Vor zehn Jahren überfielen islamistische Terroristen die Redaktion der satirischen Zeitschrift »Charlie Hebdo« und ermordeten zwölf Menschen. Der Anschlag wurde zum Symbol für die Auseinandersetzung zwischen dem militanten Islam und dem kritischen Geist der Aufklärung. Wo stehen wir heute?

Von Helmut Ortner

Am 7. Januar 2015 sprangen zwei mit Kalaschnikows bewaffnete moslemische Terroristen vor dem Pariser Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo aus dem Auto, zwangen die Zeichnerin Coco zur Herausgabe des Sicherheitscodes und stürmten in den zweiten Stock. Dort töteten sie zwölf Menschen: Redaktionspersonal, den Chefredakteur Stéphane Charbonnier, einen Polizisten, der ihn bewachte, und sie verletzten mindestens 20 Personen, zum Teil schwer. Während der Tat riefen sie „Allahu Akbar” („Gott ist am Größten”) und „Wir haben den Propheten gerächt”. Ein Großteil der Redaktion war damit ermordet.

Frankreich stand unter Schock. Noch am Abend des Attentats kam es in Paris und weiteren Städten zu Solidaritäts-Demonstrationen, an denen sich bis zu 40.000 Menschen beteiligten. Der Spruch »Je Suis Charlie« – »Ich bin Charlie« verbreitete sich auf tausenden Plakaten überall im Land.

Charlie Hebdo war (und ist) eine Satire-Wochenschrift mit notorisch deftigen, »geschmacklosen« Humor – die sich gegen Autoritäten, den rechtsextremen Front National, vor allem aber gegen religiöse Fanatiker und Fundamentalisten jeglicher Couleur richtet. Das Redaktionsteam bezeichnet sich selbst ironisch als „verantwortungslos” – und erfreut (damals wie heute) damit seine begeisterte Leserschaft. Doch viele kritisieren Form und Ton.

Sie machten Charlie Hebdo letztlich selbst für das mörderische Inferno verantwortlich, weil es unter dem „Deckmantel der Meinungsfreiheit“ die Gefühle von Gläubigen verletze, sich über Religionen lächerlich mache. Solche Einwürfe kamen nicht allein konservativen Glaubensverwaltern und der politischen Rechten. Auch von linken Intellektuellen und Medien wurde das Recht auf Kritik an Gott und anderen „heiligen“ Autoritäten infrage gestellt. Sie warfen Charlie Hebdo vor, rassistisch zu sein und den Glauben der Schwächsten zu verhöhnen – und damit vor allem viele muslemischen Einwanderer zu erniedrigen.

Die Redaktion von Charlie Hebdo reagierte damals mit einer ironischen Paradoxie. Gerade einmal eine Woche nach dem grauenvollen Massaker erschien in hundertausendfacher Auflage eine Ausgabe mit einem traurig dreinschauenden Propheten auf dem Cover, der ein Schild hält: „Je Suis Charlie«, darüber die Überschrift „Tout est parddonné ” (Alles ist vergeben”). Gläubige Moslems kritisierten das Cover, weil man Mohammed nicht darstellen dürfe. An diesem Bild wird bis heute festgehalten: Weltweit rechtfertigt ein erheblicher Teil der Islamisten Gewalt und Terror wegen angeblicher Herabwürdigung des Korans oder des islamischen Propheten Mohammed.

Wo aber kämen wir hin, fragt Richard Malka, der als Anwalt die Interessen von Charlie Hebdo vertritt – und deshalb seit Jahren unter Polizeischutz steht. wenn wir es vom Einverständnis religiöser Fanatiker abhängig machen würden, ob ein Kunstwerk, ein Theaterstück, ein Film gezeigt werden darf oder nicht, weil er angeblich den Propheten Mohammad herabstuft, beleidigt oder der Lächerlichkeit preisgibt? In einem seinem Schluss-Plädoyer, das er 2020 im Prozess gegen die Komplizen der Attentäter vor dem Sonderstrafgerichtshof in Paris gehalten hat, forderte er die Ideologen und dienstbaren Geister des Terrors auf, mit ihren Bemühungen aufzuhören, für den Islam Sonderrechte zu beanspruchen. „Die Kunst- und Meinungsfreiheit kann in einer offenen, demokratischen Gesellschaft nicht aus Rücksicht auf religiöse Fanatiker eingeschränkt werden, dies kommt einer Belohnung gleich”. Nicht Religionskritik störe den öffentlichen Frieden, sondern Glaubensfanatiker, die „unsere Freiheiten verachten, die alle Ungläubigen und Andersgläubigen hassen, vor allem die, die sich erlauben, über ihren Propheten zu lachen, ihn zu karikieren”, so Malka. Zehn Jahre nach dem Attentat ist sein Plädoyer auch eine empathische Anklage gegen Gleichmut und Gleichgültigkeit. Vor allem aber eine fulminante Verteidigung der Meinungsfreiheit und des Rechts, sich über Gott lächerlich zu machen – falls es ihn gibt.

Die Charlie Hebdo-Redaktion jedenfalls bleibt ihren Grundsätzen treu. Sie gibt sich weiterhin wie gewohnt »verantwortungslos« und hat gerade einen Wettbewerb für die besten anti-religiösen Karikaturen ausgeschrieben. Der Wettbewerb richte sich „an diejenigen, die es satthaben, in einer von Gott und Religion regierten Welt zu leben”, schreibt das Redaktionsteam und ermuntert ihre Leserschaft dazu, „ihrer Wut über den Einfluss der Religionen auf ihre Freiheiten Luft zu machen“.

Zehn Jahre nach dem Attentat stellt sich die Frage, sind wir noch Charlie? Ist die Solidarität mit den Spöttern noch vorhanden oder durch weitere Attentate abgestumpft statt mobilisiert worden? (Nach Charlie Hebdo erfolgten in Frankreich weitere, zum Teil schwere Anschläge, wie jene im November 2015 auf die Pariser Konzerthalle Bataclan, sowie an verschiedenen Orten, bei denen 130 Menschen getötet und 683 verletzt wurden, darunter mindestens 97 schwer). Oder hat ein Umdenken eingesetzt? Darf Spott und Satire, entgegen dem Diktum Kurt Tucholskys, doch nicht alles? Oder hat die Meinungsfreiheit, also auch über das Heiligste religiöser Menschen zu spotten, als ein Grundpfeiler westlicher Lebensweise weiterhin Vorrang?

Jenseits der Betroffenheitsrituale aus der Politik, das übliche Geraune: die einen warnen vor der drohenden »Islamisierung« und dem »Bevölkerungsaustausch«, andere reden vom »Dialog« mit den Muslimen und verurteilen »verantwortungslosen« Spott und Hohn, gegenüber den Religionen. Danach nimmt alles seinen Lauf – und Charlie Hebdo erscheint Woche für Woche, immer mittwochs – mittlerweile wieder in einer überschaubaren Auflage.

Sind wir noch Charlie Hebdo? Zum 10. Jahrestag starten religionskritische Gruppen unterstützt von der Giordano-Bruno-Stiftung eine »Free Charlie!«-Kampagne, die für die Abschaffung des »Gotteslästerungsparagrafen« 166 StGB eintritt. Ihre unmissverständliche Botschaft: »Fundamentalisten können Satiriker töten – nicht aber die Satire selbst!«

„Sinn für Humor zählt gewiss nicht zu den größten Stärken religiöser Fundamentalisten”, meint der Philosoph Michael Schmidt-Salomon, der das Drehbuch für den »Free Charlie!«-Film verfasst hat: „Je krasser die Differenz zwischen gewolltem Schein und realem Sein ausfällt, desto größer ist der komische Effekt – und aus diesem Grund liefert die Religion seit jeher der Satire die größten Lacher. Denn nirgends ist das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit, von verkündeter Wahrheit und praktiziertem Schwindel, von weltfremdem Ideal und gemeinem Alltag so offensichtlich wie im Fall der Religion,“ sagt Schmidt-Salomon. In diesem Sinne sollten wir alle wieder deutlicher, lauter und engagierter Charlie Hebdo werden. Das sind wir nicht nur den Opfern vom 7. Januar 2015 schuldig.

»Free Charlie!«-Kampagne»

Der Film: »Free Charlie!« von Ricarda Hinz auf gbs-YouTube-Kanal

Das Buch: Free Charlie! – Satire kann man nicht töten, Alibri Verlag, 132 Seiten, 15 Euro