Als am 17. Mai, nach drei Wahlen in einem Jahr und monatelangen Hinterzimmerverhandlungen, Benjamin Netanjahu als alter und neuer Premierminister Israels an der Spitze einer Koalitionsregierung mit seinem Erzrivalen Ex-Generalstabschef Benny Gantz vom bisherigen Oppositionsbündnis Kahol Lavan (Blau-Weiß) vereidigt wurde, kündigte der Likud-Chef voller Stolz und Selbstzufriedenheit „ein weiteres Kapitel in der glorreichen Geschichte des Zionismus“ an. Gemeint ist Israels geplante Annexion von Teilen des Westjordanlands, die nach den Osloer Verträgen der neunziger Jahre einem künftigen palästinensischen Staat zustehen. Die Antwort der Palästinenser ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später kündigte Präsident Mahmud Abbas jegliche Zusammenarbeit der Palestinian Liberation Organisation (PLO) sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die nominell im Westjordanland das Sagen hat – seit einem Bürgerkrieg im Jahr 2007 wird der Gazastreifen von der islamischen Hamas-Bewegung regiert – mit Israel und den USA auf.
Der Schritt war längst überfällig. Hatte sich die demokratische Regierung Barack Obamas acht Jahre lang größte Mühe gegeben, der Vermittlerrolle der USA gerecht zu werden und zum Beispiel den Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland immer wieder als unvereinbar mit einem „Friedensprozeß“, der diesen Namen verdient, angeprangert, so änderte sich der Kurs Washingtons mit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus im Januar 2017 radikal. Angetrieben durch die Nähe zur zionistischen Lobby, verkörpert durch Trumps wichtigsten Wahlkampfspender, den Casino-König Sheldon Adelson, sowie von seinem Schwiegersohn Jared Kushner, dessen Vater und Netanjahu seit Jahrzehnten gute Freunde sind, hat der Republikaner Israel alle Wünsche erfüllt und die Palästinenser mit Mißachtung und Benachteiligung gestraft.
2018 ließ Trump die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen und dieses zur „alleinigen Hauptstadt“ Israels erklären. Als Abbas den krassen Verstoß gegen die Osloer Verträge verurteilte, kürzte Trump zur Vergeltung die US-Finanzhilfe für die PA und diverse Wohltätigkeitsorganisationen, die im Westjordanland aktiv sind, radikal. 2019 besuchte Trump zusammen mit Netanjahu den seit 1967 von Israel besetzten Teil der syrischen Golanhöhen und erkannte dessen Annexion durch den jüdischen Staat an. Anfang 2020 präsentierte er schließlich den „Deal des Jahrhunderts“, mit dem der große New Yorker Baulöwe endlich den Nahost-Konflikt beenden wolle, der Weltöffentlichkeit. Wie vom Mafia-Freund Trump nicht anders zu erwarten, steht besagter „Deal“ in bezug auf die Palästinenser voll in der Tradition der mehr als 370 Verträge, welche die Regierung in Washington über zwei Jahrhunderte mit den diversen indigenen Völkern Nordamerikas geschlossen und immer wieder gebrochen hat, nur um die Indianer am Ende zu Ausgestoßenen im eigenen Land zu machen.
Trump signalisierte die Zustimmung zur geplanten Annexion von Teilen des Westjordanlands durch die Entsendung seines Außenministers Mike Pompeo am 14. Mai nach Israel, der sich vor Ort über die letzten Schritte zur Bildung der neuen Koalitionsregierung informieren ließ. Nach dem Treffen mit Netanjahu behauptete der ehemalige CIA-Chef auf der gemeinsamen Pressekonferenz dreist, Israel habe „das Recht und die Pflicht“ selbständig darüber zu entscheiden, wann es sich welche Teile des Westjordanlands einverleibt. Folgerichtig hat Abbas in seiner Erklärung festgestellt, daß die USA und Israel gemeinsam die Osloer Verträge „annulliert“, das heißt null und nichtig gemacht hätten.
Welche Konsequenzen die Aufkündigung der Zusammenarbeit durch die PA haben wird ist unklar. Mit seiner Ablehnung der Annexionspläne Israels steht Abbas nicht allein. Die EU, die UN-Vetomächte Rußland und China und die meisten anderen Länder lehnen den Schritt ab. Die EU droht Israel mit Sanktionen, will jedoch vermitteln. Lediglich minderbedeutende Länder wie Großbritannien und Mikronesien, deren außenpolitische Position ohnehin von Washington vorgegeben wird, können sich mit dem Völkerrechtsbruch der Israelis anfreunden. Unterstützung für die Palästinenser ist jedenfalls von den US-Demokraten nicht zu erwarten. Deren Kandidat für die Präsidentenwahl im November, Joe Biden, einst langjähriger Senator aus Delaware, hat der Anregung seitens Teilen der eigenen Parteibasis, die großzügige Hilfe Washingtons für Israel von 1,3 Milliarden Dollar im Jahr zu kürzen oder zurückzuhalten, um Netanjahu zur Mäßigung zu bewegen, eine kategorische Absage erteilt. Schlimmer noch, Bidens außenpolitischer Berater Anthony Blinken hat in US-Politikkreisen kursierende rassistische Vorurteile über die Palästinenser verbreitet, indem er bei einem Briefing am 17. Mai mit der Gruppe Democratic Majority for Israel (DMFI) behauptete, Abbas und die PA sollten nicht dieselben Fehler wie Jassir Arafat und die PLO machen und abermals ihre Chancen auf Frieden verspielen.
Im Juli wollen Netanjahu und Gantz mit der Annexion beginnen. Ob sie mit Teilen Ostjerusalems, dem Jordantal oder bestimmten jüdischen Siedlungen anfangen werden, wissen nur sie selbst. Um Standfestigkeit zu zeigen, hat die PA am 22. Mai die Annahme einer größeren Lieferung medizinischer Güter wie Schutzkleidung, die als Spende aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Bekämpfung der Corona-Virus-Pandemie ins Westjordanland gekommen war, abgelehnt, weil der Transport über Israel erfolgte und quasi die Anerkennung des jüdischen Staats durch die VAE bedeutete. Die wiederentdeckte Widerspenstigkeit der PA hat aber noch einen anderen Grund. Immer mehr Palästinenser halten Abbas und die PLO für völlig korrupt und glauben, daß für sie die Zwei-Staaten-Lösung auf kleine „Bantustans“ im Westjordanland und Gaza hinausläuft. Sie befürworten deshalb einen einheitlichen Staat zwischen dem Mittelmeer und dem Fluß Jordan, in dem Israelis und Araber, Juden, Muslime und Christen die gleichen Rechte genießen.