Der Oberste Gerichtshof STF lässt Anklage gegen Jair Bolsonaro zu. Der 70-jährige Ex-Präsident Brasiliens soll gemeinsam mit 33 weiteren Personen einen Putsch geplant haben, nachdem er die Wahl im Herbst 2022 verloren hatte. Bolsonaro selbst bestreitet die Vorwürfe nach wie vor. Beobachter befürchten, dass die Justiz angesichts einer eher dünnen Beweislage ein Exempel statuieren will und befürchten eine weitere politische Spaltung des größten Landes Südamerikas.

Der Erste Senat des Bundesgerichtshofs (STF) hatte bereits am Dienstag mit der Prüfung begonnen, ob die Klage angenommen werden soll oder nicht. Nun muss sich Bolsonaro und die anderen Angeklagten – darunter einige ehemalige Kabinettmitglieder und hochrangige Militärs vor demselben ersten Gremium verantworten. Dieses setzt sich aus Alexandre de Morães, Carmen Lúcia, Luiz Fux, Flávio Dino und Cristiano Zanin (Vorsitz) zusammen.

Die Generalstaatsanwaltschaft war nach Ermittlungen der Bundespolizei (PF) zu dem Schluss gekommen, den Ex-Staatschef wegen der Gründung einer bewaffneten kriminellen Vereinigung, des Versuchs der gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaates und des Staatsstreichs sowie wegen Verbrechen im Zusammenhang mit den Anschlägen in Brasília am 8. Januar 2023 anzuklagen. Als mögliches Höchststrafmaß stehen 40 Jahre im Raum.

Bolsonaro versucht die Angelegenheit herunterzuspielen

Bolsonaro, der am ersten Tag gehört wurde, versuchte den Fall herunterzuspielen. Seiner Meinung nach basiere der Fall auf „einem Narrativ“ und eine „Verfolgung“, die darauf abzielen, ihn politisch auszubremsen. Zur Erinnerung: Bolsonaro, inzwischen 70 Jahre alt, wurde bereits aufgrund anderer Dinge das passive Wahlrecht bis 2030 entzogen

In diesem Zusammenhang wies Bolsonaro darauf hin, dass „in zwei Sitzungen“ über die Verhängung des „Ausnahmezustands, des Verteidigungszustands“ oder einer „föderalen Intervention“ unter Beteiligung des Militärs „gesprochen wurde“, diese Szenarien aber am Ende „vergessen“ wurden.

Bolsonaros Anwalt Celso Vilardi versuchte ebenfalls, die Angelegenheit kleinzureden. Er sprach von Untersuchungen und Beschlagnahmungen, die jedoch keinerlei Beweise erbracht hätten. „Ich verstehe die Schwere der Geschehnisse vom 8. Januar“, hatte Vilardi gesagt. „Aber es ist unmöglich, den Präsidenten der Republik als Anführer einer kriminellen Vereinigung zu beschuldigen.“ Und Bolsonaros Sohn Carlos legte auf LinkedIn nach: „Einen Putschplan gab es nie!“

Senat stimmte einstimmig für die Anklage

Das sieht Richter Alexandre de Morães offenbar anders, weshalb der Senat die Anklage gegen Bolsonaro und die vermeintlichen Kollaborateure zuließ. Im Wesentlichen stützt sich die Argumentation auf die Aussagen des früheren Adjutanten Bolsonaros Mauro Cid, der sich der Justiz als Whistleblower anvertraut hatte. Kritiker monieren, Cid sei von der Bundespolizei zu seiner Aussage gedrängt worden. Der erste Senat folgte der Rechtsauffassung de Morães‘ einstimmig.

Der Prozessauftakt wurde von Anhängern Bolsonaros genutzt, die politische Stimmung erneut anzuheizen, wie das Nachrichtenportal The Intercept Extrema direita usa julgamento de Bolsonaro para atacar o STF berichtet: „Die Rechte versuche, dieses Ereignis zu einem neuen Zünder für die politische Radikalisierung zu machen. Das Muster ist klar: Konfrontationen, Schreien, Fluchen und orchestrierte Angriffe auf Institutionen.“, heißt es in dem Bericht.

Der erste Tag habe bereits deutlich gemacht, dass sich Bolsonaros Strategie nicht nur darauf beschränke, seine Führungsposition zu verteidigen, sondern das politische Gleichgewicht der Entscheidung umzukehren und den Hass auf die Gerichte – und auch auf den Journalismus – weiter zu steigern.

Politische Rechte will Prozess nutzen, um Chaos zu stiften

Demnach sei es das erklärte Ziel, eine Atmosphäre des Chaos und der Verfolgung zu schaffen, die den Diskurs der Viktimisierung nährt, der Bolsonaro und seine Verbündeten stützt und ihm letztlich nützt, um einen Opfermythos zu kreieren. Und auch Medien und Journalisten sollen eingeschüchtert werden, wie The Intercept weiter berichtet.

Am Vorabend der Verhandlung seien innerhalb weniger Stunden mehrere Journalisten zur Zielscheibe von Drohungen und Schikanen geworden. Ein Redakteur von The Intercept Brasil erhielt mehrere Morddrohungen, nachdem er am 8. Januar über einen Flüchtling in Buenos Aires, Argentinien, berichtet hatte.

Die Journalistinnen Gabriela Biló und Thaisa Oliveira von Folha de S. Paulo wurden demnach ebenfalls bedroht und ihre persönlichen Daten wurden aus einem ähnlichen Grund veröffentlicht: der unwahren Anschuldigung, sie hätten einen Putschisten ins Gefängnis gebracht. „Dies sind keine Einzelfälle – und sie stehen in engem Zusammenhang mit den unglücklichen Szenen vor dem Obersten Gerichtshof“, so der Bericht.

Die Strategie scheint klar: Der Oberste Gerichtshof und die Presse sollen zu Feinden gemacht werden, die es zu bekämpfen gilt, um ein Klima der permanenten Instabilität zu schaffen. Ob die Strategie aufgehen wird, wird sich zeigen.

Besteht Fluchtgefahr?

Die Luft scheint dünner zu werden – ein Grund für Jair Bolsonaro sich abermals aus dem Staub zu machen? Das dürfte allerdings kaum möglich sein, denn schon im Februar 2024 hatte man ihm vorsorglich den Reisepass abgenommen. Bolsonaro war erstmals am 30. Dezember 2022, zwei Tage vor der Amtsübergabe an Luiz Inácio Lula da Silva ziemlich überstürzt in ein Flugzeug gen Miami gestiegen. Über die Gründe war reichlich spekuliert worden. Sie reichten von Angst vor Strafverfolgung bis zur Weigerung, seinem Nachfolger die Schärpe überhängen zu wollen. Erst im März war er nach Brasilien zurückgekehrt.

Während seiner Abwesenheit hatten am 8. Januar 2023 einige Tausend Personen in der Hauptstadt Brasília den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast gestürmt und verwüstet. Erst nach einigen Stunden war es der Polizei gelungen, den Aufstand unblutig zu beenden. Es folgten aber hunderte Festnahmen und Strafprozesse.

Zwei Jahre nach dem Kongresssturm heilen die Wunden nur langsam

Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro stürmen in Brasilia am 8. Januar 2023 mehrere Regierungsgebäude (Videobildschirmaufnahme).

Währenddessen machte eine Woche vor dem Prozess Bolsonaros Sohn Nr. 3, Eduardo, für eine überraschende Ankündigung. Der Bundesabgeordnete kündigte aus den USA an, sein Mandat ruhen zu lassen und vorerst in den Vereinigten Staaten zu bleiben, wohin er seit Trumps Amtsantritt inzwischen bereits vier Mal gereist war.

Sohn Nr. 3 sieht sich verfolgt und will in USA bleiben

Eduardo war schon während der Präsidentschaft seines Vaters immer bei Reisen in die USA dabei gewesen, hatte darüber auch Stephen Bannon den rechtsextremen Ex-Berater Trumps kennengelernt, der ihn zum Südamerika-Chef seiner rechtsextremen Organisation The Movement machte. Auch in den vergangenen Wochen soll sich Eduardo – der übrigens gute persönliche Kontakte zur AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch pflegt – dort immer wieder mit Abgeordneten und Unternehmern getroffen haben, um Maßnahmen gegen die aktuelle brasilianische Regierung zu diskutieren. Kritische Beobachter könnte darin durchaus eine Parallele zu 1964 sehen, als der linke Präsident Joao Goulart vom Militär durch tatkräftige Mithilfe der USA aus dem Amt geputscht wurde.

Eduardo Bolsonaro verkündete über Soziale Netzwerke, dass er sich in Brasilien nicht mehr sicher fühle und Angst vor politischer Verfolgung habe, garniert mit einigen verschwörerischen Andeutungen.

Faktisch deutet jedoch nichts darauf hin, dass der Abgeordnete – der ohnehin wegen des Amts Immunität vor Strafverfolgung genießt – gefährdet sein könnte. Es gibt keinerlei Ermittlungen oder Verfahren gegen den 40-Jährigen. Vielmehr könnte man vermuten, dass er mit seiner mehrdeutigen Ankündigung die Stimmung in der politischen Gefolgschaft wieder etwas anstacheln wolle. Diese schien zuletzt etwas abgekühlt.

Vor einigen Tagen hatte es unter anderem in Rio de Janeiro eine Kundgebung gegeben, bei der eine Amnestie für Ex-Präsident Bolsonaro gefordert worden war. Doch statt der angekündigten und erhofften 2 Millionen Menschen hatten nur einige Zehntausende daran teilgenommen. Interessant war am ersten Verhandlungstag auch zu beobachten, dass niemand von den anderen sieben vernommenen mutmaßlichen Putschisten Partei für den Ex-Präsidenten ergriffen hatte.

Die Staatsanwaltschaft hatte am 19. Februar formell Anklage gegen Bolsonaro wegen Putschversuchs erhoben. Er soll versucht haben, den Amtsantritt seines linksgerichteten Nachfolgers Luiz Inácio Lula da Silva nach dessen Sieg bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2022 zu verhindern.

Zu den fünf Anklagepunkten zählt auch die Bildung einer „bewaffneten kriminellen Organisation“, die einen Plan zur Ermordung von Lula, seines Stellvertreters und eines Richters am Obersten Gericht ausgearbeitet haben soll. Ein weiterer Anklagepunkt lautet auf „Versuch der gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats“. Insgesamt wurden im Februar 34 Menschen, darunter mehrere ehemalige Minister und ranghohe Militärs, angeklagt, sich verschworen zu haben, um eine Rückkehr des derzeit amtierenden Präsidenten Lula da Silva zu verhindern.

Wie es aktuell aussieht, versucht der Oberste Gerichtshof das Verfahren noch im laufenden Jahr durchzuziehen und zu beenden. Dazu besteht auch ein guter Grund, auch wenn die Indizien- und Beweislage aus Sicht mancher Beobachter eher dünn erscheinen. Im Oktober 2026 steht die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien an. Zöge sich das Verfahren bis ins Frühjahr oder gar den Sommer des Wahljahres, dürfte dies die politische Stimmung in Brasilien erneut anheizen.

Jair Bolsonaro ist der erste Ex-Präsident, der wegen eines Putschversuchs verurteilt werden könnte. Neben Bolsonaro werden ebenfalls folgende Personen angeklagt:

  • Alexandre Ramagem, Ex-Direktor des Verfassungsschutzes
  • Almir Garnier, Ex-Marinekommandant
  • Anderson Torres, Ex-Justizminister
  • Augusto Heleno, Ex-Minister der GSI
  • Mauro Cid, Ex-Adjutant des Ex-Präsidenten
  • Paulo Sérgio Nogueira, Ex-Verteidigungsminister
  • Braga Netto, Ex-Minister vergleichbar mit dem Kanzleramtsminister

Quellen unter anderem:

https://www.bbc.com/portuguese/articles/cy8739jywq6o.amp
https://agenciabrasil.ebc.com.br/justica/noticia/2025-03/stf-valida-delacao-de-cid-e-reconhece-competencia-da-primeira-turma
https://exame.com/brasil/defesa-de-bolsonaro-avalia-fala-sobre-omissao-em-delacao-de-cid-como-luz-no-fim-do-tunel/
Bolsonaro vira réu por tentativa de golpe de Estado com unanimidade dos votos na 1ª Turma do STF | Política | G1
Extrema direita usa julgamento de Bolsonaro para atacar o STF