Eine neue Studie der Paläoanthropologen Philipp Gunz und Simon Neubauer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig enthüllt, dass Australopithecus afarensis ein affenähnliches Gehirn hatte. Die berühmte Lucy gehört dieser Urmenschenform an. Das lange Gehirnwachstum lässt jedoch vermuten, dass die Kinder dieser Art so wie bei Menschen lange Zeit auf elterliche Fürsorge angewiesen waren.
Die Gehirne moderner Menschen sind nicht nur viel größer als die von Menschenaffen, sie sind auch anders organisiert und entwickeln sich über einen längeren Zeitraum. Menschenkinder lernen länger als Schimpansen, sind dafür aber auch länger von elterlicher Fürsorge abhängig. Sowohl das veränderte Gehirn als auch die lange Kindheit sind wichtig für die geistigen Fähigkeiten des Menschen und sein soziales Verhalten, aber die evolutionären Ursprünge dieser beiden Merkmale sind unklar.
Australopithecus afarensis lebte vor mehr als drei Millionen Jahren in Ostafrika und nimmt eine Schlüsselposition im Stammbaum der Homininen ein. Von dieser Art stammen vermutlich alle späteren Homininen ab, einschließlich des Menschen. „Lucy und ihre Art liefern wichtige Beweise für das Verhalten früher Homininen: Sie gingen aufrecht, hatten Gehirne, die etwa 20 Prozent größer waren als die von Schimpansen, und sie haben möglicherweise scharfe Steinwerkzeuge verwendet“, erklärt Zeresenay Alemseged von der Universität Chicago. Alemseged leitet die Ausgrabungen in Dikika, Äthiopien, bei denen im Jahr 2000 das Skelett eines Australopithecus-Kindes gefunden wurde.
Die Ergebnisse der Studie werfen ein neues Licht auf zwei umstrittene Fragen: Gibt es Hinweise auf eine menschenähnliche Organisation des Gehirns bei Australopithecus afarensis? War das Muster des Gehirnwachstums bei Australopithecus afarensis dem von Schimpansen oder dem von Menschen ähnlicher?
Gehirn hinterlässt Spuren
Um das Wachstumsmuster und die Organisation des Gehirns bei Australopithecus afarensis besser zu verstehen, haben die Forscher den fossilen Schädel des Dikika-Kindes und sieben weitere gut erhaltene fossile Schädel aus Äthiopien mit hochauflösender Computertomographie untersucht. Gehirne versteinern zwar nicht, aber das Gehirn hinterlässt einen Abdruck im knöchernen Schädel, während es sich im Laufe der Kindesentwicklung ausdehnt. Basierend auf Abgüssen des inneren Schädels konnten die Leipziger Forscher das Gehirnvolumen schätzen, und aus den sichtbaren Gehirnwindungen wichtige Aspekte der Gehirnorganisation ableiten.
Ähnlich wie die Wachstumsringe eines Baumes zeigen Zähne Wachstumslinien, die den inneren Rhythmus des Körpers widerspiegeln. Mithilfe der Synchrotron-Mikrotomographie haben die Forscher am Europäischen Synchrotron (ESRF) in Grenoble, Frankreich, das Sterbealter des Dikika-Kindes ermittelt: Den Ergebnissen zufolge wurde es nur 2,4 Jahre alt (861 Tage).
Entgegen früheren Annahmen weisen die Gehirnabrücke von Australopithecus afarensis auf eine affenähnliche Gehirnorganisation hin, und zeigen keine menschenähnlichen Merkmale. Vergleicht man jedoch das Gehirnvolumen von Säuglingen mit dem von Erwachsenen zeigt sich, dass das Gehirn bei Australopithecus afarensis lange wächst, so wie beim Menschen. Dieses lange Gehirnwachstum war vermutlich wichtig für die Evolution der langen Kindesentwicklung bei Homininen.
Unterschiede in der Gehirnorganisation
Ein markanter Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschenaffen und Menschen liegt in der Organisation des Scheitellappens und des Hinterhauptlappens. „Bei allen Affengehirnen liegt der primäre visuelle Kortex am Rand einer gut sichtbaren halbmondförmigen Furche, dem sulcus lunatus„, erklärt Mitautorin Dean Falk von der Florida State University, eine Spezialistin für die Interpretation von Gehirnabdrücken. Bei Gehirnabdrücken moderner Menschen ist dieser sulcus lunatus nicht zu erkennen.
Einige Forscher hatten zuvor argumentiert, strukturelle Veränderungen des Gehirns bei Australopithecus hätten den sulcus lunatus im Laufe der Evolution weiter nach hinten verschoben. Eine solche Neuorganisation des Gehirns bei Australopithecus könnte mit der Entwicklung komplexer Verhaltensweisen (z. B. Werkzeugherstellung, Mentalisierungsfähigkeit, Kommunikation) in Verbindung stehen. Leider ist der sulcus lunatus auf den meisten fossilen Gehirnabdrücken nicht eindeutig zu erkennen. Bis jetzt herrschte daher über viele Jahrzehnte keine Klarheit über die Position des sulcus lunatus beim Australopithecus. Auf dem außergewöhnlich gut erhaltenen Gehirnabdruck des Dikika-Kindes identifizierten die Leipziger Forscher einen eindeutigen Abdruck eines affenähnlichen sulcus lunatus. Weiterhin zeigen die computertomographischen Daten einen zuvor unentdeckten affenähnlichen sulcus lunatus in einem erwachsenen Australopithecus Fossil (A. L. 162-28 von der Fundstelle Hadar). Entgegen früheren Behauptungen fanden die Forscher bei keinem Australopithecus afarensis Fossil Hinweise auf eine menschenähnliche Neuorganisation des Gehirns.
„Nach sieben Jahren Arbeit hatten wir endlich alle Puzzleteile, um die Evolution des Gehirnwachstums zu untersuchen“, sagt Hauptautor Philipp Gunz: „Das Sterbealter des Dikika-Kindes und sein Gehirnvolumen und das der am besten erhaltenen erwachsenen Australopithecus afarensis Fossilien sowie Vergleichsdaten von mehr als 1.600 modernen Menschen und Schimpansen.“
Langes Gehirnwachstum
Das Entwicklungstempo der Zähne des Dikika-Kindes war weitgehend mit dem von Schimpansen vergleichbar und daher schneller als bei modernen Menschen. Weil aber die Gehirne von Australopithecus afarensis Erwachsenen etwa 20 Prozent größer waren als die von Schimpansen, deutet das kleine Gehirnvolumen des Dikika-Kindes auf ein längeres Gehirnwachstum als bei Schimpansen hin. „Selbst ein konservativer Vergleich des Dikika-Kindes mit kleinen Erwachsenen wie Lucy legt nahe, dass das Gehirnwachstum bei Australopithecus afarensis wie beim Menschen lange dauerte“, erklärt Simon Neubauer. „Unsere Daten zeigen, dass Australopithecus afarensis eine affenähnliche Gehirnorganisation aufweist. Sie legen jedoch auch nahe, dass sich dieses Gehirn über einen längeren Zeitraum entwickelt hat als bei Schimpansen“, schließt Philipp Gunz.
Bei Primaten hängen das Wachstumsmuster und die Fürsorge-Strategie für die Jungtiere miteinander zusammen. Die verlängerte Wachstumsphase des Gehirns bei Australopithecus afarensis könnte also möglicherweise auf eine lange Abhängigkeit der Kinder von den Eltern hindeuten. Alternativ könnte ein langes Gehirnwachstum auch in erster Linie eine Anpassung an Umweltbedingungen sein: Bei Nahrungsmangel würde der Energiebedarf abhängiger Nachkommen so über viele Jahre verteilt. In beiden Fällen bildete das lange Gehirnwachstum bei Australopithecus afarensis eine Grundlage für die spätere Evolution des Gehirns und des Sozialverhaltens bei Homininen, und für die Evolution einer langen Kindheit. (PG/HR/mpg)