Medien kritisieren Kanzler Scholz und Präsident Biden als «zu weich» und fordern einseitig mehr und weitreichendere Waffen.
Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOSperber.
Die kritische Haltung vieler großer Medien besteht darin, westliche Regierungen damit zu konfrontieren, dass sie viel zu zögerlich schwere Waffen liefern und deren Einsatz erst noch beschränken.
Sie konfrontieren Exponenten der Regierungen und der Rüstungsvertreter nicht mit umgekehrten Argumenten. Sie fragen selten, ob nicht ungerechtfertigt Angst geschürt werde, um die Bevölkerung dazu zu bringen, den Gürtel zugunsten von Rüstungsausgaben enger zu schnallen.
Dabei wäre das Vorhalten solcher Gegenargumente die zentrale Aufgabe der Medien. Das heißt nicht, dass sie sich mit der Position der Gegenseite identifizieren. Vielmehr dient die Wächterhaltung der Medien dazu, Sachverhalte und Behauptungen auf ihre Stichhaltigkeit zu hinterfragen.
Im laufenden Propagandakrieg müssten die Medien diese Rolle auf alle Seiten hin wahrnehmen und den Leserinnen oder Zuschauern die besten Argumente beider Seiten liefern. Nur so würde die Öffentlichkeit nicht bevormundet, sondern könnte sich eine eigene Meinung bilden.
Für Putins Krieg gegen die Ukraine gibt es keine Entschuldigung
upg. Ohne Osterweiterung der Nato und ohne die Absicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, wäre es wahrscheinlich zu keinem Krieg gekommen. Doch auch wenn sich Russland von der Nato eingeschnürt fühlte, war Russland nicht existenziell bedroht. Angegriffen wurde Russland schon gar nicht. Deshalb gibt es nichts, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt.
Ukraine-Krieg: Argumente mit Gegenargumenten hinterfragen
Im Folgenden einige Beispiele gängiger Aussagen von Regierungsvertretern und Rüstungslobbyisten sowie mögliche Einwände und Gegenargumente, die viele Medien kaum aufnehmen, die aber eine nötige Debatte befeuern würden:
Wir müssen Putins imperialem Machtstreben Einhalt gebieten. Er will die ganze Ukraine unterwerfen und danach wenn möglich auch baltische Staaten oder Polen.
Putin hat zwar den Zerfall der Sowjetunion bedauert und die historische Entwicklung kritisiert, aber explizit erklärt, Russland müsse und werde die heutigen Grenzen anerkennen. Wo hat Putin seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 bis zum 24. Februar 2022 gesagt oder geschrieben, er wolle die Ukraine erobern und in die russische Föderation eingliedern? Oder er wolle die auseinandergebrochene Sowjetunion wieder restaurieren? Gibt es vor 2022 Handlungen, die für diese seine Absicht sprechen?
Die Annexion der Krim im Jahr 2014 war der Anfang von Putins imperialem Machtstreben. Hätte der Westen damals nicht bloß einige Sanktionen ergriffen, wäre es im Jahr 2022 nicht zum Angriff Russlands auf die Ukraine gekommen.
Die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim hatte seit langem vergeblich eine größere Autonomie von Kiew gefordert. Wollte sich die Mehrheit der Krimbewohner nach dem rechtswidrigen Regierungswechsel in Kiew lieber der russischen Föderation anschließen als sich dem Diktat Kiews unterwerfen? Mit Hilfe russischer «grüner Männchen» hat sich die Krim Russland angeschlossen. War es etwa keine russische Annexion, sondern eine rechtswidrige ungeordnete Sezession und eine rechtswidrige Eingliederung in die russische Föderation?
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind Grenzverschiebungen und Einverleibungen von Gebieten tabu und völkerrechtswidrig. Die ukrainische Regierung muss sich mit aller Gewalt gegen Gebietsabtretungen wehren. Solche würden sonst zu einem gefährlichen Präzedenzfall.
Ein Präzedenzfall? Die Nato hat den Kosovo gegen den Willen von Serbien gewaltsam abgespalten – mit Unterstützung einer großen Mehrheit der Einwohner Kosovos.
Die USA besetzen Gebiete mit Ölfeldern in Nordsyrien und haben diese Region faktisch annektiert.
Die Türkei hat mehrere Gebiete im Norden des Iraks militärisch besetzt und faktisch annektiert – gegen den Willen der dort lebenden Kurden. Die Türkei hält seit 1974 auch den Norden Zyperns völkerrechtswidrig besetzt.
Russland strebt eine fundamentale Änderung der Machtordnung in Europa an. Es will die Nato aus Osteuropa hinauswerfen und das Stationieren von US-Waffensystemen einschränken. Würde der Westen nachgeben, stünden russische Soldaten bald wieder in Mitteleuropa!
Kann dies eine Schutzbehauptung sein, um davon abzulenken, dass Russland die Nato nicht an seinen Grenzen will? Die Hauptforderung Putins vor und seit dem russischen Angriff war stets, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato wird. Am 2. Dezember 2024 stellte NZZ-Redaktor Volker Pabst fest: «Putin hat die angeblich aggressive Ausweitung des Nordatlantikpaktes bis an die russische Grenze schließlich immer als eine Rechtfertigung für seinen Überfall dargestellt.»
Würden es umgekehrt die USA tolerieren, wenn Kuba, Venezuela, Nicaragua oder Mexiko einer von Russland oder von China geführten Militärallianz beitreten würden oder wenn diese Staaten den Chinesen oder den Russen erlauben würden, in ihrem Land Raketen zu stationieren? Würden die USA in einem solchen Fall das Völkerrecht respektieren und ausschließlich diplomatisch protestieren? Würden sie sich damit zufriedengeben, dass China oder Russland beteuern, die Raketen dienten nur zur Abschreckung und Verteidigung gegen einen amerikanischen Angriff?
Die Nato bedroht Russland nicht. Die Nato wird Russland nie angreifen, weil es sich um einen Verteidigungspakt des Westens handelt. Wer behauptet, dass Russland die Ostererweiterung der Nato als Bedrohung betrachten kann, übernimmt die Propaganda Russlands.
Die Nato und die USA haben sich schon mehrmals aggressiv verhalten. Sie haben wiederholt versucht, autoritäre und feindliche Regierungen mit großem militärischem Einsatz zu stürzen: mit einem 18 Jahre langen Krieg in Afghanistan. Oder in Irak, Libyen, Serbien, Chile und Panama. Die USA zählen Russland zur neuen «Achse der Bösen». Wie viele unerwünschte Regierungen haben die USA schon «ausgewechselt»? Ist es aus russischer Sicht nachvollziehbar, US-Raketen an seinen Grenzen zu verhindern?
Russland ist ein autoritärer Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger drangsaliert. Es geht um die weltweite Auseinandersetzung zwischen der Achse der eurasischen Autokratien und den freiheitlich-demokratischen Staaten.
Eine der größten Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg ist das in der Uno-Charta verankerte Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes. Die Nicht-Einmischung gilt als wesentliche Voraussetzung für den Weltfrieden.
In den autoritären Staaten Katar, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Pakistan oder Ägypten mischt sich der Westen nicht ein. Vielmehr unterstützt er sie massiv. Mit welchem Recht soll er sich in Russland einmischen?
Der Westen braucht wieder eine glaubwürdige militärische Abschreckung, um das Putin-Regime von weiteren Eroberungszügen abzuhalten. Besonders Europa muss endlich eine eigene konventionelle Abschreckung aufbauen und die Militärbudgets erhöhen.
Welche Interessen stehen hinter solchen Forderungen? Seit 1989 gelang es Europa, in friedlicher Koexistenz zu leben. Handelt es sich etwa um Forderungen des Pentagons, der Rüstungskonzerne und der von ihnen finanzierten Think-Tanks? Handelt es sich um ein realitätsfremdes Feindbild?
Russland war und ist in der Ukraine höchstens in der Lage, den annektierten Donbas zu erobern, nicht aber das gesamte Territorium der Ukraine. Wieso und wie sollte das durch den Ukraine-Krieg militärisch und wirtschaftlich enorm geschwächte Russland einen Nato-Staat überrennen können und wollen?
Russland hat im Laufe des Krieges gegen die Ukraine enorm aufgerüstet und wird – falls es zu einem Waffenstillstand kommt – bereits in wenigen Jahren in der Lage sein, die ganze Ukraine einzunehmen und dann auch baltische Staaten oder Polen anzugreifen.
Angstmacherei? Die USA und die Nato gaben im Jahr 2023 zusammen das Zwölffache dessen für Militär und Rüstung aus, was Russland investierte. Die Wirtschaftsleistung Russlands (BIP) ist nicht einmal so groß wie die Deutschlands oder Frankreichs oder Spaniens. Kann Russland je einen konventionellen Krieg gegen einen Nato-Staat gewinnen?
Die Schweiz muss ihre Militärausgaben auf den Nato-Richtwert von zwei Prozent des BIP erhöhen. Unter anderem braucht es Kampfflugzeuge, neue Panzer, Lenkwaffen und Drohnen. Georg Häsler, Oberst der Schweizer Armee und NZZ-Aufrüstungsredaktor, hielt der Schweiz vor, dass die Nato längst Rüstungsausgaben von drei Prozent des BIP anstrebe.
Warum soll sich die neutrale Schweiz nach Richtwerten der Nato ausrichten? Kann man die Militärausgaben der Schweizer Milizarmee mit den Ausgaben anderer Armeen überhaupt vergleichen? Hat doch die Schweiz die zwei Prozent bereits erreicht, wenn man die zivilen Kosten der Milizarmee mitrechnet.
Ist es realistisch, dass russische Panzer und Infanterieeinheiten an der Schweizer Grenze aufmarschieren? Warum sollen wir ein Risiko von null absichern mit Panzern und Kampfflugzeugen auf Kosten anderer Ausgaben?
Die Schweiz profitiert von den USA und der Nato, welche die Schweiz atomar und konventionell schützen. Die Schweiz darf sich nicht als Trittbrettfahrerin verhalten, sondern muss solidarisch mitrüsten.
Soll die Schweiz Milliarden einzig aus Solidarität ausgeben? Wäre die Schweiz international nicht nützlicher als glaubwürdig neutrales Land, das auf Angriffswaffen verzichtet und sich darauf beschränkt, hybride Cyberangriffe abzuwehren?
Solche Fragen müssten Medien stellen, wenn sie die Rolle der Vierten Gewalt ausüben wollen. Was Sache ist, müsste eine öffentliche Debatte über diese relevanten Fragen zeigen. Diese Debatte müsste mit Fakten und Argumenten geführt und nicht mit der Etikette «Putin-Versteher» abgewürgt werden.
Außenminister: «Russlands ruchloser Revisionismus gefährdet unsere Freiheit und unseren Wohlstand»
Die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Polens, Italiens, Spaniens und Großbritanniens trafen sich am 19. November in Warschau und veröffentlichten folgende gemeinsame Erklärung (Auszug):
«Russlands ruchloser Revisionismus und seine beharrliche Weigerung, die Aggression zu beenden und konstruktive Gespräche zu führen, stellt eine Herausforderung für Frieden, Freiheit und Wohlstand auf dem europäischen Kontinent und im transatlantischen Raum dar. […]
Die eskalierenden, gegen die Nato und EU-Länder gerichteten hybriden Aktivitäten Moskaus sind darüber hinaus beispiellos in ihrer Vielfalt und ihrem Ausmaß und bergen erhebliche Sicherheitsrisiken. […]
Wir halten es für unabdingbar, die Nato zu stärken, indem wir unsere Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung entsprechend unseren bisherigen Zusagen erhöhen, wobei wir erneut bekräftigen, dass in vielen Fällen höhere Ausgaben als zwei Prozent des BIP nötig sein werden, um den wachsenden Sicherheitsbedrohungen zu begegnen und die Anforderungen bezüglich Abschreckung und Verteidigung in allen Bereichen im euroatlantischen Raum zu erfüllen.»