Die jungen Menschen in Gaza, seit vielen Jahren eingesperrt zwischen Israel und Ägypten, leben als Gefangene, so wie wir jetzt.
von Christian Müller für die Online-Zeitung INFOsperber, der Origianlartikel in englischer Sprache kann auf Haaretz gelesen werden.
Die Covid-19-Krise hat schon fast alle Länder der Welt erreicht. Einige Länder scheinen den Höhepunkt schon hinter sich zu haben, andere erwarten den Peak in den nächsten Tagen oder Wochen. Alle Medien sind voll von dieser Thematik.
Auch die Tageszeitung Haaretz in Israel schreibt dazu Berichte und Kommentare jeden Tag, denn die Pandemie hat längst auch Israel erreicht. Auch für Israel ist es nicht leicht, darauf zu reagieren, insbesondere weil sich die ultraorthodoxen Juden bisher geweigert haben, irgendwelche staatlich verordnete Einschränkungen zu akzeptieren. Die Journalistin Hiba M. Yazbek hat sich aber für ein anderes Thema innerhalb der Covid-19-Berichterstattung interessiert: Für Gaza, den fast hermetisch abgesperrten Küstenstreifen im Südwesten Israels. Wie erleben die Menschen dort diese Gesundheitskrise?
Nein, sie berichtet auf Haaretz nicht über die Spitäler oder über irgendwelche Massnahmen, sondern wie die Menschen dort mental diese Krise erleben. Und sie hat höchst Bedenkenswertes gehört: «The Coronavirus Finally Gave the World a Chance to Feel What We Gazans Have Always Felt», oder zu Deutsch: «Das Coronavirus hat der Welt die Chance gegeben, endlich nachzufühlen, wie wir uns hier in Gaza schon seit vielen Jahren fühlen.»
Gaza ist abgesperrt, im Osten durch geschlossene Grenzen zu Israel, im Süden durch geschlossene Grenzen zu Ägypten, im Westen durch das Meer, das aber auch streng von Israel überwacht und abgesperrt ist. Es gibt keine freie Schifffahrt, kein Mensch aus Gaza kann ohne Bewilligung über das Meer ausreisen, niemand kann über das Meer einreisen. Fast zwei Millionen Menschen leben eingesperrt, bei einer Arbeitslosigkeit bei den jungen Leuten von weit über 50 Prozent. Und vor allem diese jungen Menschen haben keine Perspektive. Um ausreisen zu können, zum Beispiel um an einer Universität im Ausland studieren zu können, muss eine unendliche bürokratische Barriere überwunden werden. Die Hoffnung, die Bewilligung für die Ausreise schliesslich zu erhalten, ist marginal.
Junge Leute, denen die Auswanderung geglückt ist, blicken zurück
«‹Ich lebte in einem grossen Gefängnis. Ich war deprimiert und lief Gefahr, schwere psychische Probleme zu entwickeln, wenn ich dort bliebe. Heute, zwei Jahre nach meiner Ausreise, leide ich immer noch darunter: Ich leide unter dem Trauma all der Kriege, die ich durchlebt habe; ich leide darunter, dass ich von meiner Familie getrennt bin; ich bin immer noch emotional instabil›, sagt Sara, als sie gefragt wird, ob sie es bedauere, den Gazastreifen verlassen zu haben.»
«Für den 27-jährigen Mohammed war es die Unfähigkeit, seine Familie zu versorgen, die ihn aus dem Gazastreifen vertrieben hat. Mit arbeitslosen Eltern und sieben jüngeren Geschwistern wog die Last auf seinen Schultern schwer. Mit einem Bachelor-Abschluss in Englisch kämpfte Mohammed jahrelang darum, Arbeit zu finden, obwohl er bereit war, eine Vielzahl von Jobs in Betracht zu ziehen. ‹Alle meine Freunde fanden ebenfalls keine Arbeit, also auf eine Weise, die mich tröstete›, sagt er von seinem neuen Zuhause in Maryland aus. Aber dennoch, fügt er hinzu, je länger er arbeitslos war, desto grösser wurde sein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Schliesslich, ein Jahr nach seinem Abschluss, wurde ihm klar, dass seine einzige Option darin bestand, Gaza zu verlassen. ‹Es war die grösste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Wir Palästinenser sind sehr familienorientiert, und ein Leben fernab von unseren Familien ist normalerweise unser letzter Ausweg›, sagt er.»
«Das Verlassen des Gazastreifens war das Einzige, woran Randa ein ganzes Jahr lang nach Abschluss der Universität denken konnte. Monate erfolgloser Jobsuche bedrückten die 23-jährige Absolventin der englischen Literatur, deren Bachelor-Abschluss auf Kosten der Ersparnisse ihrer Familie erreicht worden war. Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer und suchte nach einem Ausweg aus der belagerten palästinensischen Enklave. Jetzt, da die Länder die COVID-19-Pandemie mit den drakonischsten Massnahmen bekämpfen, sehen die Leute in Gaza wie Randa zu, wie sich die Menschen in der ganzen Welt in einem Zustand der Abriegelung befinden. In Gaza seit langem die Realität. ‹Das Coronavirus hat der Welt endlich die Chance gegeben, das zu fühlen, was wir schon immer gefühlt haben›, sagt Randa – sich jetzt selbst isolierend – in ihrem neuen, vorübergehenden Zuhause im Vereinigten Königreich. Für Randa und viele andere junge Leute aus Gaza war es ein lebenslanger Traum, den Zustand der ‹Abriegelung› zu verlassen.»
Die Aufforderung gilt
Jetzt, wo bald auf der ganzen Welt die Grenzen geschlossen sind, wo wir alle nicht reisen dürfen, wo wir selber eingesperrt sind, ist es Zeit, auch über Gaza nachzudenken. Gaza lebt in ähnlichen, nein, in schlimmeren Verhältnissen seit über zwanzig Jahren. Hunderttausende von jungen Menschen – ohne jede Perspektive, ohne Aussicht auf eine Öffnung.