Deutschland beschlagnahmt mutmaßlich illegal einen russischen Öltanker in der Ostsee. Das Vorgehen ist Teil des NATO-Bestrebens, Russlands Handelsschifffahrt unter Druck zu setzen. Es erhöht die Kriegsgefahr.
(Eigener Bericht) – Die mutmaßlich illegale Festsetzung und Beschlagnahmung eines aus Russland kommenden Öltankers durch die Bundesrepublik verschärft die Spannungen in der Ostsee und droht einen gefährlichen Präzedenzfall für den Welthandel zu schaffen. Die deutschen Behörden hatten im Januar den Tanker Eventin, der manövrierunfähig in der Ostsee trieb, vor die Küste von Rügen geschleppt. Jetzt verweigern sie ihm die Ausfahrerlaubnis und erklären, er gehe mitsamt seinem Öl in den Besitz des deutschen Staates über, weil er in der Ausschließlichen Wirtschaftszone vor der deutschen Küste die Russlandsanktionen gebrochen habe – in einer Zone von bis zu 200 Kilometer vor der Küste, in der der Küstenstaat das Recht auf die Ausbeutung der Ressourcen hat, in der aber kein nationales Recht gilt. Auch für die dortige Durchsetzung unilateral verhängter Sanktionen gibt es keine Rechtsgrundlage; wer dort fremde Schiffe beschlagnahmt, begeht einen Akt der Piraterie. Der Berliner Vorstoß ist Teil des Bestrebens der NATO, Grundlagen für ein hartes Vorgehen gegen russische Schiffe in der Ostsee zu schaffen. Er eskaliert den Konflikt mit Russland mutwillig weiter und erhöht die Kriegsgefahr.
Die Ostseewache
Politischer Hintergrund des deutschen Vorgehens im Fall des Erdöltankers Eventin ist das Bestreben der Bundesrepublik und anderer NATO-Staaten, den Schiffsverkehr auf der Ostsee stärker unter Kontrolle zu nehmen. Zum einen geht es dabei um den Verdacht, Russland könne für Schäden an Unterseekabeln zwischen den südlichen und östlichen Ostseeanrainern und Skandinavien verantwortlich sein. Dies ist unbewiesen, aber nicht ausgeschlossen, zumal auch NATO-Staaten verdeckte Operationen gegen Russland durchführen; Washington hat beispielsweise Anfang März Cyberattacken gegen russische Ziele eingestellt und damit eingestanden, dass sie zuvor stattfanden.[1] Mit russischer Vergeltung gegen derlei Aktivitäten muss gerechnet werden. Zum anderen geht es darum, dass die westlichen Staaten russische Erdölexporte unterbinden wollen. Das ist bisher selbst mit exzessiven Sanktionen nicht gelungen. Im Westen werden Tankschiffe, die weiterhin russisches Erdöl transportieren, unter dem Begriff „Schattenflotte“ zusammengefasst; es wird nach Möglichkeiten gesucht, sie zu stoppen. Mitte Januar hat die NATO beschlossen, unter dem Operationsnamen Baltic Sentry (Ostseewache) unter anderem Kriegsschiffe, U-Boote sowie Aufklärungsflugzeuge in die Ostsee zu entsenden, um die Unterwasserinfrastruktur zu überwachen.[2] Über weitere Schritte wird nachgedacht.
In der Ausschließlichen Wirtschaftszone
Für diese gibt es einen juristischen Rahmen, der dem internationalen Seerecht entspringt. Demnach haben Staaten umfassende Eingriffsmöglichkeiten in ihren Hoheitsgewässern, die bis zu zwölf Meilen vor ihre Küste reichen. Dort gilt nationales Recht. Anders verhält es sich in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die sich bis zu 200 Kilometer vor die Küste erstreckt. Dort verfügen die Küstenstaaten zwar über das alleinige Recht, die natürlichen Ressourcen zu nutzen, also Fischfang zu treiben sowie Bodenschätze abzubauen. Zugriff auf fremde Schiffe aber haben sie nicht. Das bedeutet, dass sie dort weder gegen Schiffe vorgehen dürfen, denen sie unterstellen, Unterwasserkabel beschädigt zu haben, noch gegen solche, von denen sie behaupten, sie verletzten mit dem Transport russischen Erdöls westliche Sanktionen. Schon seit geraumer Zeit werden in mehreren Anrainerstaaten der Ostsee intensive Überlegungen angestellt, ob sich nicht Zugriffsmöglichkeiten in der AWZ auf die eine oder die andere Weise legitimieren ließen. Manche verträten die These, hieß es schon vor rund einem Jahr in einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), man könne dort „ungeschriebene Rechte und Befugnisse“ geltend machen, wenn es dabei um eigene „Sicherheitsinteressen“ gehe.[3] Bislang taten dies aber zumeist lediglich Staaten des Globalen Südens zur Abwehr westlicher Kanonenbootpolitik.[4]
Testlauf in Finnland
Erste konkrete Vorstöße hat kürzlich Finnland unternommen – dies, nachdem der Erdöltanker Eagle S, der sich auf dem Weg aus dem russischen Ust-Luga ins türkische Aliağa befand, laut Auffassung der finnischen Behörden ein Stromkabel auf dem Boden der Ostsee gekappt hatte. Dies geschah nicht in finnischen Hoheitsgewässern, sondern in der AWZ. Die finnische Küstenwache nötigte daraufhin die Besatzung der Eagle S, in die finnischen Hoheitsgewässer einzufahren, wo das Schiff in einer showmäßig inszenierten Aktion mit Spezialkräften, die sich von Hubschraubern abseilten, geentert wurde. Das Angebot, ihr Personal über die regulären Lotsenleitern an Bord klettern zu lassen, hätten die finnischen Behörden abgelehnt, wird berichtet.[5] Anschließend leitete Helsinki ein Verfahren gegen die Besatzung der Eagle S ein. Bei der Operation handelt es sich um einen Präzedenzfall nicht nur bezüglich der Frage, ob die Beschädigung von Unterseekabeln in der AWZ durch den Küstenstaat geahndet werden darf; Finnland teste eine entsprechende Rechtsauslegung, wird der Seerechtsexperte Valentin Schatz von der Leuphana Universität Lüneburg zitiert.[6] Auch die Frage, ob man gegen Schiffe und die Besatzung nach nationalem Recht vorgehen könne, sofern man sie zum unfreiwilligen Verlassen der AWZ und zum Einfahren in die Hoheitsgewässer genötigt habe, wird vom finnischen Vorgehen berührt. Der Gerichtsprozess darüber dauert an.
Testlauf in Deutschland
Den nächsten Vorstoß hat nun Deutschland gestartet – mit seinem Vorgehen gegen den Öltanker Eventin, der sich mit knapp 100.000 Tonnen Erdöl auf dem Weg aus Ust-Luga nach Ägypten befand. Im Januar trieb der Tanker manövrierunfähig in der Ostsee und wurde von einem deutschen Schlepper vor die Küste von Rügen gezogen. Dort wurde er offenbar repariert; jedenfalls wurde ein Weiterfahrverbot, das die zuständigen deutschen Behörden zunächst verhängt hatten, nach sorgfältiger Überprüfung des Schiffs sowie seiner Unterlagen wieder aufgehoben. Die erforderliche Ausfahrerlaubnis, die die Besatzung der Eventin daraufhin beantragte, wurde jedoch nicht erteilt: Dass das Schiff – manövrierunfähig – in die deutsche AWZ getrieben sei, sei ein Verstoß gegen das Sanktionsrecht, heißt es. Inzwischen wurde die Eventin samt des von ihr transportierten Öls beschlagnahmt und in deutschen Besitz überführt. Der Vorgang sei „europaweit bisher einmalig“, heißt es dazu.[7] In der Tat wurden die Sanktionen einseitig von diversen westlichen Staaten verhängt und können in einer AWZ keinerlei Geltung beanspruchen. Gelingt es Berlin, sein Vorgehen für rechtmäßig erklären zu lassen, dann könnte es jeden aus Russland kommenden Öltanker, den es zur Einfahrt in die deutsche AWZ veranlassen kann, beschlagnahmen und enteignen.
Globale Folgen
Die Folgen wären gravierend. Künftig könnten dann sämtliche Staaten weltweit ganz nach Belieben unilaterale Sanktionen gegen ein missliebiges Land verhängen und dessen Schiffe, sollten sie in der AWZ vor seiner Küste kreuzen, beschlagnahmen. Russland etwa könnte dies in seiner AWZ vor Kaliningrad tun, Iran im Persischen Golf und China im Südchinesischen Meer. Eskalierende Konflikte wären unausweichlich.
„Eine Kriegserklärung“
Dies gilt auch dann, wenn Deutschland und weitere NATO-Staaten ihr Vorgehen gegen aus Russland kommende Schiffe nach dem Vorbild ihres Vorgehens gegen die Eventin ausdehnen. So erklärte Lettlands Präsident Edgars Rinkēvičs bereits im vergangenen Jahr, eine Option, die die NATO wählen könne, bestehe darin, auf die eine oder andere Weise die Ostsee für alle russischen Schiffe faktisch zu sperren. Dies komme zwar „einer Kriegserklärung“ gleich; doch müsse man ja wohl alle im Machtkampf gegen Russland in Frage kommenden Instrumente „diskutieren“ dürfen.[8] Konkrete Schritte in diese Richtung schlug bereits am 1. Februar der Bundesvorsitzende der Partei Die Linke, Jan van Aken, vor. „Die Küstenwachen der Ostsee-Anrainer haben die Möglichkeit“, behauptete van Aken, „Inspektionen zu machen und Schiffe über Tage und Wochen festzuhalten“.[9] Dass es dazu im internationalen Recht ohne einen Beschluss der Vereinten Nationen keine Grundlage gibt, erwähnte van Aken nicht. Über die Folgen gehäufter Akte faktischer NATO-Piraterie gegen russische Schiffe erklärte der Bundestagsabgeordnete: „Das jubelt die Transportkosten so an die Decke, dass sich dieser Ölhandel nicht mehr lohnt. Putins Kriegskasse wird richtig geleert.“ Dass sich Russland systematische rechtswidrige Übergriffe gegen seine Schiffe gefallen lassen wird, kann freilich als ausgeschlossen gelten. Eine bewaffnete Eskalation wäre nah.
[1] Lolita C. Baldor, David Klepper: Hegseth orders suspension of Pentagon’s offensive cyberoperations against Russia. apnews.com 03.03.2025.
[2], [3] S. dazu Die Ostsee-Wache.
[4] Christian Schaller: Spionage und Sabotage vor Europas Küsten – Kritische Infrastruktur im Fadenkreuz. SWP-Studie 2024/S 08. Berlin, 28.02.2024.
[5], [6] Julian Staib: Der Fall Eagle S: Entern erlaubt? Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.01.2025.
[7] Julian Staib: Schattenflotten-Tanker beschlagnahmt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.03.2025.
[8] John Paul Rathbone: Henry Foy, Raphael Minder: West grapples with response to Russian sabotage attempts. ft.com 04.06.2024.
[9] Linke will mehr Druck auf Putins Schattenflotte. msn.com 01.02.2025.