Das Militär habe «Regeln» zum Töten von Frauen, Kindern und anderen Zivilpersonen gelockert, schreibt die «New York Times».

Zum Töten eines Hamas-Mitglieds – selbst von mittlerem Rang – dürfen bis zu zwanzig Zivilpersonen umgebracht werden. Diese «Regel» führte die israelische Militärführung gleich zu Beginn des Vergeltungsschlags auf den Terrorangriff der Hamas ein. Bei der Tötung hochrangiger Hamas-Kommandanten dürfen bis zu hundert Zivilisten als «Kollateralschaden» in Kauf genommen werden.

Das berichtete nach aufwändigen Recherchen die «New York Times» am 26. Dezember aus Israel. Die Recherche basiert auf Interviews mit mehr als hundert Soldaten und Beamten in Israel, mit Opfern aus Gaza sowie Experten für die Regeln bewaffneter Konflikte.

Mehr zivile Opfer in Kauf genommen

In früheren Konflikten mit der Hamas wurden viele israelische Angriffe erst genehmigt, nachdem Offiziere sicher waren, dass keine Zivilisten verletzt würden. Manchmal durften sie das Risiko eingehen, bis zu fünf Zivilisten zu töten. Selten stieg das Limit auf zehn oder mehr. Trotzdem war die tatsächliche Zahl der Todesopfer oft höher.

Diese früheren Vorgaben hatte Israel am 7. Oktober 2023 gelockert, um möglichst viele Hamaskämpfer zu töten, auch wenn dabei mehr Zivilisten ums Leben kommen. Neben Kommandanten durften auch andere Kämpfer und Ziele ins Visier genommen werden, auch wenn dabei bis zu zwanzig Zivilisten getötet werden. «Alle Orte, wo sich Hamas-Leute aufhalten und verstecken, werden wir in Schutt und Asche legen», erklärte Premierminister Benjamin Netanyahu.

«Alle zumutbaren Massnahmen ergriffen»

Aufgrund der Erkenntnisse der «New York Times» räumte das israelische Militär ein, dass geltende Regeln angepasst worden seien. Doch das Militär setze «konsequent Mittel und Methoden ein, die den Gesetzen entsprechen». Es bestehe eine besondere Situation, weil sich in Gaza Hamas-Milizionäre unter Zivilisten und in einem umfangreichen Tunnelsystem versteckten.

Israel, das vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermords angeklagt ist, sagt, es halte sich an internationales Recht, weil es alle zumutbaren Vorsichtsmassnahmen ergreife, um zivile Opfer zu minimieren – oft durch Evakuierungsanordnungen ganzer Städte vor Angriffen sowie durch das Abwerfen von Flugblättern über Stadtvierteln.

Die «New York Times» deckt gravierende Verstösse auf

Umfangreiche Recherchen der Zeitung ergaben Folgendes:

  • Das israelische Militär verwendete fehlerhafte Methoden zur Wahl der Ziele und zur Abschätzung von zivilen Opfern.
  • Nach den Angriffen wurde selten nachgeprüft, wie viele zivile Opfer es tatsächlich gab.
  • Die Regierung ignorierte Hinweise auf diese Mängel von Seiten hochrangiger US-Militärbeamter.
  • In den ersten sieben Kriegswochen feuerte Israel fast 30’000 Geschosse auf Gaza ab – mehr als in den nächsten acht Monaten zusammen. Die Obergrenze für die täglich getöteten oder verletzten Zivilisten wurde aufgehoben.
  • In einigen Fällen genehmigten ranghohe Kommandanten Angriffe auf Hamas-Führer, obwohl sie wussten, dass dabei jeweils mehr als hundert Nichtkombattanten gefährdet würden.
  • Ab dem ersten Kriegstag reduzierte Israel den Einsatz von Warnsignalen, die Zivilisten Zeit geben sollten zu fliehen.
  • Selbst wenn kleinere oder präzisere Waffen dasselbe militärische Ziel hätten erreichen können, setzte das Militär zuweilen «dumme Bomben» und Bomben mit einem Gewicht von bis zu einer Tonne ein. Das führte zu viel mehr zivilen Opfern und Zerstörungen.
  • Nach wenigen Tagen nutzte das Militär Zieldatenbanken, die bereits vor dem Krieg mit Künstlicher Intelligenz gefüttert wurden. Es kam zu vielen Fehlern bei der Bestimmung militärischer Ziele.

So hätten automatisierte Systeme wie «The Gospel» Daten aus verschiedenen Quellen wie Telefonüberwachungen und Satellitenbildern kombiniert. Doch die Verifizierung sei oft unzureichend gewesen, insbesondere bei niederrangigen Kämpfern. In einigen Fällen reichte es aus, dass eine Person in einer veralteten Datenbank gelistet war, damit sie als Ziel bestätigt wurde.

Um das Risiko ziviler Opfer abzuschätzen, habe das Militär Analysen von Mobilfunkdaten genutzt. Dieses Modell habe jedoch gravierende Schwächen gehabt: Stromausfälle und beschädigte Netzwerke in Gaza hätten oft zu fehlerhaften Schätzungen geführt. Zudem habe das Modell nicht berücksichtigt, dass sich Frauen, Kinder und Alte während des Krieges oft in grossen Gruppen zusammenfanden. Solche Fehler hätten zu tragischen Vorfällen wie dem Angriff auf ein Wohnhaus im November 2023 geführt, bei dem mindestens 42 Menschen starben.

Erst ab November 2024*, einem Jahr nach Kriegsbeginn, habe Israel seine Einsatzregeln schrittweise verschärft. Offiziere hätten nun spezielle Genehmigungen für Angriffe mit hohen zivilen Risiken benötigt. Dennoch seien die Regeln lockerer als vor dem Krieg geblieben, stellte die «New York Times» fest. Viele Angriffe hätten weiterhin zahlreiche zivile Opfer gefordert.

Wegen Fehlern seien nur wenige Offiziere entlassen worden. Ein israelischer Untersuchungsausschuss prüfe Hunderte von Angriffen, doch bisher sei es zu keiner Anklage gekommen.

_____________________

*Fälschlicherweise stand in einer früheren Version des Artikels hier November 2023.

 

Weiterführende Informationen

Der Originalartikel kann hier besucht werden