Am 13. März 2025 fand eine öffentliche Anhörung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages zur geplanten Grundgesetzänderung für eine massive Erhöhung der Rüstungsausgaben statt. Der Friedensaktivist und Experte Reiner Braun war als Sachverständiger eingeladen und hat eine schriftliche Stellungnahme eingereicht, in der er die Begründung für die Aufrüstung – die angebliche Aggressivität Russlands – kritisch hinterfragt.
Anhand von Daten aus westlichen Geheimdienstberichten und Analysen renommierter Forschungsinstitute zeigt er auf, dass die NATO Russland militärisch weit überlegen ist und ein russischer Angriff auf den Westen höchst unwahrscheinlich erscheint. Statt auf Eskalation und Hochrüstung zu setzen, fordert Braun eine Politik der gemeinsamen Sicherheit und Friedensverhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges. Seine Stellungnahme veröffentlichen wir hier in voller Länge.
Deutscher Bundestag Haushaltsausschuss Herrn Vorsitzenden
Prof. Dr. Helge Braun, MdB
Per Mail: haushaltsausschuss@bundestag.deReiner Braun
International Peace Bureau Marienstraße 19-20
10117 BerlinSchriftliche Stellungnahme
zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 13. März 2025 zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 109, 115 und 143h) Bundestagsdrucksache 20/15096
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Elefant im Raum oder die zentrale Begründung für die geplante massive Aufrüstung ist die Behauptung einer grundlegenden Aggressivität Russlands und, dass Russland den Westen in wenigen Jahren angreifen will und wird – der Westen/die NATO sich wiederum verteidigen muss.
Diese Aussage will ich in meinem Beitrag anzweifeln und widerlegen.
Da bisher nur der BND als geheime Quelle der Erkenntnis einer russischen Bedrohung für die geplante Hochrüstung zitiert wird, sollte auch eine Veröffentlichung von 17 US-Geheimdiensten herangezogen werden, in der zu lesen ist: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO“. („Annual Threat Assessment of the U.S. Intelligence Community“, 5. Februar 2024, Seite 14) Warum diese Aussage ignorieren?
1. Ist der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine Beweis genug für einen anstehenden Angriffskrieg auf Europa?
Auch wenn Russland diesen Krieg aus vielfältigen Gründen „gewinnen“ wird, hat er doch eklatant die Schwächen des russischen Militärs vor den Augen der Weltöffentlichkeit offengelegt. Dieses Militär soll eine zigfach überlegene NATO angreifen? Das wäre doch – um es vorsichtig zu formulieren –mehr als unwahrscheinlich und aus Sicht Russlands ein selbstmörderischer Irrsinn.
Dieser Krieg hat aber eines erneut verdeutlicht: Wenn die Sicherheitsinteressen eines Landes permanent verletzt und diese –obwohl es die Politik der gemeinsamen Sicherheit wie auch die Charta von Paris vorsieht – niemals ernst genommen werden und dann noch Russland durch die NATO-Osterweiterung mit dem Rücken an die „politische Wand“ gedrückt wird, kann es zu unverantwortlichen, gleichwohl nicht zu rechtfertigenden Reaktionen kommen. Verantwortliche Friedens- und Sicherheitspolitik muss deswegen immer dem Gedanken der Entspannungspolitik folgen, wonach die eigene Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn auch die Sicherheit des anderen gewährleistet wird (Olof Palme Reports 1-1982 und 2-2022). Der erste Schuss in einem Krieg ist immer das Versagen der Diplomatie und dieses ist niemals eine einseitige Verantwortung.
2. Ja, aber Putin: Können wir Putin trauen?
Die Frage kann auch umgedreht formuliert werden: Was soll der russische Präsident Wladimir Putin nach all den vom Westen nicht eingehaltenen Absprachen vom Westen halten? Die Liste der nicht eingehaltenen Versprechen/Zusagen/Verträge ist lang: NATO-Osterweiterung gegen die Buchstaben und den Geist von Paris, die Zusagen der Jahre 1990 bis 1992 namhafter westlicher Politiker und Präsidenten, die Kündigung der Rüstungskontrollverträge, das Minsker Abkommen nicht als Friedensvertrag, sondern zugegebenermaßen – siehe die Ausführungen der früheren Kanzlerin Angela Merkel und des ehemaligen französischen Präsidenten François Hollande wie auch seines ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko – als Aufrüstungs-Interregnum zur Vorbereitung des nächsten Krieges gegen Russland, etc.
Es war niemals Russland, das Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge wie ABM, INF, Open Sky, KSE als erstes gekündigt hat.
Ist es nicht Zeit, Putin beim Wort zu nehmen und miteinander über eine Sicherheitsarchitektur zu reden? Fast alle Länder dieser Erde außerhalb Europas reden mit politischem Erfolg mit Putin. Dämonisierung und Feindbildkultur verhindern einen realistischen Umgang mit Problemen und Konflikten, verbauen internationale Lösungswege für die globalen Herausforderungen.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Aber dies gilt nur, wenn verhandelt, wenn der Dialog bestimmend ist und Vereinbarungen getroffen werden, die dann auch verifiziert werden. Es ist gerade die scheidende Bundesregierung, die sich diesem Dialog-Konzept, das uns in der Vergangenheit große Anerkennung in der friedlichen Konfliktlösung eingebracht hatte, verweigert. Das hat dem Ansehen unseres Landes in der Welt bereits enorm geschadet.
Die kommende Koalition aus CDU, CSU und SPD eskaliert stattdessen schon vor Regierungsübernahme durch die Aufhebung der Budgetgrenzen des Rüstungshaushalts.
3. Ist die deutsche Politik geschichtsvergessen?
Historisch betrachtet wurde Russland fast immer aus dem Westen angegriffen, aber der Westen Europas nicht aus dem Osten. Die Sowjetunion hat maßgeblich und unter unvorstellbaren Opfern dazu beigetragen, dass Deutschland und Europa vom Faschismus befreit wurden. Gerade die Nation der Täter sollte das nicht vergessen.
Die drei Überfälle in den letzten gut 200 Jahren – Napoleon 1812, Erster Weltkrieg und der Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 – haben sich tief in die Mentalität, die Kultur und das Bewusstsein der russischen Bevölkerung eingeprägt und beeinflussen sicher auch heute maßgeblich die russische Politik. Aus der russischen Wahrnehmung steht die NATO-Einkreisung genau in dieser Tradition.
4. Die NATO ist in allen zentralen militärischen Bereichen Russlands um das Drei- bis Siebenfache überlegen
Die Zahlen des wohl renommiertesten Friedensforschungsinstitutes SIPRI (SIPRI Report, 22.04.2024) über das Jahr 2023 widerlegen den Mythos, „Europa“ liege militärisch am Boden und müsse dringend „wiederaufgerüstet“ werden, wie es der Name des EU-Programms „ReArm Europe“ suggeriert. Das bestätigt auch ein Überblick über die Militärausgaben, den das der NATO zugehörige „International Institute for Strategic Studies“ (IISS) in London im Februar 2024 vorlegte. Die EU steigerte ihre Rüstungsausgaben im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 11,7 Prozent auf 457 Milliarden US-Dollar. Damit kamen sie freilich nicht einmal auf die Hälfte des Budgets der US-Streitkräfte; dieses lag im vergangenen Jahr bei 968 Milliarden US-Dollar. Am stärksten stiegen die deutschen Militärausgaben, die sich – die Sonderschulden inklusive – auf ca. 90 Milliarden beliefen. Der russische Militärhaushalt belief sich 2023 auf 145,9 Milliarden US-Dollar.
In der für Greenpeace von den renommierten Friedensforschern Herbert Wulf und Christoph Steinmetz mit erstellten Studie wird zusammenfassend festgestellt:
- Die Überlegenheit der NATO in Zahlen: Die militärischen Kapazitäten der NATO übertreffen die Russlands in nahezu allen Aspekten. Die NATO- Staaten geben etwa zehnmal mehr für ihre Verteidigung aus als Russland – 1,19 Billionen US-Dollar im Vergleich zu 127 Milliarden US-Dollar. Auch ohne die USA bleibt die NATO finanziell überlegen. Selbst unter Gewichtung der unterschiedlichen Kaufkraft haben die europäischen NATO-Staaten ein Übergewicht in den Rüstungsausgaben von 420 Milliarden US-Dollar zu 300 Milliarden US-Dollar gegenüber Russland.
- Technologische und operationale Überlegenheit: In der Bewertung der Waffentechnologien zeigt sich, dass die NATO in Schlüsselbereichen wie Kampfflugzeugen und Panzern deutlich im Vorteil ist. Russlands Bestrebungen, moderne Systeme zu entwickeln, werden durch wirtschaftliche und technologische Engpässe stark eingeschränkt. So verfügt z.B. die NATO insgesamt über 5.406 Kampfflugzeuge, allein die europäischen NATO-Partner ohne die USA über 073, Russland hingegen über 1.026. Bei Kampfpanzern stehen mehr als 6.000 europäische Panzer 2.000 russischen gegenüber. (Die NATO mit den USA besitzt sogar über 9.000 Panzer.) Bei Artilleriesystemen ergibt sich folgendes Bild: europäische NATO-Staaten 15.399, NATO gesamt: 22.145, Russland 5.399.
- Truppenstärke und Einsatzbereitschaft: Mit über drei Millionen aktiven Soldat:innen ist die NATO auch in Bezug auf die Truppenstärke überlegen. Russland kann lediglich 1,33 Millionen aktive Soldat:innen mobilisieren, von denen eine große Anzahl weiter in oder an der Grenze zur Ukraine gebunden ist. Hinzu kommen steigende Verluste und sinkende
- Ungleichgewicht in der Rüstungsindustrie: Die Rüstungsindustrie spielt eine entscheidende Rolle für die militärische Stärke. Während die NATO über ein robustes und innovatives Hightech-Rüstungsumfeld verfügt, kämpft Russland mit der Aufrechterhaltung seiner Produktionskapazitäten, was die Einführung moderner Waffensysteme beeinträchtigt.
Die Atomwaffen, mit der Fähigkeit sich gegenseitig mehrfach zu vernichten, lasse ich außen vor.
Gilt dieses auch in vier Jahren? Die ökonomische Kraft und technologische Fähigkeiten Russlands sind auch dann für einen Angriffskrieg nicht vorhanden. Zudem: der politische Wille dazu wurde weder vom Präsidenten noch von ernstzunehmenden politischen Kräften formuliert. Er widerspräche der Logik russischer Außen- und Sicherheitspolitik. Der Krieg in der Ukraine hat zu deutlichen Verschleiß-Erscheinungen und Verlusten geführt. Allein die Überzahl der Satellitensysteme (z.B. Starlink mit 7.000 Satelliten) und Drohnen macht die These eines möglichen Überfalls durch Russland äußerst unwahrscheinlich.
5. Die unbeantwortete Frage, warum sollte Russland den Westen überfallen?
Diese Frage zu stellen, heißt sie im Sinne der obigen Ausführungen zu beantworten: aus Selbstmord oder aus intrinsischem Wahnsinn?
Eine Politik gegenüber Russland kann bei allen politischen, ökonomischen, ideologischen und auch menschenrechtlichen Differenzen nur eine Politik der guten Nachbarschaft, des Dialoges und der Kooperation sein. Niemals – und dies sollte uns die Geschichte gelehrt haben – eine Politik der aggressiven Aufrüstung, ja der Kriegsvorbereitung. Deshalb sind die vorliegenden Gesetzesentwürfe von CDU/CSU und SPD zur Änderung des Grundgesetzes für eine grenzenlose Aufrüstung abzulehnen und eine Politik der gemeinsamen Sicherheit in der Tradition von Willy Brandt einzufordern.
Das Festhalten an einer Fortführung des Ukraine-Krieges ist mit Blick auf die von den USA initiierten Friedensgespräche der schiere Wahnsinn. Bundesregierung und EU-Kommission kalkulieren hier mit dem Tod Hunderttausender und weiterer Zerstörung in der Ukraine mit dem Risiko einer weiteren Entgrenzung und Eskalation zu einem großen Krieg in Europa.
Demgegenüber sind Friedensbemühungen für eine Beendigung des Ukraine- Krieges zu unterstützen und Russland ein Gesprächsangebot über gemeinsame Abrüstungsanstrengungen zu unterbreiten, dies auch mit Blick auf eine Senkung der eigenen Militärausgaben und eine mögliche Beendigung der selbstschädigenden Wirtschaftssanktionen.
Den Plänen, Deutschland atomar bewaffnen zu wollen, ist eine Absage zu erteilen. Dies würde eine eklatante Verletzung des Zwei-plus-Vier-Vertrages sowie des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages bedeuten und diesen endgültig zerstören.