Die indigene Gemeinde Vista Alegre liegt mitten im brasilianischen Amazonas, nicht tief im Wald, sondern gleich am Ufer des Rio Tapajos. Zur nächstgrößeren Stadt brauchen die 1.335 Bewohner*innen eine gute Stunde, einfach den Fluss runter, dann rechts halten. Gleich hinter der Soja-Verladestation tauchen dann die Anlegestellen von Santarém auf. So eine Fahrt gilt im riesigen Amazonasgebiet als Kurzstrecke. Und doch trennen die beide Ort Welten, deutlich hörbar, wenn kurz vor der Ankunft in Santarém die Smartphones düdelnd den Empfang von Nachrichten verkünden – endlich wieder Internet!

Bis heute hat mindestens ein Drittel der Menschheit keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum Internet. Die meisten von ihnen leben in abgelegenen Dörfern, fernab der Glasfaser- und Mobilfunknetze. Die staatliche Regulierungsbehörde Brasiliens rechnete lange vor, dass es noch Jahrzehnte dauern werde, damit die gesamte Bevölkerung Onlinezugang hat. Doch dann kam Elon Musk. Mit den tieffliegenden Satelliten und mobilen Antennen seines Starlink-Systems ist es technisch kein Problem mehr, überall die Vorzüge der digitalen Welt zu genießen, von E wie E-Learning bis R wie Revenge Porn. Und genau da beginnt das Problem: was macht der ungefilterte digitale Wahnsinn der digital natives, der komplett im digitalen Zeitalter geborenen, eigentlich mit all denen, die bisher offline gelebt haben, zum Beispiel vielen indigenen Communities?

Nur mal kurz den Wald retten

Dieser Frage muss sich auch Juliana Dib Rezende oft stellen. Sie ist Geschäftsführerin der Initiative Conexão Povos da Floresta, die sich, wie der Name sagt, für den Internetzugang der Regenwaldvölker einsetzt. Heute sitzt sie am Heck eines Wassertaxis inmitten einer bunten Gruppe Besucher*Innen und genießt die Morgensonne. Jemand spielt besser Gitarre als er singt. Zum Glück ist es die Kurzstrecke Santarém – Vista Alegre, diesmal in umgekehrter Richtung. Zwischen Styroporkisten mit Hühnerfleisch steht Julianas Gepäck, ein Karton mit einer mobilen Parabolantenne. Und wozu die gut ist, erzählt sie bald darauf einer interessierten Menge im palmgedeckten Gemeindehaus.

„Wir wollen alle Gemeinden des Amazonas zu einem großen Netzwerk verbinden. Die Gemeinden aller Indigenen, Afrobrasilianer*innen und Flussbewohner*innen des Amazonas“, beginnt sie ihre Ansprache. Und dann sagt sie, dass die ganze Welt diesen lebendigen Wald brauche, um auf diesem Planeten leben zu können. „Und ihr seid die Beschützer*innen dieses Waldes und dafür braucht ihr auch Internet, auf eine informierte, sichere und partizipative Weise. Alle sollen dabei mitentscheiden, welches Internet ihr wollt, von den Kleinsten bis zu den Ältesten.“

In Vista Alegre muss von dieser Vision niemand mehr überzeugt werden. Julianas Ansprache richtet sich eher an die heutigen Gäste, Bewohner*innen anderer Gemeinden aber auch Mitarbeitende aus Umweltorganisationen und NGOs. Sie alle sollen sich einen Blick machen können, wie gut der Plan hier aufgeht. Denn das Dorf war eines der Pilotprojekte von Conexao Povos da Floresta. Die Initiative will bis Ende 2025 über 5.000 Amazonasgemeinden mit schnellem Internet versorgen. Ein Plan, der alle bisherigen staatlichen und kommerziellen Projekte bei weitem überflügelt.

Solarenergie für digitale Inklusion

Sabrina Costa, die für die logistische Umsetzung dieser Vision verantwortlich ist und heute mit im Publikum sitzt, verrät gern, wie es ihr Team in zwei Jahren geschafft hat, bereits über 1.000 Gemeinden online zu bringen: „Wir wissen, dass in diesen Gebieten eine der größten Schwierigkeiten beim Zugang zum Internet und zur Kommunikation der Mangel an Strom ist. Deshalb arbeiten wir nicht nur an Konnektivität, sondern auch an der Solarenergie. Und ja, wir schlagen vor, ausschließlich Internet über Satelliten zu nutzen und dabei die derzeit am besten geeignete Technologie zu verwenden, um die Konnektivität in diesen Gebieten zu verbessern.“

Einen Ausweg aus diesem Dilemma versprechen Initiativen, die auf einen kontrollierten Internet-Zugang setzen. In Brasilien gibt dabei das Projekt Conexão Povos da Floresta den Ton an. Das heißt so viel wie Internetverbindung der Regenwaldvölker. Bis Ende 2025 will die Initiative tausende Amazonasgemeinden online bringen und für nachhaltige, digitale Inklusion sorgen. Ein ambitionierter Plan, den wir uns mal aus der Nähe angeschaut haben…

Starlink-Wars im Regenwald

Die derzeit beste Technologie heißt Starlink, made by Elon Musk. Der Einsatz ist nicht unumstritten. Wie ökologisch ist der Aufbau riesiger Satellitenkonstellationen im Orbit, die für den Service nötig sind? Kann ein solches Unterfangen nachhaltig wirtschaften? Operieren im Amazonas nicht auch illegale Goldsucher erfolgreich mit Starlink bei der rücksichtslosen Ausbeutung von Ressourcen? Dorfvorsteherin Ivanilse Souza Batista hört sich diese Kritik bei einem Spaziergang durch Vista Alegre ruhig an. Dann hält sie dagegen, dass dies keine Gründe sein, ihnen den Internetzugang zu verwehren. Die Technologie bedeute einen großen Fortschritt, denn „vorher konnten wir nur schwer kommunizieren. Bei Gesundheits- und Bildungsfragen, oder auch unser Tourismusangebot zu bewerben, war nie einfach.“ Nur mühsam hätte sich die Gemeinde über aktuelle Ereignisse informieren können. „Und bei Notsituationen mussten wir manchmal erst ins nächste Dorf rennen. Mit dem Internetanschluss hat sich vieles verändert. Ich würde sagen, das Projekt läuft zu 80 Prozent schon sehr gut.“

Was nicht so gut läuft, sei der kontrollierte Zugang zum Internet. Denn es gäbe schon viele Sachen im Internet, die für die Jugendlichen schädlich seien. „Trotz allem technischen Fortschritt ist das etwas, worum wir uns Sorgen machen“, sagt Ivanilda. „Denn die Jugendlichen heute können zwar viel im Internet dazu lernen, es wird dort aber auch ungefiltert alles gezeigt. Bei dem Projekt Conexão Povos da Floresta gibt es jetzt zumindest Passwörter, um das besser zu regulieren.“ Doch nicht immer funktioniert dieser regulierte Zugang reibungslos. Es wird gestritten, was gefiltert werden soll und was nicht. Wer kontrolliert wen, die Alten die Jungen? Ist Rapmusik per se verderblich? Irgendwie kommen einem diese Debatten bekannt vor…

Moderierter Zugang für eine moderate Nutzung

Für ein sicheres Surfen melden sich bei Conexão Povos da Floresta alle Nutzer*Innen über ein Zugangsportal an. Die lokale Community entscheidet, was blockiert wird. Doch die mobile App dafür funktioniert nicht immer fehlerfrei, sie filtert manchmal eher zu viel. Dann wird die ehrenamtliche Content-Moderatorin Claudete Kumaruara von Jugendlichen belagert, um das Master-Passwort für den direkten Zugriff herauszurücken. Doch da haben sie bei der verantwortungsbewussten Grundschullehrerin keine Chance. „Für mich bedeutet Inhalte zu moderieren, der Gemeinschaft zu helfen, sich im Internet zu bewegen, zu verstehen, wie man es am besten nutzt, wofür man Zeit aufwenden sollte und wofür eher nicht“, sagt sie entschieden. Es gehe darum, junge Leute zu ermutigen, das Netz zu nutzen, um zu lernen und um Informationen zu finden. „Und wir wollen so auch unser Tourismusangebot im Dorf nach außen hin bekannter machen.“

Im Community-Tourismus sehen die Bewohner*innen von Vista Alegra auch eine Chance, sich langfristig den Internet-Service leisten zu können. Analysten rechnen damit, dass Starlink die Gebühren für das Internet aus den Sternen schrittweise erhöhen wird, um kostendeckend zu arbeiten. Und bereits heute sind 50 Euro im Monat viel für die Gemeinde. Der Tourismus ist ein Saisongeschäft. Fische und Mandioka-Mehl zu verkaufen, macht niemanden reich. Zudem haben Dürren und massive Waldbrände die Einkünfte noch unsicherer gemacht.

Zunehmendes Extremwetter ist eine Gefahr

Das zunehmende Extremwetter ist eine Gefahr für Gemeinden wie Vista Alegre. Brände verschlangen im brasilianischen Amazonas 2024 eine Fläche halb so groß wie Deutschland. Angesichts dieser Bedrohung müssen vor allem indigene Gemeinden unterstützt werden, fordert Felipe Arrudo, Mitarbeiter am brasilianischen Institut für Amazonas- und Umweltforschung IPAM. Gerade ist er dabei, mit einigen Bewohner*innen aus Vista Alegra einen Sensor zu installieren, um die Luftqualität vor Ort zu messen. Denn auch wenn ein Dorf den Flammen entgeht – die Rauchbelastung durch nahe Feuer ist oft gesundheitsschädigend. Die Bewohner*innen sollten solche Situationen am besten selbst dokumentieren, meint Felipe, denn die Wissenschaft müsse in Partnerschaft mit den Menschen aus den traditionellen Gemeinschaften betrieben werden. „Wir müssen vor Ort sein, vor Ort fühlen und das Leben der Communities miterleben, die Realität abbilden, nicht einen Gedanken aus der Ferne, von Leuten, die woanders leben.“

Und für eine solche Zusammenarbeit sei Zugang zum Internet eben unverzichtbar. Das sei sehr schwierig, erfordere noch viele Fortschritte, „aber es geht voran“, findet Felipe von IPAM. „Dank des Internets können wir Umweltdaten auswerten, die wir täglich produzieren, darunter auch die Daten zur Luftqualität. Die zu erheben, ist sehr wichtig, denn schlechte Luft kann zu Gesundheitsproblemen führen.“ Dank der Sensoren und dem Internet werden Gemeinden, die unter dem Rauch von Waldbränden leiden, künftig schneller staatliche Hilfe anfordern können. Zugleich werden die Bewohner*innen befähigt, ihre Territorien besser zu überwachen und aktiv Umweltdaten zu generieren. Diese Arbeit müsse anerkannt werden, fordert Felipe, und sei es durch eine Kostenübernahme des Internetzugangs.

Musk, derzeit das unvermeidliche Übel…

Elon Musk würde das natürlich freuen, andere raten, sich beim Online-Zugang nicht so abhängig von einer Technologie zu machen. Auch im Netzwerk Conexao Povos da Floresta gehen die Meinungen auseinander. Manche der beteiligten NGOs, Banken und Umweltorganisationen drängen die Regierung dazu, den Ausbau des Glasfasernetzes zu stoppen und ganz auf eine staatlich-private Partnerschaft mit Musk zu setzen. Andere, wie Felipe von IPAM sind da skeptisch bis pragmatisch: „Wir arbeiten im Moment einfach mit der Technologie, die wir zu Verfügung haben. Wenn wir bessere, inklusivere und diversere Tools hätten, würden wir die nehmen, ganz egal von welchem Unternehmen.“

Inzwischen hat die brasilianische Regulierungsbehörde neue Anbieter lizensiert, die es bald mit Starlink aufnehmen wollen. Auch bereits etablierte Unternehmen entdecken gerade die Amazonasbevölkerung als potenzielle neue Kundschaft. Doch ob sich der kommerzielle Betrieb rechnet, weiß niemand zu sagen. Claudette aus Vista Alegre empfindet das Internet trotz aller Kritik als unverzichtbar, um ein selbstbestimmtes Leben im Regenwald dauerhaft zu sichern: „Wir kombinieren diese neuen Technologien mit unserem überlieferten Wissen“, sagt sie und zeigt auf einige ihrer Schüler, die mit dem Smartphone für ihre Hausaufgaben recherchieren. „In der Dorfschule nutzen wir das Internet auch, um herauszufinden, wie andere Gemeinden sich organisieren und was uns für unseren Kampf als Indigene und für den Amazonas nützlich sein kann. Unsere Jugendlichen müssen wissen, was in der Welt geschieht und wie sie sie verändern können.“ Das Internet sei gekommen, um zu bleiben.

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