Debatte über Stationierung französischer Atomwaffen in Deutschland beginnt. Berlin plant neues „Sondervermögen“ für die Bundeswehr von 200 Milliarden Euro. Ziel ist laut Merz „Unabhängigkeit“ von den USA.
Unter dem Eindruck eskalierender transatlantischer Differenzen beginnt eine Debatte über die Stationierung französischer und womöglich auch britischer Atomwaffen in Deutschland. Um vom Nuklearschirm der USA unabhängig zu werden, werde es in Paris in Erwägung gezogen, die eigenen Kernwaffen zu nutzen, um die atomare Abschreckung für Europa sicherzustellen, berichtet der britische Daily Telegraph. Ihm zufolge könnte sich auch Großbritannien daran beteiligen. In der Vergangenheit waren derlei Überlegungen stets daran gescheitert, dass Deutschland sich die Mitbestimmung über die französischen Kernwaffen sichern wollte, was Frankreich jeweils zurückwies. Ob es unter dem Druck der jüngsten Attacken der Trump-Administration – von der Androhung der Annexion Grönlands über die Ausbootung Europas von den Ukraine-Gesprächen bis zur Förderung der extremen Rechten in Europa – zu einer Einigung kommt, ist unklar. Politisch hat die EU begonnen, sich deutlich gegen die USA zu positionieren, so etwa in der Abstimmung über UN-Resolutionen zum Ukraine-Krieg. Für die eigenständige Aufrüstung zieht Berlin ein neues „Sondervermögen“ von 200 Milliarden Euro in Betracht.
„Von zwei Seiten unter Druck“
Der mutmaßliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz hatte bereits vor der Wahl im den US-Republikanern nahestehenden Wall Street Journal angekündigt, er werde sich, falls er die Wahl gewinne, die eskalierenden Attacken der Trump-Administration nicht bieten lassen und etwa „politisch“ oder „juristisch“ gegen die Einmischung von Elon Musk in den deutschen Wahlkampf vorgehen.[1] Noch am Wahlabend bekräftigte Merz in der Fernsehsendung Berlin Direkt, Musks „Interventionen“ seien „ein einmaliger Vorgang“ – „nicht weniger dramatisch … und letztlich unverschämt“ als „die Interventionen, die wir aus Moskau gesehen haben“. Berlin und die EU stünden jetzt „von zwei Seiten … massiv unter Druck“. Um sich zur Wehr zu setzen – nicht zuletzt gegen die Attacken aus Washington –, gelte es zunächst „Einigkeit in Europa“ herzustellen. Anschließend müsse es für ihn „absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken“, dass es tatsächliche „Unabhängigkeit“ von den Vereinigten Staaten erreichen könne.[2] Merz, ein ehemaliger Vorsitzender der Atlantik-Brücke sowie ein auch anderweitig ausgewiesener eingefleischter Transatlantiker, sagte dazu offen: „Ich hätte nicht geglaubt, dass ich so etwas mal in einer Fernsehsendung sagen muss.“
Die transatlantische Rivalität
Eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den USA haben die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie weitere Länder Europas, darunter vor allem Großbritannien, am Montag in einer Reihe von Abstimmungen bei den Vereinten Nationen an den Tag gelegt. Dabei ging es um Resolutionen anlässlich des dritten Jahrestags des russischen Angriffs auf die Ukraine. Waren in den vergangenen Jahren jeweils klar gegen Russland gerichtete Resolutionen in der UN-Generalversammlung mit großer Mehrheit verabschiedet worden – auf gemeinsame Initiative der Ukraine, der USA und der EU –, so machte sich Washington in diesem Jahr für eine Erklärung stark, die ein baldiges Ende des Krieges forderte und Russland gegenüber ziemlich zurückhaltend war, und es forderte von der Ukraine, ihren Entwurf für eine Resolution nach dem Vorbild der vergangenen Jahre umstandslos zurückzuziehen. Die EU und Großbritannien stärkten der Ukraine den Rücken und setzten die Verabschiedung ihres Entwurfs durch die UN-Generalversammlung in offener Konfrontation mit den Vereinigten Staaten durch. Umgekehrt enthielten sich die derzeit fünf europäischen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, als dort eine von der Trump-Administration eingebrachte weitere Resolution zum Ukraine-Krieg verabschiedet wurde.[3]
Unter französischer Führung
Bei den Bestrebungen, die EU-Mitgliedstaaten wie auch Großbritannien gegenüber der Trump-Administration auf eine gemeinsame Linie einzuschwören, hat derzeit Frankreich die führende Rolle inne. Nachdem die USA Ende vorvergangener Woche klargestellt hatten, sie würden im Alleingang mit Russland über die Beendigung des Ukraine-Kriegs verhandeln, hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für den 17. Februar sechs EU-Staaten sowie Großbritannien zu einem kurzfristig anberaumten Krisengipfel nach Paris eingeladen, um nach Wegen zu suchen, zunächst eine umfassende Beteiligung Europas an den amerikanisch-russischen Gesprächen durchzusetzen.[4] Am 19. Februar folgte, gleichfalls auf Einladung Macrons, ein weiteres Treffen zum Thema, an dem sich – größtenteils per Videokonferenz – 16 meist kleinere EU-Staaten und die NATO-Mitglieder Norwegen, Island und Kanada beteiligten.[5] Am Sonntag, dem 23. Februar, stimmte sich Macron telefonisch im Detail mit Großbritanniens Premierminister Keir Starmer über ihre jeweiligen Gespräche im Weißen Haus ab; Macron traf dort am Montag mit Trump zusammen, Starmer wird das am morgigen Donnerstag tun. Der mutmaßliche künftige Kanzler Merz hatte kurzfristig ebenfalls mit Macron telefoniert, um zumindest kurz über dessen Treffen mit Trump zu reden.
Atombomben in Deutschland
In dieser Situation beginnt nun erneut eine Debatte über die nukleare Aufrüstung Europas. Merz hatte am vergangenen Freitag gefordert, darüber nachzudenken, ob nicht „die nukleare Sicherheit“ – also die Atomwaffen – Großbritanniens und Frankreichs „auch für uns in Anspruch genommen werden könnte“.[6] Wie dies geschehen solle, sei freilich unklar: „Wir müssen darüber reden, wie das aussehen könnte.“ Inzwischen liegt laut einem Bericht des Daily Telegraph diesbezüglich ein französisches Angebot vor. Demnach sei Paris bereit, den Grundstein für den Aufbau eines eigenständigen europäischen Nuklearschirms zu legen – indem es atomwaffenfähige Kampfjets und Atombomben in Deutschland stationiere. „Ein paar“ dieser Jets in die Bundesrepublik zu verlegen sei „nicht schwierig“, sende jedoch eine „starke Botschaft“, erklärte ein französischer Regierungsmitarbeiter im Gespräch mit dem Daily Telegraph. Die Zeitung zitierte zudem einen Diplomaten in Berlin, laut dem eine Stationierung französischer Nuklearwaffen in Deutschland „den Druck“ auf Großbritannien erhöhen werde, dem Beispiel zu folgen. Aus der CDU nehme er die Bereitschaft wahr, erklärte der Diplomat, über einen solchen Nuklearschirm zu reden und „für ihn zu zahlen“, zugleich aber auch „mitbestimmen“ zu wollen.[7]
Innereuropäische Differenzen
Über eine etwaige Nutzung der französischen Atomwaffen zum Aufbau eines europäischen Nuklearschirms ist schon in der Vergangenheit immer wieder diskutiert worden. Bislang scheiterte der Plan jedesmal daran, dass Berlin zumindest paritätische Mitbestimmung über die Waffen verlangte, Paris aber nicht bereit war, sein nukleares Privileg zu teilen (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Ob der Wille, einen eigenständigen, von den USA völlig unabhängigen Nuklearschirm über der EU oder, falls Großbritannien sich beteiligte, über ganz Europa aufzuspannen, diesmal genügt, um die nationalen Differenzen in der EU, insbesondere aber zwischen Berlin und Paris zu überwinden, ist ungewiss.
„Mehr als drei Prozent“
Die neue Debatte geht dabei mit Planungen in Berlin einher, ein zweites Schuldenprogramm in dreistelliger Milliardenhöhe nach dem Vorbild des „Sondervermögens“ vom Februar 2022 aufzulegen, um damit die forcierte Aufrüstung der Bundeswehr zu ermöglichen. Die Rede ist diesmal von 200 Milliarden Euro; freilich müsste dazu womöglich der alte Bundestag noch einmal zusammentreten, weil im neuen Bundestag die erforderliche Zweidrittlmehrheit nicht mehr gesichert ist: Die Fraktionen der Linken und der AfD, deren Zustimmung als unsicher gilt, verfügen zusammen über mehr als ein Drittel der Abgeordneten.[9] Unabhängig davon dringt Verteidigungsminister Boris Pistorius darauf, den Bundeswehrhaushalt von der Schuldenbremse auszunehmen. Das sei erforderlich, da der Wehretat „durch notwendige Investitionen in den kommenden Jahren auf über 100 Milliarden Euro“ zumindest verdoppelt werden müsse, erklärte Pistorius am Dienstag: „Wir reden über mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.“[10]
[1] Bertrand Benoit: Musk Will Face Consequences for Meddling in German Politics, Warns Likely Leader. wsj.com 13.02.2025. S. dazu Transatlantische Widersprüche.
[2] Berlin Direkt, 23.02.2025.
[3] Farnaz Fassihi: U.S. and European Allies Split Sharply at the U.N. Over Ukraine. nytimes.com 24.02.2025.
[4] S. dazu Ein demonstrativer Schulterschluss.
[5] Guerre en Ukraine : nouvelle réunion de plusieurs États européens à l’initiative d’Emmanuel Macron. ouest-france.fr 19.02.2025.
[6] Politikwechsel für ein starkes und selbstbewusstes Deutschland. cdu.de 21.02.2025.
[7] James Rothwell, James Crisp, Memphis Barker, Colin Freeman: French nuclear shield could extend across Europe. telegraph.co.uk 24.02.2025.
[8] S. dazu Atomwaffen für Europa und Die sozialdemokratische Bombe.
[9] Peter Carstens, Eckart Lohse, Matthias Wyssuwa: Mehr Geld, solange es noch geht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.02.2025.
[10] Merz erwägt weiteres Sondervermögen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.02.2025.