Der frühere Präsident der Impfkommission blickt auch selbstkritisch auf die Pandemie zurück. Die Kommission beugte sich dem BAG.

Martina Frei für die Online-Zeitung INFOSperber

«Wie beurteilen Sie rückblickend das Impfen der Jugendlichen?», fragte die «Sonntagszeitung» kürzlich Christoph Berger, den früheren Präsidenten der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif).

Berger antwortete: «Problematisch. Die Aussage, ihr müsst euch impfen, damit ihr ins Lager gehen könnt, ist schon infrage zu stellen.» Jugendliche seien zu Unrecht unter Druck gesetzt worden.

Die damaligen Empfehlungen und Aussagen seiner Impfkommission stellte Berger nicht in Zweifel. Zum Beispiel die schwammig formulierten Impfempfehlungen für Jugendliche und Kinder.

Mehrere Quellen berichten, dass die Ekif den Jugendlichen die Covid-Impfung im Sommer 2021 ursprünglich nicht empfehlen wollte, sich dann aber dem Druck des Bundesamts für Gesundheit beugte (Infosperber berichtete darüber). Bergers Kommission empfahl die Covid-Impfung schließlich allen Jugendlichen «aufgrund der individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung».

Bergers Vorschlag verhallte

Man muss Christoph Berger zugutehalten, dass er schon im Juni 2021 öffentlich appellierte, Jugendliche nicht zur Impfung zu drängen.

Berger genießt in der Ärzteschaft hohes Ansehen, er gilt als menschlich integer, als guter Lehrer, als sehr umgänglich. Befragte Kollegen sind des Lobes voll. Einer allerdings sagt, Berger wolle es allen recht machen.

In der «NZZ» schlug der Kinderarzt und Kommissionspräsident im Sommer 2021 vor, Jugendlichen die Covid-Zertifikate ohne Impfnachweis auszustellen. Damit wollte er verhindern, dass sich junge Menschen nur impfen ließen, um zum Beispiel einfacher an Fußballspiele gehen zu können. Doch Politik und Universitäten griffen seinen Vorschlag nicht auf, sondern zogen die 2G- oder 3G-Regeln durch.

Die Erzählung vom Fremdschutz

Erst die Impfempfehlungen hätten es ermöglicht, Kindern und Jugendlichen 2G- und 3G-Regelungen aufzuzwingen. Diese Kritik übte eine Autorengruppe aus Wissenschaftlern und weiteren Fachpersonen an der deutschen Impfkommission Stiko.

Einer der Mitverfasser, der Grazer Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger, sieht dies heute anders: Ob offizielle Impfempfehlung oder nicht, «hätte keinen Unterschied gemacht. Die jungen Altersgruppen hätten sich trotzdem ständig testen müssen und sich dann – wie real passiert – großteils aus sozialen Gründen impfen lassen. Letztlich wäre immer ein enormer gesellschaftlicher Druck auf junge Menschen ausgeübt worden, ganz unabhängig von den Entscheidungen der Impfkommissionen. Das lag auch am unwissenschaftlichen Narrativ vom Fremdschutz der Corona-Impfstoffe.»

Stützte die Ekif mit ihren Empfehlungen diese Politik, auch wenn die Ekif dies nicht wollte? Berger verneint. Es sei ein Anliegen der Impfkommission gewesen, beim «Gesamtpaket der Maßnahmen» mitreden zu können. «Das würde ich heute noch expliziter machen», räumte er jüngst selbstkritisch gegenüber «SRF» ein.

«Der soziale Austausch für Kinder war vorrangig»

«Die Ekif war nicht zuständig für die Maßnahmen, sondern nur für die Impfempfehlungen. Es war mir wichtig, dass die Kinder zu jeder Zeit ihr Sozialleben haben konnten. Der soziale Austausch für Kinder und Jugendliche war und ist vorrangig. Wenn das eine Impfung erforderte, dann eben mit Impfung», sagt der frühere Ekif-Präsident und betont: «Die Impfung war kein Übel, sie hat nicht geschadet.»

Doch das sehen nicht alle so.

In ihren Impfempfehlungen schrieben die Ekif und das BAG im Sommer 2021, die Covid-Impfung werde allen Teenagern empfohlen,

  • um sich selber gegen häufige milde und sehr seltene schwere Covid-19 Erkrankungen zu schützen,
  • und um negative soziale und psychische Auswirkungen von indirekten individuellen und kollektiven Maßnahmen (z. B. durch Isolation/Quarantäne), sowie die Folgen häufiger Exposition (z. B. in Schule/Freizeit) zu vermeiden.

«Medizinische und ethische Standards verletzt«

Im Klartext rieten die Ekif und das BAG gesunden Jugendlichen, sich nicht aus medizinischen Gründen impfen zu lassen, sondern um ihnen soziale Kontakte zu ermöglichen – ein Novum, das «geltende medizinische und ethische Standards verletzt», wie der Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger betont.

Die Corona-Infektion verlief für Kinder und Heranwachsende, wie die Ekif selbst schrieb, fast immer harmlos. Deshalb war auch der Nutzen der Impfung für sie «sehr klein – wenn überhaupt vorhanden», wie eine Schweizer Ärztegruppe in «Primary and Hospital Care» festhielt.

«Kinder und Jugendliche haben weniger am Virus gelitten als an den Maßnahmen die man gemacht hat, um die Gefährdeten zu schützen», sagte Berger kürzlich im «Tagesgespräch» gegenüber «SRF».

Im Juni 2021 wies die Sächsische Impfkommission darauf hin, dass die Sterblichkeit der 12- bis 17-Jährigen an Covid bei rund 0,0021 Prozent liege. Folglich müsse eine «sechs- bis siebenstellige» Anzahl von Teenagern geimpft werden, damit sich ein Todesfall in dieser Altersgruppe verhindern ließe.

Ganz unterschiedliche Schätzungen zu Nebenwirkungen

Demgegenüber standen die unerwünschten Wirkungen. Bekannt war zum damaligen Zeitpunkt, dass von den geimpften Teenagern und jungen Männern je nach Studie einer von 1260 oder aber einer von 44’640 eine Entzündung am Herz bekam.

Das mit Abstand niedrigste Risiko solcher Nebenwirkungen schätzte die US-Gesundheitsbehörde CDC (zunächst 1:44’640 bei den 12- bis 15-Jährigen und 1:29’400 bei den 16- bis 17-Jährigen, später 1:14’200 bis 1:22’000). Auf diese Schätzungen stützte sich die Ekif maßgeblich.

Erste Berichte im Februar 2021

Die ersten Berichte von Herzmuskelentzündungen nach mRNA-Impfung wurden im Februar 2021 in Israel publik. Im Mai 2021 veranlasste die Europäische Arzneimittelbehörde eine Untersuchung. Ende September 2021 stoppte Kanada den Einsatz des Impfstoffs von Moderna bei den unter 30-Jährigen. Anfang Oktober zogen mehrere skandinavische Staaten nach. Die Schweiz folgte erst Ende November: «Fast unbemerkt hat das BAG die Impfempfehlung angepasst», berichtete «20 Minuten» am 29. November 2021.

Die Impfkommission und das BAG waren also schnell dabei, den Impfstoff für Heranwachsende zu empfehlen – aber langsam darin, von einem Impfstoff abzuraten, der in einer jungen Altersgruppe als problematisch erkannt wurde.

Der Originalartikel kann hier besucht werden