ausgedacht. Als wir an die Öffentlichkeit gingen, um zu beweisen, dass das Video vom 31. Dezember stammt, gab es weder eine Richtigstellung noch eine Entschuldigung. Sie schwiegen. Für sie ist es nur eine weitere Anekdote, aber für mich ist es meine Familie. Es ist sinnlos, zu reden oder zu schreien, dass man unschuldig ist, wenn sie immer wieder solche Dinge erfinden und die Tatsachen verfälschen. Ich bin schon oft als Frau und als Gewerkschafterin diskriminiert worden und kenne diese Art von Gewalt“.
Auch wenn sie sagt, sie wolle sich nicht wie ein Opfer fühlen, musste sie in jener Nacht von einem Arzt behandelt werden und erhielt eine Infusion. Es ist in solchen Momenten, dass sich Milagro müde fühlt. „Wie kann ich ausdrücken, was sie mir antun? Ich bin empört, weil sie meine Familie verleumden“.
Auch zur sogenannten Anti-Quarantäne-Bewegung wurde Milagro befragt, worauf die sie entschieden antwortete: „Der rechte Flügel kann nicht davon überzeugt werden, dass der Präsident Leben schützen will. Sie sagen, dass sie keine Angst vor dem Virus haben, aber sie mobilisieren sich mit ihren Masken. Die Reichen können leicht in Quarantäne gehen, aber die Armen können es nicht, weil sie ihr tägliches Brot verdienen müssen. Sogar hier kann man die Ungleichheit sehen“.
Was ihre eigene Zukunft betrifft, erklärt sie: „Ich weiß, dass viele Genossen auf meine Freilassung aus der Haft warten. Morales (Gouverneur von Jujuy; Anm.d.Ü.) ist sich sicher, dass Milagro Sala in Haft Gerechtigkeit bedeutet. Sie haben mir nie die Möglichkeit gegeben, auf die gegen mich erhobenen Vorwürfe zu antworten. Sie haben den falschen Zeugen nie Raum gegeben, um zuzugeben, dass sie gedrängt wurden, gegen mich und gegen die Organisation auszusagen“, schließt die soziale Leiterin der Nachbarschaftsorganisation Tupac Amaru und ehemalige Abgeordnete des Parlasur, die trotz des Machtwechsels in Argentinien weiterhin politische Gefangene bleibt.
(*) Interviews durchgeführt von Radio AM 750 und ATE Capital (argentinische Gewerkschaft)
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Evelyn Rottengatter vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
Weitere Informationen gibt es auf der Webseite des deutschen Komitees für die Freiheit von Milagro Sala