Anmerkung der Übersetzerin: Dieser Artikel wurde am 16.1.2025 veröffentlicht, seither hat sich vieles weiter bewegt, aber die Analyse bleibt lesenswert.
Die Entschlossenheit des palästinensischen Volkes und seines Widerstands hat die israelische Besatzung gezwungen, die eigenen Bedingungen zu akzeptieren: Waffenstillstand, Gefangenenaustausch, Rückzug der israelischen Streitkräfte und Rückkehr der Flüchtlinge in den nördlichen Gazastreifen. Nach mehr als 15 Monaten Völkermord in Palästina haben sich die Hamas und Israel auf ein Waffenstillstandsabkommen geeinigt, das am Sonntag, den 19. Januar 2025, um 12.15 Uhr in Kraft treten soll. Die Konfliktparteien haben drei Tage Zeit, um das Abkommen zu ratifizieren. In einer Pressemitteilung vom 15. Januar 2025 erklärt die Hamas, dass sie den Vermittelnden ihre Antwort auf das vorgeschlagene Waffenstillstandsabkommen gegeben hat. Das Politische Büro der Bewegung hielt eine außerordentliche Sitzung ab, um den Vorschlag der Vermittelnden zu diskutieren, „ mit dem die zionistische Aggression gestoppt und die anhaltenden Massaker und der Vernichtungskrieg beendet werden sollen“.
Die Bedingungen für den Waffenstillstand seien folgende:
– GEFANGENENAUSTAUSCH: Israelische Gefangene, die sich in den Händen des palästinensischen Widerstands befinden, werden gegen palästinensische politische Gefangene ausgetauscht, darunter Hunderte, die zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Bisher hatte die Regierung Netanyahu den Gefangenenaustausch kategorisch abgelehnt und es darauf angelegt, die israelischen Gefangenen im Gazastreifen mit Gewalt oder im Austausch gegen einen Waffenstillstand ohne Garantien zurückzuholen.
– RÜCKZUG DER ISRAELISCHEN STREITKRÄFTE: Die israelische Armee wird sich während der Waffenstillstandsphasen aus dem Gaza-Streifen zurückziehen. Der Rückzug wird auch die Netzarim-Achse einschließen, die den Streifen halbiert, sowie die Philadelphia-Achse, die den Gazastreifen von Ägypten trennt.
– RÜCKKEHR DER FLÜCHTLINGE IN DEN NORDEN: Der Plan der ethnischen Säuberung, um den nördlichen Gazastreifen zu räumen, wurde abgelehnt. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Vertriebenen aus dem nördlichen Gazastreifen, die in den Süden gedrängt wurden, ohne Einschränkungen zurückkehren dürfen.
– EINREISE FÜR HUMANITÄRE HILFE: Bislang wurde humanitäre Hilfe als Druckmittel gegen Palästinenserinnen und Palästinenser, insbesondere diejenigen im Norden, eingesetzt. Die Hilfslieferungen werden in einem vereinbarten Rhythmus wieder aufgenommen und erreichen auch den Norden des Gazastreifens.
Einen Moment lang schien dieses Abkommen von Israel akzeptiert zu werden, wodurch die Zerschlagung der erklärten Ziele der Besatzung besiegelt wurde, nämlich die Auslöschung der Widerstandskräfte, die militärische Besetzung des Gazastreifens und die bedingungslose Übergabe der israelischen Gefangenen des Widerstands. Doch innerhalb der Regierung Netanjahu war die Debatte hitzig: Finanzminister Smotrich, Vertreter des religiös-fundamentalistischen Zionismus, verlangte im Gegenzug für seine Unterstützung Garantien für die territoriale Ausdehnung Israels im Westjordanland; Minister Itamar Ben Gvir, Vertreter der zionistischen Ultrarechten, drohte damit, die Rechtskoalition zur Unterstützung Netanjahus zu verlassen, wenn dieser Waffenstillstand in Kraft träte. Damit gerät die Ratifizierung durch die israelische Regierung, die heute stattfinden sollte, erneut ins Stocken. Netanjahu: ‚Kein Druck auf palästinensische Gefangene‘. Blinken: ‚Wir erwarten, dass das Gaza-Abkommen am Sonntag beginnt‘. Ab dem sechzehnten Tag des Waffenstillstands sollen die Hamas und Israel über die dritte Phase des Abkommens sprechen, was derzeit alles andere als gesichert ist.
Wie das Büro des israelischen Premierministers Netanjahu heute mitteilte, habe die Hamas Teile des Abkommens abgelehnt. Das Kabinett werde erst zusammentreten, wenn die Vermittler verkünden, dass die Hamas alle Teile des Abkommens akzeptiert habe. Die Antwort der Hamas über Izzat al-Rashak lautete: „Wir werden uns an das Abkommen halten.“
Nach Angaben des Zivilschutzes im Gazastreifen wurden seit der Ankündigung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas mehr als 80 Menschen bei israelischen Angriffen und Beschuss im Gazastreifen getötet, während Israel mit dem Ausbau ziviler Siedlungen auf dem syrischen Golan beginnt. De facto beschuldigt Israel die Hamas, aber es ist die israelische Regierung, die eklatant gegen die Bedingungen des Waffenstillstands verstoßen hat, indem sie ihn noch gar nicht ratifiziert hat.
Bis heute hat sich das Waffenstillstands in seinen Voraussetzungen als übelriechend erwiesen, aus vielen Gründen:
– Trotz des vorgeschlagenen „Waffenstillstands“ geht die zionistische koloniale Besetzung Palästinas, die seit über 76 Jahren andauert, weiter;
– der vorgeschlagene Waffenstillstand kann nicht über die unermessliche menschliche Tragödie hinwegtäuschen, die sich im Gazastreifen abgespielt hat: Zehntausende getötete Palästinenser:innen, Hunderttausende Verletzte, eine zerstörte Infrastruktur, ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem, Belagerung und extrem prekäre Lebensbedingungen für mehr als 2 Millionen Palästinenser:innen;
– Im Westjordanland baut die israelische Besatzung ihre Kolonien durch illegale Siedlungspläne weiter aus – mit voller Unterstützung der neuen US-Regierung – und verfolgt weiterhin ihre Bestrebungen, den Widerstand zu brechen;
– Während der Austausch mit israelischen Gefangenen erwogen wird, werden die palästinensischen Gefangenen und insbesondere Marwan Barghuthi vergessen;
– Während die Angriffe, Tötungen, Zerstörungen und Verhaftungen durch die israelische Armee weitergehen, erfüllt die sogenannte „Palästinensische Autonomiebehörde“ (die inzwischen auf eine kommunale Verwaltung reduziert ist) durch ihre „Sicherheitskooperation“ mit der Besatzungsmacht weiterhin die Funktion, für die sie konzipiert wurde: die Sicherheit Israels zu gewährleisten und palästinensische Widerständige zu töten und zu verhaften; ein Beispiel dafür ist die Belagerung des Flüchtlingslagers Dschenin seit Anfang Dezember 2023.
– Laut The Lancet ist die Zahl der Opfer im Gazastreifen 40 % höher als die vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Zahlen. Nach diesen Berechnungen wären es also nicht 46.000, sondern rund 90.000 bisher ermittelte Tote, zuzüglich einer riesigen und nicht näher bezifferten Zahl von Menschen, die unter Trümmern begraben wurden und durch kleine Nuklearsprengsätze, die das israelische Völkermordkommando eingesetzt hat, verdampft sind. So kommen wir, wenn wir die gesicherten Toten, die Verschütteten und Verdampften, die Verwundeten und Vermissten alle zusammen zählen, vielleicht auf ein Fünftel der Gesamtbevölkerung von Gaza? Das ist im Verhältnis so, als ob 150 Millionen Europäerinnen und Europäer ausgerottet, verwundet oder verschwunden wären. Eine regelrechte Ausrottung.
Wir sollten uns also von jeglichem Triumphalismus distanzieren, denn es ist eine Sache, bei der vorgeschlagenen Einstellung der Kämpfe aufzuatmen, eine ganz andere aber, gleich den Sieg zu besingen. Der Gazastreifen ist dem Erdboden gleichgemacht, gleichzeitig ist Israel intern völlig gespalten und befindet sich in seiner internationalen Beliebtheit auf einem historischen Tiefpunkt, auch wenn es die Zustimmung von mehr Europaabgeordneten als je zuvor erhalten hat. Wenn dies die Voraussetzungen für einen Sieg sind, haben alle verloren. Die Jubelszenen verwundern mich nach wie vor. Es stimmt zwar, dass das Gemetzel aufhören könnte, aber es ist immer noch da, schwelend, und die kürzlich getöteten Kinder sind Zeugen davon. Es wäre ein Sieg für wen? Für Pyrrhus?
Es ist daher notwendig, angesichts der Gefahr von Waffenstillstandsverletzungen durch Israel wachsam zu bleiben, weiterhin zur Unterstützung des palästinensischen Volkes, insbesondere in Gaza, zu mobilisieren und durch Kampagnen für den Wiederaufbau der Infrastruktur und des Gesundheitssystems zum Widerstand des palästinensischen Volkes beizutragen.
In den vergangenen 15 Monaten hat die Solidarität mit dem palästinensischen Volk entscheidend dazu beigetragen, die von Israel begangenen Gräueltaten anzuprangern und die mitschuldigen, Israel unterstützenden Regierungen zu entlarven. Es ist jedoch notwendig, die menschliche Solidarität in politisches Engagement umzuwandeln, das den imperialistischen Charakter der zionistischen Aggression und die wahre Rolle Italiens offenlegt: Italien ist gegen den Frieden in Palästina. Tatsächlich unterstützt Italien zusammen mit den anderen NATO-Ländern und Israels Verbündeten Israel weiterhin, indem es die eigenen Militärausgaben erhöht und gleichzeitig Sozialausgaben kürzt und Mittel für Gesundheit und Bildung streicht. Wir müssen uns unbedingt weiter bemühen, den italienischen Massen klar zu machen, dass auch sie über Teuerung und Kürzungen die Kosten für die koloniale Aggression gegen das palästinensische Volk zahlen.
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!