Warum das so ist und was es vielleicht bedeutet oder auch nicht
Von Bobby Langer
Meinen Sie auch, die linke Gehirnhälfte (die angeblich männliche) sei fürs logische Denken zuständig und die rechte (angeblich weibliche) für den emotionalen Blick auf die Welt? Dieses Märchen habe ich auch eine Weile geglaubt. Wer sich diesbezüglich weiterbilden will, kann ja mal unter Hemisphären-Modell nachforschen. Der kleine Rest, der davon übrig zu sein scheint, ist die These, dass Sprache überwiegend in der linken Hirnhälfte verarbeitet wird.
Am interessantesten erscheint mir bei dieser ganzen Diskussion, dass wir zwei Gehirnhälften haben, so wie zwei Augen, Ohren, Nasenlöcher, Lippen und Hände (repräsentativ für den Tastsinn). Zum Einstieg bitte ich Sie, ein einfaches Experiment nachzuvollziehen: Fixieren Sie Ihren Blick auf einen beliebigen kleinen Gegenstand in ein paar Metern Entfernung. Behalten Sie diese Konzentration aufrecht und schieben Sie nun von unten her, mit ausgestrecktem Arm, Ihren Zeigefinger ins Blickfeld (ohne ihn zu fixieren). Tatsächlich erscheint jetzt nicht ein Zeigefinger (unscharf), sondern zwei; und zwischen den beiden befindet sich das fixierte Objekt. Stellen Sie jetzt auf den Zeigefinger scharf, dann befindet er sich in der Mitte, hingegen hat sich das nun unscharfe, ferne Objekt um ihn herum verdoppelt. Für Kinder dürfte das ein lustiges Wahrnehmungsspiel sein.
Wir sehen stereo
Wir setzen nun ein entscheidendes i-Pünktchen obendrauf. Dazu fixieren Sie wieder Ihren Zeigefinger. Wenn Sie jetzt das rechte Auge zukneifen, befindet sich Ihr Zeigefinger rechts vom fernen Objekt, bei geschlossenem linken Auge natürlich links. Und jetzt kommt die entscheidende Frage: Befindet sich die Position Ihres Zeigefingers links, rechts oder in der Mitte? Ganz genau werden wir es ohne Messinstrumente nicht wissen können, aber tendenziell in der Mitte, nicht wahr? Wir sehen stereo, anhand der durch beide Augen eintreffenden Informationen ermittelt unser Gehirn den Durchschnitt und erklärt uns diesen als Wirklichkeit (die sich infolgedessen von der Wirklichkeit von Einäugigen unterscheiden muss).
Wir übergehen nun die interessanten, für jeden selbst recherchierbaren Details zu den Fragen, weshalb wir zwei Ohren, zwei Lippen und zwei Nasenlöcher haben und kommen gleich zur Frage: Wozu zwei Hände? Dazu wieder eine kleine Beobachtung. Fassen Sie mit der linken Hand nach einem Gegenstand in Ihrer Reichweite. Wie von selbst schauen wir uns selbst so zu, dass sich der Gegenstand in der Mitte unseres Blickfeldes befindet. Wir fixieren eben gerne das, was wir tun. Und vermutlich verhält sich unser Gehirn hier ähnlich wie im Augenbeispiel, zumindest dann, wenn wir etwas mit zwei Händen anfassen.
Angemessene Wahrnehmung
Tatsächlich haben wir aber zehn Finger, von denen jeder eine minimal andere Information liefert, so dass wir zum Beispiel das Höhenprofil eines Gegenstandes ertasten können. Blinde profitieren von dieser Fähigkeit und können so die Brailleschrift lesen. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns, wenngleich umständlich, im Dunkeln ein Schlüsselloch zu ertasten und den dunklen Schlüssel richtig hineinzustecken, woraus sich schließen lässt, dass die Durchschnittsermittlung unseres Gehirns ziemlich beeindruckend funktioniert. Das wollen wir mal als Zwischenergebnis festhalten. Auf die Angemessenheit unserer Wahrnehmung können wir uns gut verlassen. Solange wir nicht dement sind, verlaufen wir uns nicht in unserer Wohnung und rumpeln nicht gegen die Wände. Was uns zu der Schlussfolgerung verführt, wir könnten die Zusammenhänge der Welt richtig interpretieren.
Bein oder Rüssel
Welcher Irrtum. Wenn die Informationen aus zehn verschiedenen Kanälen einlaufen und ausgewertet werden müssen, wird die Sache ja nicht gerade einfacher. Zehn hoch zehn Informationen ergibt immerhin eine Summe von zehn Milliarden Informationen, die dann auch noch gewichtet und bewertet werden müssen. Unser Gehirn schafft so etwas spielend, nur die Verlässlichkeit des Ergebnisses ist so eine Sache. Bekannt ist das Beispiel von den blinden Männern, die noch nie etwas von Elefanten gehört haben, nun aber um einen herumstehen und – ihn abtastend – mitteilen sollen, was sie da vor sich haben. Der Blinde, der den Schwanz abtastet – und von seinen Händen richtige Informationen übermittelt bekommt –, wird zu anderen Ergebnissen kommen als die Blinden, die ein Bein oder den Rüssel abtasten. Erst wenn sie die in ihrer Kultur verfügbaren Informationen zu Elefanten zur Verfügung haben, werden sie den Elefanten als „Elefanten“ identifizieren können.
Die Hand auf dem Oberschenkel
Na gut, werden Sie jetzt vielleicht denken, das ist doch alles eigentlich klar. Doch diese Klarheit verschwindet, wenn zum Beispiel Folgendes geschieht: Jemand berührt Sie mit der Hand und in mittlerer Stärke am Oberschenkel. In Gehirnscans kann man live mitverfolgen, wie diese Berührung im Gehirn ein Signal auslöst; doch nicht nur ein Signal, sondern einen ganzen Signalteppich auch in Hirnarealen, die mit der Sinnesauswertung rein gar nichts zu tun haben. Warum? Weil das Gehirn das Signal der Handberührung nicht nur registriert, sondern auch einzuordnen versucht: Wann bin ich schon mal so berührt worden? War das angenehm oder unangenehm? Wer ist das eigentlich, der mich da berührt, und darf er oder sie das? Was haben meine Eltern mir für so einen Fall beigebracht? Usw. Usf. Man weiß, dass mehr als 75 Prozent der auf die Berührung folgenden Gehirntätigkeit mit der eigentlichen Sinnesauswertung nichts mehr zu tun hat. Das Fiese daran: Alle diese zusammengewürfelten Auswertungsergebnisse unserer beiden Gehirnhälften geschehen im Bruchteil einer Sekunde und sind für uns von der Berührung selbst zeitlich nicht zu unterscheiden. Und da die Berührung nun einmal Fakt war, halten wir den ganzen (mehrheitlichen) Rest auch für wahr.
Es geht ums Überleben
Und damit stellen sich Probleme ohne Ende ein. Ein Beispiel unter Millionen anderen: Ein Freund von mir wurde in Afghanistan sozialisiert. Dort gilt es als ungehörig, einer Frau offen in die Augen zu sehen; und ganz und gar unanständig verhält sich eine Frau, die einen Mann direkt anschaut. Mein Freund ist seit neun Jahren in Deutschland, hat gelernt, dass sich das hier anders verhält, ist das Problem aber noch immer nicht ganz los. Sein Gehirn wertet aus, als wäre er in Afghanistan. Der Grund dafür ist die Überlebensfunktion unseres Gehirns. Situationen, die es als bedrohlich oder gefährlich einzuschätzen gelernt hat, ätzen sich uns ein und haben Vorrang vor anderen Informationen, erst einmal egal, wie veraltet sie sind. Das führt in das weite und hier zu vernachlässigende Feld der kognitiven Dissonanzen, bei denen der gleiche Sachverhalt unterschiedlich bewertet wird. Meistens führt das zu Unlustgefühlen, kann einem aber auch einen tollen Kick geben, etwa wenn in einem Thriller die Hauptperson, mit der wir mitfühlen, in eine lebensbedrohliche Lage gerät. Wie angenehm ist es dann doch zu wissen: Ich bin nicht er. Oder der Kick bei einem Bungee-Jump!
Unbedingt abschließen
Bis an diesen Punkt schien alles noch sehr verständlich, hoffe ich zumindest. Wirklich schwierig wird es, wenn wir uns bewusst machen, dass unser Gehirn nicht oder so gut wie nicht zwischen tatsächlich erlebten und sekundären Erfahrungen unterscheidet. Damit Sie verstehen, was ich meine, möchte ich meine Schwiegereltern anführen, zwei ausgesprochen lebenslustige Leute, die auch mit siebzig noch auf Faschingspartys gingen und gerne einen draufmachten. Als sie in ein Alter kamen, in dem sie kaum mehr das Haus verließen, schauten sie umso mehr Fernsehen. Das Gerät lieferte ihnen stundenlang und jeden Abend spannende Spielfilme. Und von Jahr zu Jahr wurden die beiden immer ängstlicher, so dass sie schließlich darauf bestanden, dass die Haustür unbedingt abgeschlossen sein müsse. Vorsichtshalber ging Opa durchs ganze Haus und kontrollierte die Türen. Dabei hatte es niemals einen Einbruch oder Einbruchsversuch gegeben.
Arier oder nicht?
Genau diese Tatsache, dass wir sekundäre mit primären Erfahrungen gleichsetzen, macht es politischen Führungen so leicht, ganzen Bevölkerungen bestimmte Eindrücke vorsätzlich und gezielt als „wahr“ zu vermitteln. Entscheidend dafür ist das Informationsmonopol, weshalb – zumindest früher – Zensurmaßnahmen eine entscheidende Stütze von Diktaturen waren.
Doch so weit müssen wir gar nicht blicken. Auch in prädigitalen Zeiten, als die Informationsflut noch erträglich war, gelang es den politischen Parteien, Menschen in ihren Ländern bestimmte Inhalte als „wahr“ zu verkaufen (1). Haben wir erst einmal eine solche Wahrheit „geschluckt“ bzw. „gefressen“, kommt ein weiterer Mechanismus ins Spiel, nämlich die Ich-Identität. Sie hilft uns, unter beinahe allen Umständen unsere Identität aufrechtzuerhalten. Intelligenz schützt vor diesem Mechanismus leider gar nicht. Der größte Teil der Professoren an deutschen Hochschulen definierte sich zwischen 1933 und 1945 zunehmend als „Arier“ (die es in Deutschland gar nicht gab, sondern nur in Persien, Afghanistan und Indien) und konnte sich deshalb ohne große Mühe mit der Diskriminierung von „Nicht-Ariern“ und ihrer Entfernung aus den Ämtern abfinden, eventuell sie sogar gutheißen.
„Die werden es schon wissen“
Heute wird das Instrument der Meinungsbildung ungleich eleganter gehandhabt. Angesichts der über uns hereinbrechenden Informationsflut reagieren wir hauptsächlich auf zweierlei Weise: Entweder wir stabilisieren unsere Ich-Identität, indem wir unter den eintreffenden Informationen nur solche auswählen, die unser Selbstbild nicht ins Wanken bringen; oder wir flüchten uns in die starken Arme der öffentlich-rechtlichen Medien und Leitmedien: Die werden schon wissen, was richtig ist. Für einige Ernüchterung sorgte da die Sendung „Die Anstalt“ vom 22.05.2018. Das ist heute nicht besser geworden. Das eigentliche Problem bei der Sache ist aber unsere so leicht zu beeinflussende Wahrnehmung. Wenn wir nicht einmal hundertprozentig unterscheiden können, ob es sich bei der Position unseres Zeigefingers im Raum um „News“ oder „Fake News“ handelt, wie kann dann unser Gehirn noch in dem gegenwärtigen Informationschaos klarkommen? Einen guten Einblick in den Stand des Wissens zu Manipulationstechniken bietet eine Sendung des SWR vom 14.08.2023.
Elefant oder Giraffe?
Wie also kann ich mir sicher sein, dass es sich bei dem, was ich wahrnehme, tatsächlich um einen Elefanten handelt und nicht um eine Giraffe oder eine Eiche? Die Antwort scheint vernichtend, nämlich: gar nicht. Wer’s nicht glaubt, kann sich von diesem Video belehren lassen: 11 optische Illusionen, die deinen Verstand austricksen. Optische Illusionen sind nur ein besonders einfaches Beispiel, wie unser Gehirn bei schwierigen oder zu vielen Informationen in die Grätsche geht. Andere, viel erschreckendere Beispiele sind nationale Hysterien, von denen die Gegenwart scheinbar nicht genug bekommen kann. Ein für mich auch amüsantes Beispiel für die Irrungen und Wirrungen in unserem Kopf ist die traurige Geschichte von zwei US-Soldaten, die mit Steaks, Hamburgern und Pommes groß geworden waren. Eines Tages verschlug es sie im Vietnamkrieg in eine ausweglose Situation: Sie waren allein im Dschungel und verhungerten – in einer Umgebung, in der es Früchte und mehr als genug essbare Pflanzen gab, aber keinen Grill.
Der zwischenmenschliche Raum
Sollen wir jetzt angesichts der angeführten Sachverhalte mutlos oder depressiv werden? Könnte man meinen. Doch auf Informationen MUSS man nicht mit Gegenmeinungen reagieren, um sich nur weiter in Meinungsforen zu verheddern. Man kann sich auch ANDERS VERHALTEN. Immer wenn Sie beginnen, etwas für absolut richtig zu halten, dann besteht die realistische Möglichkeit, dass Ihr Gehirn gerade zur Abwehrwaffe der Aufrechterhaltung der Ich-Identität gegriffen hat (die einem auch den größten Unsinn für wahr verkauft). Sie brauchen dann nichts weiter zu tun, als sich die andere Seite der Wahrheit gründlich zu Gemüte zu führen, statt sie als unwahr abzutun (das ist ja gerade, was von Ihnen erwartet wird). Sich für den König im Reich der Wahrheit zu halten, mag im stillen Kämmerchen ja noch angehen. Wenn wir uns aber im zwischenmenschlichen Raum befinden, dann spätestens sollten wir uns auf die Goldene Regel besinnen, die einem aus dem größten Schlamassel heraushelfen kann: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder anders ausgedrückt, vor dem Wasser einer Gebirgsquelle sind alle gleich.
Weiterführende Links:
– Psychologische Kriegsführung
– Cognitive Warfare
– UKUSA-Vereinbarung
– Manufacturing Consent
(1) Propaganda bezeichnet in ihrer modernen Bedeutung zielgerichtete Versuche, politische, religiöse oder weltanschauliche Meinungen oder öffentliche Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und das Verhalten in eine vom Propagandisten erwünschte Richtung zu steuern. (Wikipedia)