Ich komme am 23. Dezember spätabends in Odessa an. Zu Fuß erreiche ich meine Unterkunft und verschaffe mir den Einlass dank einer Anleitung, die die junge Zimmerverwalterin mir geschickt hat. Dann breche ich todmüde zusammen.

Erst am nächsten Morgen bemerke ich, wie alt und baufällig dieses Gebäude ist, das sehr zentral gegenüber der Spaso-Preobrazhensky-Kathedrale liegt. Sie ist erst seit kurzem wieder für die Öffentlichkeit zugänglich: Zwei Raketen haben sie zerstört, und Restaurierungsarbeiten sind immer noch im Gange.

Die Kathedrale ist die deutlichste Wunde des Krieges in Odessa, und bald wird sie vollkommen verschwunden sein, wie die Geschichte der Brücke von Mostar uns zeigt und das Ereignis von Notre Dame in Paris und auch der Campanile von Venedig, in den ein Blitz eingeschlagen hat. Wir Menschen sind besonders gut im Wiederaufrichten. Es ist eine Herausforderung, der wir uns nie entziehen.

Viel besser und schneller sind wir leider im Zerstören. Doch auch wenn die Bauwerke sich wieder aufbauen lassen, die zerstörten Leben kann man nicht einfach wiederaufbauen. Man braucht viel mehr Zeit, um die seelischen Wunden all derer zu lindern und zu heilen, die einen Vater, Bruder, Ehemann, Freund oder Kameraden verloren haben.

Der Krieg in Odessa begann am 2. Mai 2014 – das heißt schon lange vor der russischen Aggression – mit den schrecklichen Straßenschlachten, die von Extremisten verübt wurden. Sie waren in Massen von weit her angereist, um die Stadt mit militärischen Mitteln zu erobern. Bis dahin war sie seit ihrer Gründung ein Beispiel für das Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Muttersprachen und Religionen gewesen. (Darunter gab es sogar eine kleine, aber blühende italienische Gemeinde, zu der berühmte Architekten gehörten, die von Zarin Katharina II. berufen worden waren, um die Plätze und Gebäude des historischen Zentrums zu entwerfen).

Ziel der Straßenschlachten war, ein Zusammenleben unmöglich zu machen, die Überlebenden in Angst und Schrecken zu versetzen und sie in die Flucht zu treiben. Und genau das ist großenteils auch geschehen. Der Brand des Gewerkschaftshauses damals wirkte – ebenso wie seinerzeit die geplanten Massaker in Sarajevo.

Ein Zusammenleben, das Jahrhunderte lang gehalten hatte, wurde in wenigen Tagen zerstört; ich frage mich, wie lange es dauert, so ein soziales Menschenwerk wieder herzustellen, das jetzt von einem Jahre andauernden Krieg vollständig zerrissen ist. Er hat als Bürgerkrieg begonnen und ist inzwischen zu einem sogenannten Stückwerk-Weltkrieg auf dem Schachbrett der internationalen geopolitischen Interessen geworden.

In Odessa gibt es bedeutende Museen, das vielleicht berühmteste ist das Museum für westliche und orientalische Kunst, das 1923 während der Sowjetzeit gegründet wurde. Man wollte einen Ort schaffen für die unfassbar große Zahl an Kunstwerken, die sich in den Villen der sehr reichen und kosmopolitischen oberen Mittelschicht Odessas in den frühen Jahren der Revolution von 1917 fanden.

Das Museum ist geöffnet, die Fenster aber sind mit Holzbrettern vernagelt. Natürlich sind die wertvollsten Werke (Gemälde von Caravaggio, Guercino und Rubens) nicht ausgestellt, sondern werden in einem Lagerhaus gesichert aufbewahrt.

So ist es auch mit dem Archäologischen Museum, das gegründet wurde, um die wertvollen Funde aus der antiken griechischen Kolonie am Schwarzen Meer und des Achillestempels auszustellen. Die Ausstellungsfläche ist deutlich verkleinert. Meine Führerin ist eine junge leidenschaftliche Archäologin.

Unter einem Monument, das Puschkin gewidmet ist, treffe ich einen alten Herrn, der mit mir sprechen mag.

 

Ist das Puschkin? frage ich, um sicher zu sein.

“Ja, ein großer Dichter und Autor von Romanen, aber ein Russe. Man sagt, seine Statue sollte hier nicht stehen.“

„Der Krieg ist schrecklich“, erwidere ich.

„Genau. Er ist schrecklich, aber woher kommen Sie?“

„Aus Italien.”

“Oh, ein Italiener!” Er drückt mir die Hand und verschwindet.

An einer Wand hängen viele Zeichnungen: Sie sind von Kriegspropaganda durchdrungen, scheint mir, aber zwei stechen besonders hervor: Eine ist die Neuinterpretation eines Gemäldes von Chagall, in dem eine anfliegende Rakete die romantische Bildatmosphäre stört, während in der anderen Zeichnung eine Mutter versucht, ihren Sohn vor den Schrecken des Krieges zu beschützen.

Sobald ich die Potemkinsche Treppe erreiche, schaue ich auf meinem Handy die berühmte Szene der grausamen Repressionen an, mit dem die Treppe unaufhaltsam hinunterstürzenden Kinderwagen aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergei Michailowitsch Eisenstein aus dem Jahr 1925. Plötzlich unterbricht der düstere Ton einer Sirene die Ruhe. Niemand scheint von ihrer grauenhaften Warnung wirklich beunruhigt zu sein und das Leben geht weiter seinen Gang. Ich betrete eine überfüllte Bar, um einen Kaffee zu holen.

Angelockt von Zigeunermusik kehre ich zum Abendessen mit Bier und Kebab ein. Die Musik wechselt. Ergreifende patriotische Lieder erklingen.

Am Tisch neben mir sitzen vier Typen in den Zwanzigern, trinken Bier und albern miteinander herum. Sie lächeln dem Mädchen, das ihre Bestellung aufnimmt, freundlich zu, dann stehen zwei von ihnen auf und gehen zur Toilette. Sie hüpfen auf Krücken: Der Erste hat nur ein Bein und dem Zweiten fehlt ein Fuß. Ich drehe mich um und sehe, dass der Dritte auch nur ein Bein hat. Der Vierte liegt halb versteckt in einer Ecke. Ich schaue sofort weg, weil ich nicht indiskret sein möchte.

Ich denke an die vielen Kriegstreiber in unserem Land, die den Krieg anheizen, anstatt alles zu tun, um ihn zu stoppen: Hätten sie ihre Kinder zur Schlachtbank geschickt? Dann wären sie zwar schreckliche Väter, aber vielleicht wahrhaftige Patriarchen, bereit, ihre Kinder dem Moloch des Krieges zu opfern.

Es ist Zeit, diesem unnützen und sinnlosen Blutbad ein Ende zu setzen und anzufangen, Wunden zu versorgen. Es sind Waffen aller Art eingetroffen, und zwar viel zu viele; denken wir lieber daran, Frieden zu schaffen. Beginnen wir damit, hochmoderne künstliche Gliedmaßen denjenigen zu schicken, die ihre natürlichen verloren haben.

In der Unterkunft will ich ein Glas Leitungswasser trinken; aus Vorsicht schicke ich der Servicedame eine Nachricht. „Ist das Wasser aus der Leitung trinkbar?“

Die Antwort kommt sofort: “Nein, du musst es erst abkochen.“

Das ist der Krieg: Hochtechnologische Waffen, und das Leitungswasser muss man wie vor hundert Jahren abkochen, so wie heute noch in den ärmsten und verzweifeltsten Ländern der Welt, weil die Wasserversorgung dort nicht ausreicht. Es ist schon ein Glück, hier in Odessa zu sein, denn überall gibt es in Flaschen abgefülltes Wasser zu kaufen, während die Menschen in Gaza in diesem Augenblick beginnen zu verdursten, weil es kein Trinkwasser gibt, und das Brackwasser kann wegen unbrauchbar gewordener Entsalzungsanlagen nicht gereinigt werden.

Mein Zimmer ist warm und gemütlich und zurzeit ist es auch draußen völlig ruhig.

Steht der Krieg zur Heiligen Nacht still?

Vielleicht. Also sollten wir verhindern, dass er wieder losgeht und dafür sorgen, dass die Wafferuhe zu einem de facto vereinbarten Waffenstillstand wird, dem ersten Schritt, der zu einem echten Frieden führt. Das erfordert Zeit und Geduld, denn er muss zwischen Feinden aufgebaut werden, die bis eben noch aufeinander geschossen haben.

Fotos von Mauro Zanella

Mauro Carlo Zanella lebt seit mehr als dreißig Jahren in Rom und ist Grundschullehrer in „Trullo“, einem historischen, multiethnischen Viertel Roms. Zanella ist Kriegsdienstverweigerer und seit vielen Jahren Friedensaktivist in unterschiedlichen Organisationen, darunter Pax Christi.

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Sibylle Hoffmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!