Rafael de la Rubia ist der Initiator und Koordinator des Weltmarschs für Frieden und Gewaltfreiheit. Als langjähriger Aktivist, Humanist und Verfechter der Gewaltfreiheit engagiert er sich weltweit für eine friedliche und gerechte Gesellschaft. Mit seinen Erfahrungen aus verschiedenen Kontinenten und Bewegungen setzt er sich für den Dialog und die Lösung von Konflikten ohne Gewalt ein.

Das Interview mit Rafael de la Rubia fand am 15. November 2024 in der Flussschifferkirche in Hamburg statt und wurde von Sibylle Hoffmann geführt sowie von Angelika Klatte übersetzt.

Wie wird die Zukunft des Weltmarschs für Frieden Gewaltfreiheit sein?

Die Zukunft des Weltmarschs hat sehr viel mit der Gegenwart zu tun. Zurzeit haben wir eine Situation in der Welt, wo die Positionen immer extremer werden und die Unterschiede immer deutlicher, auch wirtschaftlich. Als Menschheit müssen wir entscheiden, was ist uns wichtiger: Der Mensch oder die Wirtschaft?

Was spielen Frieden, Wirtschaft und Gewaltfreiheit für eine Rolle dabei?

Frieden ist ein Begriff, der auf das Thema physische Gewalt zielt. Wollen wir eine Zukunft – oder wollen wir alle Voraussetzungen für eine Zukunft auslöschen? Der Mensch hat inzwischen die Fähigkeit, alles Leben auszulöschen. Hat ein Land Atomwaffen, müssen alle anderen sich danach richten. Heute haben wir neun Länder, die über Atombomben verfügen. Und in den nächsten 10, 20, 30 Jahren? Wie viele Nationen werden Atombomben besitzen? Werden wir lernen, Konflikte friedlich zu lösen, oder bringen wir uns selbst als Spezies um?

Das Problem ist doch, dass die Kriegswirtschaft die Ökonomie bestimmt.

Das kommt darauf an: Ein Mann, zum Beispiel, der neunzig Jahre alt ist und noch nie eine Pille genommen hat, ist heute der absolute Ruin für das System. Die Pharmaindustrie ist nicht daran interessiert, dass wir geheilt werden, sondern will, dass wir möglichst viele pharmazeutische Produkte im Laufe unseres Lebens zu uns nehmen. In der traditionellen Medizin Chinas wurde ein Arzt am besten bezahlt, wenn der Mensch gesund blieb. Wurde ein Patient schwer krank, hat man den Arzt schlechter bezahlt. Das heißt, dass die Ärzte sich damals anstrengten, um ihre Patienten gesund zu halten. Das ist ein Beispiel. Heute geht es aber um den Verkauf von pharmazeutischen Produkten. Das ist ein Wettbewerbsdschungel. Da überlebt nur der Stärkste.

Die Völker müssten sich also anstrengen, Frieden zu halten und keine Kriegsgüter mehr zu produzieren, kaufen, horten, verkaufen. Wie können wir uns für Frieden und Gewaltfreiheit einsetzen?

Zuerst muss man sich gut informieren, was Gewaltfreiheit bedeutet. Das Wort kennt man kaum. Ich komme gerade aus Indien, aus Sri Lanka, aus Nepal – und auch dort kennt man das Konzept der Gewaltfreiheit nicht. Gewalt ist nicht nur physisch. Es gibt soziale, rassistische, religiöse, wirtschaftliche, psychologische, moralische Gewalt, und es gibt Gewalt zwischen Geschlechtern. All diese verschiedenen Arten von Gewalt in der Gesellschaft muss man erkennen. Auch in der Presse gibt es Gewalt. Wenn bei einer friedlichen Demonstration mit hunderttausend Menschen ein paar Personen, ein Auto anzünden, dann wird über diese paar Unruhestifter so berichtet, dass der Eindruck entsteht, die Mehrheit der Demonstranten hätte Feuer gelegt und Autos zerstört, als sei es insgesamt eine blutige Demo gewesen. Die Presse beleuchtet dann nur diesen Aspekt und verunglimpft damit die Demonstration.

Welche Empfehlung hast du für die junge Generation?

Ich gehöre zu der Generation der Weißhaarigen (lacht). Die junge Generation hat eine ganz andere Sozialisation: Sie schaut zum Beispiel kaum Fernsehen, sie sind in sozialen Netzwerken unterwegs. Ich glaube, dass die jungen Leute eine wichtige Veränderung in der Gesellschaft erzeugen können. Besonders in Südamerika und in Asien engagieren sich viele junge Leute für ein besseres Leben. Im Allgemeinen verstehen sie viel mehr von Gewaltfreiheit als unsere Generation und agieren ohne die Lasten, die wir als Ältere mit uns tragen.

Was hat dich veranlasst, den Weltfriedensmarsch in Bewegung zu setzen?

Das war ein sehr komplexer Prozess. Ich habe in Südamerika gelebt und nach dem Staatsstreich in Chile unter Pinochet hat man mich als spanischen Kriegsdienstverweigerer verurteilt. Mehrmals wurde ich ins Gefängnis gesperrt und bin schließlich in Russland gelandet. Ich erfuhr dann auch, dass mein Vater in Spanien gegen seinen eigenen Vater gekämpft hat, und so habe ich gelernt, dass Kriege irrational sind. Kriege zerstören die Menschheit, sie müssen aufhören.

Der erste Weltmarsch ist 15 Jahre her. Was hat sich seitdem geändert?

Es hat sich sehr viel geändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir in Europa Krieg haben würden. Die Weltuntergangsuhr sagt: Das ist der schlimmste Moment der Menschheit. Es muss jeder einzelne etwas gegen den Krieg tun, wir können nicht mehr auf irgendetwas warten. Wir müssen uns umschauen, in der Familie, überall. Jeder Einzelne kann etwas tun. Vielleicht nur wenig, aber etwas. Nimm dir 10 Minuten in der Woche, in dem du ausdrücklich deinen Beitrag zum Frieden leistest.

Dass Kriegsgegner sich für Frieden einsetzen, ist klar. Hat sich denn zum Beispiel seit dem ersten Weltmarsch etwas geändert?

In einigen Bereichen hat man verstanden, dass eine Forderung nach Frieden nicht ausreicht. Wir brauchen auch Gewaltfreiheit. Die Gewaltfreiheit ist im Sozialen noch nicht entwickelt. Es gibt Kriegsgegner, die sich „Pazifisten“ nennen, die Waffen nach Palästina und in die Ukraine schicken. Was sind das für Pazifisten? Sie müssen verstehen, dass die Gewaltfreiheit das Entscheidende ist!

Wenn ich in Deutschland öffentlich sagen möchte, dass ich für einen gewaltfreien Pazifismus bin, dass ich dafür bin, die Waffenexporte in die Ukraine und nach Israel zu stoppen, dann darf ich, an einer Schule zum Beispiel, nicht sprechen.

Das ist das Problem mit den Massenmedien. Das ist die Meinung, die sie in der Gesellschaft verbreiten. In Europa werden wir gezwungen, die Meinung der USA zu übernehmen. In Spanien ist es so, in Deutschland ist dieser Druck noch stärker.

Gibt es besonders inspirierende Momente, für den Frieden und die Gewaltfreiheit einzutreten?

Ja! Indem ich mit Menschen spreche und erfahre, was sie wirklich wollen. Wir wollen in einer Demokratie leben, aber wir setzen uns nicht durch. Die Menschen wollen in Frieden leben. Das haben wir gesehen, nachdem wir nun dreimal um die Welt gereist sind.

Möchtest du noch etwas sagen?

Ja: Wir müssen immer wieder, jeder für sich, entscheiden: Geht es um die Wirtschaft oder um die Menschen? Wir sind die Gattung homo sapiens, und wir sind die einzige Spezies, die bereit steht, sich selbst zu vernichten. Genozide unter Menschen sind schon mehrfach geschehen. Die Menschheit wird aber als Spezies nur überleben, wenn sie lernt, Konflikte friedlich zu lösen.