Die neue EU-Kommission startet ihre Amtszeit mit einem Paukenschlag: Mitgliedstaaten sollen in bestimmten Situationen das Recht auf Asyl stark einschränken dürfen. Damit wird das völkerrechtswidrige Vorgehen gegen Schutzsuchende von Mitgliedstaaten wie Polen unterstützt. Eine weitere Brutalisierung der Praxis an den Außengrenzen ist zu befürchten.
Die Europäische Kommission hat als erste Amtshandlung in Asylfragen nach ihrer Wahl durch das EU-Parlament Ende November am 11. Dezember 2024 verkündet, schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht auf Asyl zu erlauben. Damit gibt sie EU-Mitgliedstaaten de facto grünes Licht für Pushbacks, also rechtswidrige Zurückweisungen an der Grenze.
Sanktionen oder kritische Worte für die vielfach dokumentierten, systematischen Menschenrechtsverletzungen und Gewaltexzesse an den Außengrenzen oder für Gesetze, die praktisch das Asylrecht aussetzen, gab es nicht. Stattdessen wurde bekräftigt, unter allen Umständen hinter den Mitgliedstaaten mit Grenze zu Russland oder Belarus zu stehen. Das kann nur als politische Rückendeckung der brutalen Praxis an diesen Außengrenzen verstanden werden.
Die Frage, ob die Kommission damit Pushbacks erlaube, wollte die Kommissarin nicht beantworten.
»In außergewöhnlichen Situationen dürfen EU-Staaten außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen und zum Beispiel das Recht auf Asyl einschränken«, sagte EU-Vizekommissionspräsidentin Henna Virkkunen bei der Pressekonferenz. Die Frage, ob die Kommission damit Pushbacks erlaube, wollte die Kommissarin nicht beantworten. Mit dieser Ankündigung und dem beredeten Schweigen zur Pushback-Praxis zeigt die neue Kommission, wofür sie steht: für die weitere Entrechtung von Schutzsuchenden, die sie mit Verweis auf (vermeintliche) Sicherheitsbedrohungen als alternativlos zu rechtfertigen versucht.
Schutzsuchende Menschen werden zur Bedrohung stilisiert
Die mögliche Einschränkung des Rechts auf Asyl wird mit einer Sicherheitsbedrohung durch Russland und Belarus gerechtfertigt, die »hybride Angriffe« gegen die EU ausführen würden. Dieses Narrativ ist zwar nicht neu, doch die Kommissarin Virkkunen betont, dass eine neue Stufe der Bedrohung erreicht sei, in der Migrant*innen als Waffen eingesetzt würden (»weaponization of migration«), um die EU zu destabilisieren, weshalb auch die EU härter reagieren müsse. Weiterhin betreibt die EU damit eine »Täter-Opfer-Umkehr«, denn im Fokus der Maßnahmen sind Einschränkungen, die sich bereits jetzt vor allem gegen Schutzsuchende richten und zu massiven Verletzungen von Menschenrechten führen. Die sich zunehmend durchsetzende martialische Rhetorik von Schutzsuchenden als Waffe oder Bedrohung verstärkt Ressentiments und soll offensichtlich die militärische Schließung der EU-Außengrenze und Gewalt gegen Schutzsuchende legitimieren.
»Die Werte der Europäischen Union dürfen nicht gegen uns verwendet werden«, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht grotesk: Zum einen ist das Asylrecht kein Wert, sondern ein Recht. Zum anderen ist es überaus zynisch, die EU und ihrer vermeintlichen Werte mit einer Aussetzung ebenjener verteidigen zu wollen.
Das Maßnahmenpaket der EU-Kommission enthält außerdem 170 Millionen Euro für Überwachungstechnik, Geräte zur Bekämpfung von Drohnen und zum Aufspüren von Migrant*innen. Das Geld sollen Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen und Norwegen erhalten. Zudem erinnert die EU-Kommission daran, dass EU-Agenturen wie Frontex bereits heute operative Unterstützung an den östlichen Landgrenzen der EU leisten und bereit sind, diese bei Bedarf auszubauen.
Einschränkung des Rechts auf Asyl in Eigenregie der Mitgliedstaaten
Eine neue Entwicklung markiert die Mitteilung der Kommission im Hinblick auf die Anwendung beziehungsweise Umgehung des gültigen EU-Rechts. Angesichts der »schwerwiegenden Gefahr«, die von Russland und Belarus ausginge, könnten Mitgliedstaaten sich auf Notstandsregeln berufen und einschneidendere Regeln ergreifen, als es das geltende Recht eigentlich vorsehe – so die Kommission. Es ist verstörend, dass die Kommission als »Hüterin der Verträge« aktiv dazu anregt, geltendes EU-Recht zu brechen. Zu den rechtlichen Einschnitten könnten auch gravierende Einschränkungen von Grundrechten wie dem Recht auf Asyl und verwandten Garantien gehören, betont die Kommission.
Aber geht das so einfach, das Recht auf Asyl einzuschränken und was heißt das genau? In ihrer Mitteilung benennt die Kommission einige Voraussetzungen, wie dass die Maßnahmen zeitlich und auf klar definierte Fälle beschränkt, notwendig und verhältnismäßig sein müssen. Doch sie scheint auch einen Graubereich aufzumachen, indem sie weder in der Mitteilung selbst noch in der Pressekonferenz (trotz entsprechender Nachfragen von Journalist*innen) Stellung dazu bezieht, welche Rolle das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip bei solchen Einschränkungen spielt. Zwar wird dieses völkerrechtliche Abschiebungsverbot als ein wichtiger Eckpfeiler erwähnt, der eingehalten werden muss, doch wird nur in einer Fußnote benannt, dass das Non-Refoulement-Gebot ein nicht einschränkbares Recht ist.
Das Non-Refoulement-Gebot kann nicht eingeschränkt werden
Die (vermutlich bewusste) Unklarheit der Mitteilung wird dadurch verstärkt, dass im Text nur auf einen der zwei Ursprünge des Non-Refoulement-Gebots eingegangen wird: auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Wie die Kommission ausführt, kennt die Genfer Flüchtlingskonvention eine Ausnahme vom Non-Refoulement-Gebot, wenn von der Person eine große Gefahr ausgeht oder sie ein schweres Verbrechen begangen hat. Die Kommission verschweigt aber die zweite Quelle des Gebots, nämlich das absolute Folterverbot. Dies ist unter anderem in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert und wird in Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta gespiegelt. Während andere Menschenrechte unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden dürfen, ist dies beim Folterverbot nicht der Fall. Unter keinen Umständen darf ein Staat je selbst foltern oder eine Person unmenschlich behandeln – oder jemanden einer solchen Behandlung in einem anderen Staat durch Abschiebung aussetzen (siehe hierzu auch ECRE). Deswegen verpflichtet das Non-Refoulement-Gebot die Staaten dazu, stets zu prüfen, ob es die Gefahr von Folter und unmenschlicher Behandlung bei Rückführung gibt. Und hierzu braucht es das Asylverfahren.
Indem die Kommission in ihrer Mitteilung keine klare rote Linie zieht und die Illegalität solcher Maßnahmen feststellt, toleriert sie nicht nur das Vorgehen, sondern leistet ihnen Vorschub.
Doch genau diese notwendigen Asylverfahren sind in Mitgliedstaaten wie Polen oder Finnland nicht mehr gewährleistet: entweder wegen ihrer rechtswidrigen und oft brutalen Zurückweisungspraxis an ihren Grenzen zu Belarus oder sogar per Gesetz, die im Fall von Finnland die Aussetzung von Asylverfahren zur Grenze mit Russland vorsehen. Indem die Kommission in ihrer Mitteilung keine klare rote Linie zieht und die Illegalität solcher Maßnahmen feststellt, toleriert sie nicht nur das Vorgehen, sondern leistet ihnen Vorschub.
Nationale Alleingänge werden befürwortet
Es scheint auch ein Umdenken in der neuen Kommission gegeben zu haben, was nationale Alleingänge angeht. Als vor drei Jahren die Diskussion um die Belarus-Route losging, war die Kommission noch bemüht, die Alleingänge von Ländern wie Polen, Litauen und Lettland einzuhegen, indem sie einen Vorschlag für einen Ratsbeschluss für kritische Sondermaßnahmen im Bereich Asyl für die drei Länder vorschlug. Doch denen gingen die Vorschläge (Registrierung von Asylanträgen nur an bestimmten Grenzübergängen, Verlängerung der Registrierungsfrist, beschleunigte Grenzverfahren für alle) nicht weit genug und es kam nie zu einem Beschluss. Stattdessen wurden die Vorschläge in die neue Krisen-Verordnung aufgenommen, die Teil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS-Reform) wurde.
Anstatt zum Beispiel per Ratsbeschluss einen Vorgriff auf diese Ausnahmeregeln im Fall von Krisen oder auch »Instrumentalisierung« vorzuschlagen – was schon schlimm genug wäre, sehen diese zum Beispiel eine massive Ausweitung der Grenzverfahren unter Haftbedingungen vor – ist es auffällig, dass die Kommission den Mitliedstaaten jetzt freie Hand in der Ausgestaltung der Menschenrechtseinschränkungen gibt. Zwar wird dies weiterhin unter den Vorbehalt der Prüfung durch den Gerichtshof der Europäischen Union gestellt, doch dauern Verfahren vor dem höchsten Gericht der EU meist mehrere Jahre. Wenn dann die Rechtswidrigkeit festgestellt wird, wurde das gewünschte politische Signal der Abschottung schon längst gesendet und zahlreiche Menschen wurden bereits entrechtet. Genau solche Überlegungen zu einem angeblichen Abschreckungseffekt (auf Kosten von Flüchtlingsrechten) bis eine höchstgerichtliche Entscheidung ergangen ist, wurde auch in der innerdeutschen Diskussion um einen Notstand an deutschen Binnengrenzen ins Feld geführt, um rechtswidrige Zurückweisungen einfach mal auszuprobieren (warum dies nicht greift, wird hier argumentiert). Eine rechtsstaatlich gefährliche Überlegung. Es entbehrt damit nicht einer bitteren Ironie, dass die Kommissarin Virkkunen auch für die Rechtsstaatlichkeit in der EU zuständig sein soll.
Mit einer solchen Toleranz für nationale Alleingänge zündelt die Kommission auch an der diesen Sommer erfolgten GEAS-Einigung. Diese wird ab dem Sommer 2026 greifen und eine massive Verschlechterung für Schutzsuchende in der EU bedeuten. Besonders die Krisen-Verordnung ist ein gefährliches Instrument, mit dem von wichtigen Standards für Registrierungen und Asylverfahren abgewichen werden kann. Doch gibt es zumindest in der Krisen-Verordnung noch Genehmigungsverfahren, in der die Kommission zunächst die »Krise« auf Antrag feststellen muss und dann im Rat mit Mehrheitsbeschluss die beantragten Maßnahmen beschlossen werden müssen. Zwar können auch diese Verfahren zur Farce werden, wenn jeder Antrag auf Krisenmaßnahmen von Kommission und Mitgliedstaaten unkritisch durchgewunken wird. Aber zumindest gibt es die Möglichkeit einer politischen Kontrolle, bevor die Maßnahmen greifen und schwerwiegende Konsequenzen für schutzsuchende Menschen haben – anstatt erst Jahre später von einem Gericht für rechtswidrig beurteilt zu werden, wenn der Schaden längst erfolgt ist. Wenn sich nun in der Folge der Erklärung der Kommission eine Praxis der Rechtsaussetzungen etabliert, die politisch nicht sanktioniert wird, dann fragt man sich auch, warum die Mitgliedstaaten überhaupt auf die Krisen-Verordnung zurückgreifen sollten.
Kontinuität der Gewalt an der polnisch-belarussischen Grenze
Seit einem Jahr gibt es eine neue Regierung in Polen. Mit der Ablösung der rechtspopulistischen PiS-Partei verbanden viele die Hoffnung auf eine Rückkehr der Rechtsstaatlichkeit. Doch für Schutzsuchende hat sich seitdem nichts an der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze geändert: Rechtswidrige und oftmals brutale Pushbacks, Misshandlungen durch polnische und belarussische Sicherheitskräfte und unterlassene Hilfeleistung sind weiterhin alltäglich. Anstatt dagegen vorzugehen, hat die polnische Regierung im Oktober 2024 angekündigt, das Recht auf Asyl in Polen vorübergehend territorial aussetzen zu wollen.
In der Praxis ist dies bereits längst der Fall: Selbst, wenn Schutzsuchende es nach Polen schaffen, werden ihre Asylgesuche größtenteils ignoriert und die Schutzsuchenden zurück nach Belarus gedrängt, wie ein aktueller Bericht von Human Rights Watch belegt. Regelmäßig sterben oder »verschwinden« Schutzsuchende im Grenzgebiet in Folge von Pushbacks, wie die PRO ASYL Partnerorganisation Helsinki Foundation for Human Rights (HFHR) in einem kürzlich veröffentlichten Bericht dokumentiert hat. Viele Familienangehörigen haben bis heute keine Informationen über den Verbleib ihrer Liebsten.
Zivilgesellschaftliche Organisationen, die im Grenzbereich aktiv sind, beobachten, dass die Gewalt durch Sicherheitskräfte 2024 zugenommen habe. Im Sommer 2024 berichteten polnischen Kolleg*innen PRO ASYL etwa von einer minderjährigen Somalierin, die aus einem polnischen Krankenhaus (!) auf die belarussische Seite zurückgeschoben wurde. Und sie erzählten von einer schwangeren Eritreerin, die gezwungen war, ihr Kind im Wald zur Welt zu bringen, nachdem sie nach eigenen Angaben zweimal von polnischen Beamten zurück nach Belarus geschoben worden war.
»Wir haben es mit einer Kontinuität der Gewalt und der unterlassenen Hilfeleistung zu tun. Der einzige Unterschied: die neue polnische Regierung spricht von ‚humanitären‘ Pushbacks«, fasst es Katarzyna Czarnota von der Helsinki Foundation for Human Rights zusammen. Nach Angaben von We Are Monitoring, einer polnischen zivilgesellschaftlichen Initiative, sind zwischen September 2021 und Oktober 2024 mindestens 88 Menschen in Nähe der Grenze auf beiden Seiten gestorben. Die Initiative dokumentiert allein für das Jahr 2024 16 Tote.
Bereits die vorherige EU-Kommission ging nicht gegen die massiven Rechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen vor. Es ist zu befürchten, dass der härtere Kurs der neuen Kommission zu noch mehr Gewalt und extremen Maßnahmen in Ländern wie Polen führen wird. Umso wichtiger wird es, Aktivist*innen und solidarische Organisationen vor Ort zu unterstützen!
(hk/wj)