Die Studie der Friedensforscher Herbert Wulf und Christopher Steinmetz im Auftrag von Greenpeace zeigt, dass die NATO Russland in fast allen militärischen Schlüsselparametern weit überlegen ist: beim Militärbudget, der Truppenstärke sowie der Großwaffensysteme. Sie verdeutlicht, dass die anhaltende Aufrüstungsrhetorik in Deutschland nicht mit dem tatsächlichen militärischen Kräfteverhältnis übereinstimmt.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland radikal gewandelt. Begriffe wie „Zeitenwende“, „Kriegstüchtigkeit“ oder „Sicherheit durch Abschreckung“ dominieren die öffentliche Diskussion. Die Bundesregierung hat zunächst ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen, das außerhalb des regulären Haushalts geführt wird. Inzwischen wurden jedoch weitere weitreichende finanzielle Maßnahmen verabschiedet.
Im März 2025 stimmte der Bundestag einer Änderung des Grundgesetzes zu, die es erlaubt, Militärausgaben oberhalb von 1 % des Bruttoinlandsprodukts von der Schuldenbremse auszunehmen – eine Entscheidung, die es möglich macht, dauerhaft zusätzliche Mittel in die Aufrüstung zu stecken, ohne gegen die Verschuldungsgrenzen zu verstoßen.
Zudem wurde ein neues Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro eingerichtet, das offiziell unter dem Titel „für Infrastruktur“ läuft. Doch ein erheblicher Teil dieses Programms ist sicherheits- und verteidigungspolitisch motiviert: Finanziert werden sollen damit unter anderem militärisch nutzbare Verkehrswege, Energieversorgung für strategisch relevante Standorte, digitale Infrastruktur für militärische Kommunikation sowie die Modernisierung von Kasernen und Logistikzentren. Auch wenn 100 Milliarden Euro dieses Pakets für Klimaschutzmaßnahmen reserviert sind, dienen weite Teile der Investitionen der „kriegstüchtigen“ Infrastruktur, wie sie von Teilen der Bundesregierung und Militärführung gefordert wird.
Parallel dazu soll der reguläre Verteidigungshaushalt bis 2028 auf rund 80 Milliarden Euro steigen. Doch auf welcher Grundlage eigentlich? Und wie verhält sich diese massive finanzielle Aufrüstung zur tatsächlichen Bedrohungslage?
Die Kurzstudie von Greenpeace, verfasst von Prof. Dr. Herbert Wulf und dem Publizisten Christopher Steinmetz, liefert hierzu eine fundierte Analyse. In sechs zentralen militärischen Bereichen wird das Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland untersucht – mit eindeutigen Ergebnissen.
Massives Übergewicht bei Militärausgaben
Die NATO-Staaten geben mit 1,19 Billionen US-Dollar fast das Zehnfache dessen aus, was Russland in sein Militär investiert (127 Milliarden US-Dollar). Selbst ohne die USA bleiben die NATO-Staaten mit 430 Milliarden US-Dollar deutlich voraus. Russland wiederum gibt rund ein Drittel seines gesamten Staatshaushalts für Militär aus – ein untragbares Maß, wirtschaftlich wie gesellschaftlich.
Waffensysteme und Technologie: ein klarer Vorsprung
Auch bei den Großwaffensystemen zeigt sich ein enormes Ungleichgewicht: Über 5.400 Kampfflugzeuge auf NATO-Seite stehen nur gut 1.000 russischen gegenüber. Bei Kampfpanzern, Artillerie und Kriegsschiffen ist das Verhältnis ähnlich. Dazu kommt: Während viele NATO-Staaten ihre Systeme kontinuierlich modernisieren, hinkt Russland technologisch hinterher und muss vermehrt auf alte Modelle aus Lagerbeständen zurückgreifen.
Truppenstärke: doppelte Anzahl auf NATO-Seite
Die NATO unterhält mit rund 3,3 Millionen Soldat:innen mehr als doppelt so viele wie Russland, das laut Studie auf etwa 1,3 Millionen kommt – davon nur etwa 40 Prozent westlich des Urals. Russland hat Mühe, die im Ukrainekrieg erlittenen Verluste durch neue Rekrutierungen auszugleichen.
Atomwaffen: Patt mit Gefahrenpotenzial
Im Bereich der Atomwaffen herrscht ein nukleares Gleichgewicht: etwa 5.500 Sprengköpfe auf beiden Seiten, sowohl Russland als auch die NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien verfügen über eine nukleare Triade. Doch statt diesen gefährlichen Zustand durch neue Verträge zu entschärfen, wird weiter modernisiert. Die Autoren der Studie plädieren dringend für rüstungskontrollpolitische Initiativen, etwa zur Rettung des New-START-Abkommens.
Greenpeace: „Nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Eskalationsrisiko“
Greenpeace mahnt zur Umkehr: „Die anhaltende Aufrüstung bringt nicht mehr Sicherheit – sie erhöht das Risiko einer weiteren Eskalation“, sagt Dr. Alexander Lurz, Abrüstungsexperte bei Greenpeace.
„Gerade angesichts der bestehenden konventionellen Überlegenheit der NATO sollten wir die Chance ergreifen, durch diplomatische Initiativen Vertrauen und Verifikation zurück auf die Tagesordnung zu bringen.“
Die Studie schließt mit einem Appell an Politik und Öffentlichkeit: Statt Milliarden in neue Waffen zu stecken, brauche es dringend Investitionen in Soziales, Bildung, Klima und internationale Friedensarbeit.
Die These, die NATO sei Russland militärisch unterlegen, hält einer sachlichen Überprüfung nicht stand. Vielmehr stellt sich die Frage: Warum fließen immer größere Summen in die Aufrüstung, wenn die NATO ohnehin klar überlegen ist? Die Studie liefert starke Argumente für Abrüstung, Diplomatie und friedenspolitische Weitsicht – gerade in einer Zeit, in der besonnenes Handeln gefragt ist.
Die vollständige Greenpeace-Studie „Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der NATO und Russlands“ kann hier als PDF heruntergeladen werden.