BlackLivesMatter George Floyd in Minneapolis (USA) wurde von Polizisten umgebracht. Dies ist kein Einzelfall, Rassismus tötet auch in Deutschland.
Mit mehr als 60 angemeldeten Demonstrationen in Berlin wird das Pfingstwochenende 2020 wohl als befreiendes Protest-Wochenende nach der mehr als zweieinhalb Monate dauernden Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in die Geschichte der Stadt eingehen. Am 28. Mai hatte der Berliner Senat mit Wirkung ab 30. Mai die Beschränkung der Anzahl der Teilnehmenden an einer Demonstration aufgehoben.
Die größte Versammlung in Berlin am ersten Tag nach der Corona-Zwangspause war die Kundgebung wegen der Tötung des Schwarzen George Floyd durch die Polizei in Minneapolis im US-amerikanischen Bundesstaat Minnesota. Nach Angaben der Berliner Polizei versammelten sich 2.200 Personen protestierend an der Ebert-/Behrenstraße, nicht weit von der US-amerikanischen Botschaft am Pariser Platz. Am Pfingstsonntag gingen die Proteste weiter, an eine Demonstration von Kreuzberg nach Neukölln nahmen 1.500 Menschen teil.
Der 46jährige George Floyd wurde am 25. Mai 2020 durch die Polizei getötet. Im Internet gibt es Videos, auf denen zu sehen und zu hören ist, wie er umgebracht wird. Auf einem Video sind hinter einem Polizeiwagen die Füsse eines am Boden liegenden Menschen zu sehen, wie sie sich anfangs noch bewegen, während ein Polizist auf ihm kniet. Floyds Stimme ist mehrmals deutlich zu hören: „I can‘t breathe“. Dann verstummt er, kurz ist sein Gesicht zu sehen und wie sein lebloser Körper angehoben wird. Ein anderes Video zeigt aus anderer Perspektive, dass drei Polizisten auf dem hilflos am Boden liegenden Mann knien. Ein vierter läuft umher. Polizisten haben einen Schwarzen getötet, einer von ihnen hat ihm minutenlang das Knie auf den Hals gedrückt. Die Videos sind schwer zu ertragen.
Black Lives Matter
Black Lives Matter (Schwarze Leben Zählen) ist der Ausruf und die Bezeichnung einer Bewegung, die 2013 entstand, nachdem der Mörder von Trayvon Martin freigesprochen wurde. In Sanford im US-Bundesstaat Florida hatte der Wachmann den 17jährigen Schüler, der vom Einkaufen kam, am 26. Februar 2012 erschossen. Floyd und Martin sind keine Einzelfälle. Black Lives Matter wendet sich gegen die weiße Vorherrschaft, denn: „Wir leben in Angst. Angst davor, nach draußen zu gehen. Einen Kapuzenpullover zu tragen. Joggen zu gehen. In den eigenen vier Wänden zu schlafen. Zu Existieren.“
Die Berliner Gruppe Black Lives Matter verwahrte sich gegen das Anliegen von Weißen, sie solle eine Demonstration wegen der Tötung von George Floyd organisieren: „Müsst ihr demonstrieren gehen, damit ihr selbst euch besser fühlt? Was bedeutet es, eure Solidarität zu zeigen, wenn sie sich auf eine Demo beschränkt, aber nicht darüber hinaus geht?“ Sie erinnern daran, dass jede Woche eine Schwarze Person ermordet würde, Oury Jalloh schon vor über einem Jahrzehnt, „und nichts ist passiert. Hanau ist weniger als 3 Monate her, erinnert ihr euch überhaupt an ihre Namen? Heute ist der Jahrestag der Ermordung von 5 Menschen durch Neonazis in Solingen. Wenn ihr auftaucht, sobald der Mord an Schwarzen Menschen trendet, dann seid ihr nur ein weiteres Problem im Kampf um Racial Justice.“
Wer wirklich etwas tun wolle, solle die auf ihrer Website verlinkten Petitionen unterzeichnen, an Organisationen spenden, die von Schwarzen geführt werden sowie an die Familie von George Floyd. Mit Mails an den Staatsanwalt und den Bürgermeister von Minnesota könne außerdem Druck gemacht werden, damit die beteiligten Polizisten für die Ermordung zur Rechenschaft gezogen werden, und um „diese Brutalität und Gewalt in Zukunft zu verhindern“.
Ähnlich argumentierte eine Rednerin auf der Demonstration und forderte die Erschienenen auf, diejenigen zu unterstützten, die hier unter Rassismus zu leiden haben und beispielsweise in Lagern leben müssen. Es solle aber keine*r kommen und sagen, was zu tun sei, sondern fragen, was zum Beispiel die Frauen von Women in Exile und vom International Women* Space (IWS) brauchen. Die Gruppe IWS entstand aus der Frauenetage der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg.
Ein Blick zurück
Am 29. Januar 2012 hatte sich der 29jährige iranische Flüchtling Mohammad Rahsepar im Flüchtlingslager Würzburg erhängt. Als Polizist hatte er im Iran Befehle verweigert, wurde verhaftet und gefoltert, verließ seine Familie und suchte Schutz in Deutschland. Er war schwer traumatisiert, jedoch verweigerten ihm die Behörden, zu seiner Schwester nach Köln zu ziehen, und schickten ihn stattdessen in eine Flüchtlingsunterkunft. Dort nahm er sich das Leben.
Daraufhin machten sich Geflüchtete auf den Weg, 20 Jahre nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen. Sie verstießen damit bewusst gegen die Residenzpflicht und zogen protestierend von Würzburg nach Berlin. Im Oktober 2012 kamen sie an und besetzten den Kreuzberger Oranienplatz, kurz darauf auch die Gerhart-Hauptmann-Schule. Nach Jahren der Selbstorganisation und Solidarität, Konflikten untereinander und Kämpfen gegen staatliche Repression, wurde der Oranienplatz im Frühjahr 2014 geräumt, die Schule Anfang 2018.
In Minneapolis und anderen US-amerikanischen Städten gibt es seit Tagen Proteste gegen den Mord an George Floyd. Bei den Ausschreitungen gab es nach Medienberichten zahlreiche Verletzte, möglicherweise sogar Tote. Die Polizisten wurden entlassen, heisst es, der Haupttäter erst vier Tage nach der Tat verhaftet und unter Mordanklage gestellt.
Auch in Deutschland sind Schwarze Leben nicht sicher. Eins der ersten Todesopfer nach dem Mauerfall war Amadeu Antonio, der als Vertragsarbeiter aus Angola in die DDR gekommen war. Am 25. November 1990 wurde er von Nazis in Eberswalde totgeprügelt. Am 28. Mai 1999 erstickte Aamir Ageeb, ein Flüchtling aus dem Sudan, während seiner Abschiebung in einem Passagierflugzeug der Lufthansa. Deutsche Polizisten hatten ihn gefesselt und heruntergedrückt, laut Rechtsmedizin war die Todesursache ein „lagebedingter Erstickungstod durch massive Einwirkung von Gewalt“. Oury Jalloh war als Flüchtling aus Sierra Leone nach Deutschland gekommen. Am 5. Januar 2005 verbrannte er qualvoll in der Zelle eines Dessauer Polizeireviers. Es sind nur drei Beispiele für viele.
Dokumentation rassistischer und rechter Gewalt
Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative (ARI) in Berlin veröffentlich mit der Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ seit 1993 jedes Jahr eine „chronologische Sammlung von Einzelschicksalen, in denen Flüchtlinge körperlich zu Schaden gekommen sind“. In der letzten Pressemitteilung vom Juni 2019 zu den Zahlen bis einschließlich 2018 geben sie bekannt: „Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen seit 1993 mindestens 614 Flüchtlinge ums Leben – durch rassistische Angriffe und die Unterbringung in Lagern (u.a. Anschläge, Brände) starben 111 Menschen.“
Das antirassistische europäische Netzwerk „UNITED for Intercultural Action“ führt sei 1993 eine Liste von Menschen, die auf der Flucht nach oder in Europa gestorben sind. Der Hirnkost-Verlag veröffentlichte sie 2019 in einer zweiten Auflage. Diese „unvollständige Liste“ umfasst mehr als 35.000 Tote. Die meisten von ihnen sind namenlos, konnten nicht identifiziert werden. Sie sind auf der Überfahrt im Mittelmeer ertrunken, in der Sahara verdurstet, in Lagern verhungert, in Lastwagen erstickt, wurden auf der Flucht erschossen, bei der Abschiebung getötet, nahmen sich selbst das Leben … Diese Liste von Grausamkeiten ist das Ergebnis globaler Ausbeutungsökonomien und kriegerischer Auseinandersetzungen, die Fluchtursachen setzen, und sie ist ein Ergebnis der europäischen Flüchtlingspolitik.
Es gibt unterschiedliche Zählungen verschiedener Sachverhalte. Beispielsweise dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung die Todesopfer durch rechte Gewalt seit 1990, unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Die Stiftung berichtete zuletzt am 9. März 2020, die Bundesregierung habe für diesen Zeitraum nur 94 Tötungsdelikte als rechts motiviert gewertet, während eigene Recherchen eine weit höhere Zahl ergeben hätten: „Mindestens 208 Todesopfer rechter Gewalt seit dem Wendejahr 1990 sowie 13 weitere Verdachtsfälle.“ Es gäbe jedoch eine höhere Dunkelziffer.
Solidarische Selbstorganisation
Der Tenor der Redebeiträge auf der Kundgebung am 30. Mai war eindeutig: Der Staat schützt uns nicht, im Gegenteil. Rassistische Gewalt müsse angeklagt werden, jedoch sei es auch wichtig, selbst etwas zu tun, sich selbst zu organisieren und solidarische Strukturen aufzubauen.
In diesen Corona-Zeiten ist Selbsthilfe vielfältig erschwert, aber umso notwendiger. Denn der Staat ist keineswegs plötzlich fürsorglich geworden. Was vordergründig als Schutz vor Corona ausgegeben wird, hat eine krankmachende, potenziell tödliche Komponente, denn gleichzeitig mit dem Schutz der je eigenen Bevölkerung werden ‚Andere‘ gnadenlos ihrem Schicksal und dem Virus überlassen. Menschen in Flüchtlingslagern weltweit – aktuell besonders sichtbar auf den griechischen Inseln – wird jeder Schutz vor Corona verwehrt. Regelmäßig fordern solidarische Initiativen und Organisationen, die Menschen aus den Lagern in Deutschland aufzunehmen.
Im April hat ein Bündnis #LeaveNoOneBehindNowhere in einem Offenen Brief an den Berliner Senat einen „10 Punkte Soforthilfeplan“ zur Unterbringung und zum Schutz wohnungsloser Menschen vorgelegt. Von den gesundheitsgefährdenden Bedingungen in Sammelunterkünften sind Wohnungslose mit und ohne Fluchtbiografie betroffen.
Ebenfalls in Berlin setzt sich die „Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“ seit Jahren dafür ein, endlich die Erschießung des 22jährigen am 5. April 2012 auf offener Straße in Neukölln aufzuklären.
Eine „Initiative 19. Februar Hanau“ – an dem Tag wurden dort neun Menschen aus rassistischen Gründen ermordert – hat eine Anlaufstelle eröffnet, als „Raum der Begegnung, der Erinnerung und des Vertrauens. Eine Anlaufstelle für Beratung und Vernetzung, für Unterstützung und neue Kraft. Ein Treffpunkt, in dem geschützt oder öffentlich über Trauer, über Rassismus-Erfahrungen und über Solidarität gesprochen werden kann.“ Seit dem 5. Mai treffen sich dort Angehörige und Unterstützer*innen.
Dies sind ermutigende Beispiele im Sinne des #unteilbar-Gedankens gegen Ausgrenzung und Hass, sich nicht entlang unterschiedlicher Betroffenheiten von sozialer, rechter oder rassistischer Gewalt auseinanderdividieren oder gar gegeneinander ausspielen zu lassen.
Dieser Beitrag von Elisabeth Voß erschien auf ihrem Blog und in der Freitag Community