Sechs Monate sind vergangen, seit Julian Assange aus dem Gefängnis entlassen wurde. Jetzt, nach seiner 14-jährigen Odyssee, kann man sagen, dass das Schlimmste überstanden ist.  Aber sein Kampf für Gerechtigkeit geht weiter.  Aufgrund seiner mit den US-Behörden getroffenen Übereinkunft trägt Julian nun das Stigma eines verurteilten Verbrechers, der fünf Jahre im Gefängnis verbracht hat. Diese Tatsache ist nicht zu unterschätzen: Sie hat schwerwiegende Folgen für die Presse- und Meinungsfreiheit. Tatsächlich schafft es einen gefährlichen Präzedenzfall und ebnet den Weg für weitere potenzielle Missbräuche, indem es Bundesermittlern ermöglicht, jeden Journalisten oder Verleger, der es wagt, eine „unbequeme“ Wahrheit zu enthüllen, nach dem US-Spionagegesetz strafrechtlich zu verfolgen – und Gerichten, ihn dann zu verurteilen. Der gesamte Bereich des investigativen Journalismus ist damit betroffen, denn das Assange-Urteil „kriminalisiert jeden Aspekt der Kommunikation mit einem Whistleblower, vom Erhalt und Besitz vertraulicher Informationen bis hin zu deren Veröffentlichung“. Aus diesem Grund hat die Bewegung „Free Assange“ eine Kampagne gestartet, um Unterschriften für eine Petition zu sammeln, in der Biden aufgefordert wird, den australischen Journalisten zu begnadigen. Wir haben mit Gabriel Shipton, dem Bruder von Assange, über die Kampagne gesprochen.

Von Dario Lucisano

Die Idee, Biden um eine Begnadigung von Julian Assange zu bitten, entstand während einer Reise von Gabriel Shipton in die Vereinigten Staaten. „Ich war in Washington“, erzählt Gabriel L’Indipendente, „wo ich die Gelegenheit hatte, mit vielen von Julians Unterstützern im Kongress zu sprechen.“ Der Kampf um Assanges Freilassung aus dem Gefängnis führte zu einer breiten, übergreifenden und sich traditionellen politischen Zuordnungen verweigernden Unterstützungsbewegung. Es gelang ihr, Personen in den US-Institutionen auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu mobilisieren, ohne dabei zu einer feststehenden Vereinigung zu werden. Viele Kongressabgeordnete fragten sich, was getan werden könnte, um zu verhindern, dass Assanges Fall auch anderen Journalisten widerfährt: So entstand die Idee, sich um eine Begnadigung durch den Präsidenten zu bemühen. Alles begann damit, dass der Demokrat James McGovern und der Republikaner Thomas Massie einen gemeinsamen Brief an den Präsidenten schrieben, in dem sie ihn baten, Assange zu begnadigen. Also „haben wir eine Website eingerichtet, auf der Sie Präsident Biden und dem Leiter des Begnadigungsbüros eine E-Mail senden können. Wir haben jetzt nicht einmal mehr einen Monat bis zu Trumps Amtsantritt am 20. Januar.“  Die Plattform hat mehr als 30.000 Unterschriften gesammelt und ist auf mehreren Domains aktiv, darunter auch in Australien.

Aber warum ist es so wichtig für Assange, begnadigt zu werden? „Fakt ist, dass es beim Assange-Urteil nicht nur um Julian geht“, antwortet Gabriel. „Ja, das Stigma des ‚verurteilten Verbrechers‘ schränkt ihn ein; aber das Besorgniserregendste ist die durch das Urteil gegebene Einschränkung für die Meinungsfreiheit und die Freiheit des Journalismus. Dank der getroffenen Vereinbarung haben US-Staatsanwälte und Ermittler nun das Gefühl, dass sie das Spionagegesetz für Ermittlungen und strafrechtliche Verfolgung nutzen können, um gegen jeden Journalisten und jeden Verleger überall auf der Welt vorzugehen, die einfach nur ihren Job gemacht haben, indem sie geheime Regierungsvergehen aufgedeckt haben.“ Assange wurde nach diesem Gesetz zu 62 Monaten Gefängnis verurteilt, einem Bundesgesetz, das die unbefugte Entgegennahme und Weitergabe von Geheimunterlagen des Bundes unter Strafe stellt. Dies ist das erste Mal, dass das Spionagegesetz, das ursprünglich gegen Spione und Personen gedacht war, die während des Ersten Weltkriegs Militärgeheimnisse preisgegeben haben, gegen einen Journalisten bei der Ausübung seiner Arbeit angewandt wird, und dies wirkt sich negativ auf den gesamten Bereich des investigativen Journalismus aus.

Mit anderen Worten, die Verurteilung gegen Assange stellt einen „gefährlichen Präzedenzfall“ dar, der zur Verfolgung von Personen genutzt werden kann, die es schaffen, unbequeme Wahrheiten aufzudecken.  Es „ebnet den Weg für eine mögliche fünfjährige Haftstrafe für jeden, der mit ähnlichen Anklagen konfrontiert ist wie Julian es gewesen ist“. So „schränkt Julians Verurteilung die Pressefreiheit auf der ganzen Welt ein, genauso wie sie unser Recht einschränkt, zu erfahren, was unsere Regierungen in unserem Namen tun: Dies betrifft uns alle, nicht nur Journalisten, nicht nur Redakteure, sondern jeden engagierten Bürger auf der ganzen Welt.“

Deshalb steht die #pardonAssange Petitionsplattform allen offen, sie zu unterschreiben, für US-Bürger und Nicht-US-Bürger, damit so „der Präsident und seine Berater die weltweite Unterstützung für Julian zur Kenntnis nehmen“.  Die Free Assange-Bewegung übt auch Druck auf den australischen Premierminister aus, sich für Assange einzusetzen, wenn Biden sich von ihm telefonisch verabschiedet.

Die Zeit der Begnadigungen hat gerade erst begonnen. Angesichts der großen Zahl von Begnadigungen, die Biden bisher ausgesprochen hat, rechnen Assanges Unterstützer damit, dass auch Julian begnadigt werden wird.  „Bevor das Urteil gefällt wurde, redete sich die Regierung immer damit heraus, dass sie sich nicht in die Angelegenheiten des Justizministeriums einmischen wolle. Jetzt, da das Urteil gefallen ist, liegt es ganz bei Biden: Er kann für oder gegen die Pressefreiheit einstehen.“