Es ist in Deutschland nach 1990 üblich geworden, für Ossis ihre Sozialisierungen heranzuziehen. Meine lautet folgendermaßen:

10 Jahre: Leben im Faschismus, jahrelange Arbeitslosigkeit beider Eltern mit dürftigem Einkommen, Mutter starb mit 27 Jahren an TBC. Bomben auf Berlin. Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen. Evakuierung der Schulgemeinschaft nach Ostpreußen, danach Flucht vor der Ostfront nach Sachsen, Kriegsende bei einer Bauernfamilie. Dorfschulen. Körperliche Arbeiten. Nicht die Rechte, sondern die Pflichterfüllung stand im Vordergrund.

40 Jahre: Entwicklung im neuen sozialistischen Staat DDR. Erste berufliche Phase: Arbeit als Melker und landwirtschaftlicher Helfer in Sachsen. Berlin zerstört, Wasserleitungen ohne Wasser. Bäckerlehre, Backmeister beim Konsum. Nachholen des Abiturs an einer Arbeiter-und-Bauerfakultät, Volkswirtschaftsstudium, Erlernen der spanischen Sprache mit anschließender Arbeit im Außenhandel. Dienstreisen nach Ost und West. Mithilfe beim Aufbau des ersten Handelsbüros der DDR in Mexiko. Später nach Herstellung diplomatischer Beziehungen, Handelsrat in Mexiko und Venezuela. Anschließende Arbeit in der Plankommission der DDR, als Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen zu Lateinamerika und Leiter des Büros des Staatssekretärs für Entwicklungsländer.

Die Wendezeit: Auflösung der Staatlichen Plankommission. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Haushaltsausschuss der letzten Volkskammer der DDR mit Einblicken in die Geldkonten der DDR und BRD. Die wichtigste Aufgabe im Ausschuss war die Übernahme der Gesetze der BRD für das Gebiet der DDR. Das übergreifende Motto der CDU- und FDP-Regierung Kohls lautete: „Privatisieren und nicht sanieren“. Ein weiteres tödliches Gesetz für die DDR-Wirtschaft trug den Namen „DM-Eröffnungsbilanz“. Persönlich wurde das Gesetz von der Vorsitzenden des Haushaltsausschusses Christa Luft (PDS) abgelehnt. Das half aber nicht: Es galt nur die Stimmenmehrheit des Parlaments und die lag bei der Allianz für Deutschland und der SPD. Dann kam für mich die Arbeitslosigkeit und Suche nach neuem Lebensunterhalt.

Die letzten 35 plus x Jahre lebte ich im kapitalistischen Deutschland, beginnend im Oktober 1990. Ich bekam mit Wohlwollen der noch amtierenden Ämter der Modrow-Regierung den Auftrag, ohne Fördermittel, für den Schweizer Kaufmannverband in Berlin ein Weiterbildungsinstitut (SIB) für Arbeitslose aufzubauen. Über 12 Jahre konnte ich helfen, Hunderten aus ganz Berlin und Brandenburg das Tor für neue Arbeitsmöglichkeiten zu öffnen. Pflichterfüllung war ein Primat.

Die Rentnerzeit war erfüllt von ehrenamtlichen Arbeiten beim Ibero-Amerikanischen-Institut, beim Arbeitskreis Lateinamerika der Partei die Linke und für die Wohngenossenschaft EWG im Aufsichtsrat, sowie als ehrenamtlicher Vorstand.

Die Jahre gaben Zeit zum Schreiben von wirtschaftlichen Sachbüchern. Ergebnis: „Attaché in Mexiko“, „Wir sind verloren, wenn es so bleibt“, „November 2023“, Novum Verlag, Österreich, „Qhapaq Nam y Sozialismo“, in Spanisch, in Bolivien herausgegeben. Hunderte Artikel geschrieben für die Nachrichtenagentur Pressenza und für deutsche Blätter. Sie gaben Einblicke in Wirtschaft und Politik. Sie sollten der Aufklärung, vor allem der Jugend dienen.

Das letzte Buch: Hat die Welt eine Zukunft?“, Verlag am Park, 15 Euro. ISBN 978-3-947094-79-0 (Skizzen für eine mögliche Gesellschaft), bestellbar in jeder Buchhandlung.

Das 40-jährige Leben im Sozialismus hat bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen. Meine persönlichen Menschenrechte auf Arbeit, Gleichberechtigung, Wohnen, Selbstbestimmung, Frieden, Freiheit sind annähernd erfüllt worden, wenn auch die Zeitumstände der DDR und der Welt Einschränkungen abverlangten. Die Kulturleistungen fremder Völker durfte ich kennenlernen, auch die negativen Wirkungen des Kapitals in den Entwicklungsländern. Für die westlichen Brüder und Schwestern aber bin ich halt ein hinzugekommener Deutscher, ein nicht ganz vollwertiger.

Hallo, liebe Mitmenschen: Wählt bitte niemals Parteien, die Kriege unterstützen oder fördern! Mit der Streichung der Sozialleistungen und mit der Inflation zahlt Ihr die Kosten.

Günter Buhlke (2.v.R) bei der Gründungsversammlung des Fördervereins für gewaltfreien Journalismus e.V.