„Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“. Warum diese Einstellung noch einmal kritisch überprüft werden sollte, diskutiert Florian Maiwald in seinem neuen Gastbeitrag. Unter Bezugnahme auf Erich Fromm sollten wir insbesondere lernen, die Existenzweise des „Seins“ wieder schätzen zu lernen.
Die Corona-Pandemie hält derzeit die ganze Welt in Schach. Doch jetzt, wo einige Lockerungen wieder einsetzen, wird der Wirtschaftsapparat wieder nach oben gefahren. Dass die Wirtschaftsmaschine wieder an den Start gehen muss, steht außer Frage. Immerhin geht es in vielerlei Hinsicht um ökonomische Existenzängste, welche mittel- oder langfristig auch lebensbedrohlich sein können. Aber wenn wir schon wieder zur – wie wir es gerne nennen – Normalität zurückkehren, ist es nicht an der Zeit zu fragen, welche Normalität wir eigentlich wollen? Dies scheint nicht zuletzt umso dringlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieses kleine mikrobische Etwas einige systemimmanente Fehler aufgedeckt hat, welche medial zudem reichlich thematisiert wurden (Stichwort: Systemrelevanz, Unterbezahlung, flexible Arbeitszeiten etc).
Ungeachtet der Tatsache, dass das Virus faktisch noch nicht verschwunden ist – auch wenn das Leben auf den Straßen teilweise einen anderen Eindruck vermitteln mag – scheint im Moment wieder das Diktum „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“ vorzuherrschen. Dabei werden durch eine derartige Einstellung nicht nur all die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten während der COVID-19 Pandemie offengelegt, sondern auch andere Dinge wie Klimawandel, Armut, Krieg, soziale Ungerechtigkeiten sind untrennbar mit einer derartigen Einstellung verbunden. All diese Dinge werden äußerst gerne – und das nicht ganz zu Unrecht – mit den Verwerfungen und negativen Konsequenzen des modernen Kapitalismus in Verbindung gebracht. Mit kritischem Auge mag man sich vielleicht weigern, einen Kausalzusammenhang zu sehen, aber unübersehbare Korrelationen scheinen nichts desto trotz vorhanden.
Es soll an dieser Stelle jedoch nicht das Ziel sein, über die globalen Probleme zu sprechen, welche der moderne Marktradikalismus verursacht hat. Es soll auch nicht für neue Formen des Kommunismus plädiert werden. Vielmehr soll untersucht werden, was der Kapitalismus mit dem Charakter des einzelnen Menschen gemacht hat. Nicht zuletzt, da der Charakter des Einzelnen den Charakter der Gesellschaft(en), in welcher/n wir leben, auf eine nicht unwesentliche Art und Weise beeinflusst. Erich Fromm hat in seinem Werk Haben oder Sein bereits angemerkt,
„[…] daß die Charakterstruktur des Individuums und die sozioökonomische Struktur der Gesellschaft, der dieses angehört, miteinander in Wechselbeziehung stehen“ (Fromm, 1976, 163).
Aus diesem Wechselspiel wiederum entsteht laut Fromm der sogenannte Gesellschaftscharakter, welcher in einem Verhältnis mit der allgemeinen Struktur einer Gesellschaft steht (vgl. ebd.). Fromm macht in diesem Kontext berechtigterweise darauf aufmerksam, dass Revolutionen – oder etwas milder ausgedrückt – gesellschaftliche Veränderungen, in erster Linie beim Individuum anfangen. Individuelle Veränderungen bilden demnach die Prädispositionen für die sozialen, ökonomischen und kulturellen Modifikationen eines Gesellschaftsbildes.
Es ist bemerkenswert, dass Erich Fromm in seinem 1976 erschienenen Buch eine psychische, ökonomische und ökologische Katastrophe prophezeit, mit welcher die Menschheit sich in naher Zukunft konfrontiert sehen muss. Fromms neuer Menschheitscharakter, welcher die prognostizierte ökonomische Katastrophe abwenden soll, zeichnet sich durch „[…] ein Zurückdrängen der Orientierung am Haben zugunsten der am Sein […]“aus (Fromm, 1976, 205). Sowohl das Haben als auch das Sein sind Existenzweisen, welche einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Menschen, sein Wirken und damit auf die Menschheit insgesamt ausüben.
Die Existenzweise des Habens leitet sich vom Privateigentum ab und Fromm führt in diesem Zusammenhang prägnant aus:
„In dieser Existenzweise zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten. Die Habenorientierung schließt andere aus und verlangt mir keine weiteren Anstrengungen ab, um meinen Besitz zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen. […] In der Existenzweise des Habens gibt es keine lebendige Beziehung zwischen mir und dem, was ich habe. Es und ich sind Dinge geworden, und ich habe es, weil ich die Möglichkeit habe, es mir anzueignen. Aber es besteht auch die umgekehrte Beziehung: Es hat mich, da mein Identitätsgefühl bzw. meine psychische Gesundheit davon abhängt, es und so viele Dinge wie möglich zu haben“ (Fromm, 1976, 97-98).
Eben jene auf Gegenseitigkeit beruhende Aneignung zwischen Subjekt und Objekt, welche letztendlich zur unausweichlichen Determinierung des Individuums führt und damit zur Transformation zum Dividuum, dessen psychologische Struktur nahezu äquivalent mit der des Gesellschaftscharakters ist, bilden die Quintessenz des Habens – Modus. Es ist genau diese Existenzweise, welche in David Finchers großartiger Romanverfilmung Fight Club von Tyler Durden – einem der beiden Protagonisten – kritisiert wird, als dieser warnend darauf hinweist: „Alles was du hast, hat irgendwann dich“.
Aber es geht nicht nur um das problematische Verhältnis zwischen Mensch und Ware, sondern auch darum, dass der Mensch und damit einhergehend alle zwischenmenschlichen Beziehungen, selbst auf Dauer zu einer Art Warencharakter verkommen, welcher nicht nur jegliche Art von Individualität zerstört, sondern auch zu einem Objektivierungsprozess des Subjektiven führt. Für den US-amerikanischen Philosophen Michael Sandel macht sich dies in seinem Buch Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes durch den Wandel von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft bemerkbar (vgl. Sandel, 2012).
Fromms Gegengift ist die Existenzweise des Seins, welche in unserer heutigen Gesellschaft nahezu nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Auch wenn diese Existenzweise in einer derartigen Präzision, wie Fromm sie beschrieben hat, in einem kurzen Artikel wie diesen nicht dargelegt werden kann, soll dennoch der Versuch unternommen werden die essentiellen Merkmale von ebendieser Existenzweise darzustellen. Fromm definiert „[…] Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft […]“ als die Grundvoraussetzungen für die Existenzweise des Seins und führt weiter aus:
„Ihr wesentliches Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, des produktiven Gebrauchs der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder- wenn auch in verschiedenem Maß- ausgestattet ist. […] Nur in dem Maße, in dem wir die Existenzweise des Habens bzw. des Nichtseins abbauen (das heißt aufhören, Sicherheit und Identität zu suchen, indem wir uns an das anklammern, was wir haben, indem wir es >>be-sitzen<<, indem wir an unserem Ich und unserem Besitz festhalten), kann die Existenzweise des Seins durchbrechen. Um zu sein, müssen wir unsere Egozentrik und Selbstsucht aufgeben bzw. uns arm und leer machen, wie es die Mystiker oft ausdrücken“ (Fromm, 1976, 111).
Sein führt wieder zurück zu einer Subjektivierung des Subjektiven, wodurch das Dividuum wieder zum Individuum wird und seinen eigenen Fähigkeiten wieder voll und ganz Ausdruck verleihen kann. Diese Aktivität der Verwirklichung des eigenen Selbst impliziert laut Fromm jedoch gerade nicht jegliche Form der ökonomischen Geschäftigkeit, sondern vielmehr – ganz im Sinne des Diogenes – das kontemplative Leben, welches durch einen Zustand externalisierter und objektiver Passivität und einer simultanen Inkraftsetzung internalisierter und subjektiver Aktivität gekennzeichnet ist.
Quellen:
- Fromm, E. (1976). Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst.
- Sandel, M. J. (2012). Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes (5. Aufl.). Berlin: Ullstein.
Florian Maiwald (27) studiert Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master an der Universität Bonn und betreibt den Philosophie- Blog „Meta-Ebene“.