„Frieden mit der Natur“ ist eine Serie von Essays aus dem gleichnamigen Band, der anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Verlags Neue Erde zusammengestellt und uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.
Im nachfolgenden Essay beschäftigt sich Matthias Blaß, Leiter der Naturschule Wildniswandern, mit der Schaffung einer friedlichen, beziehungsstiftenden neuen Erdkultur, die auf indigene Kernelementen aufbaut.
Die erzürnte Mutter
Was geschieht, wenn wir anderen Menschen mit Respektlosigkeit, gar Gewalt begegnen? Womöglich noch über einen längeren Zeitraum hinweg? Nun, dann werden sich diese Menschen wohl zur Wehr setzen, und sollten sie es vermeiden, werden sie anderweitige Verhaltensauffälligkeiten ausbilden. Niemand wundert sich ernsthaft über die Folgen, wenn Beziehungen grundlegend gestört sind.
Bis heute scheinen aber viele zu glauben, solche Beziehungsmuster gäbe es nur im zwischenmenschlichen Bereich. Jedenfalls ist für moderne Kulturen die Überzeugung kennzeichnend, dass die Regeln des Zusammenlebens nur unter Menschen gelten. Denn die übrigen Wesen der Erde werden in diesem Weltbild nicht als relevante Partner für Beziehungen anerkannt. Eben dies hat es uns ja erlaubt, willkürlich mit ihnen zu verfahren. Unsere Beziehungslosigkeit gegenüber der Erde führte zu Teilnahmslosigkeit und die wiederum zu Respektlosigkeit bis hin zur Gewalt.
Doch welche Überraschung: Wie sonderbar sich die Erde, die wir einst unsere Mutter nannten, auf einmal benimmt! Ja, eigentlich hatten wir von der Klimakrise, dem Artensterben und dergleichen schon lange gehört, aber durch Hitzerekorde vor der eigenen Haustür, Dürren, Waldbrände und Überschwemmungen erfahren wir die Krise jetzt am eigenen Leib. Während die Einschläge näherkommen, gestehen wir Modernen uns etwas Unerhörtes ein: Wir waren das. Jahrhunderte lang haben wir die Erde so übel behandelt, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten ist. Jetzt schlägt – wie wir einst gesagt hätten – unsere erzürnte Mutter zurück. Ihre Kinder weiter versorgend, weiß sie sich nicht mehr anders zu helfen, als die eigenen Sprösslinge zu ohrfeigen.
Betreten, ratlos, aber einigermaßen aufgewacht stehen wir da. Die markerschütternden Hilferufe der Erde fordern dazu auf, unser Weltbild gründlich in Frage zu stellen. Ohne es zu wollen, hat die moderne Wissenschaft, Technik und Wirtschaftsweise den Beweis erbracht, dass die proklamierte Trennung von Mensch und Natur eine gefährliche Illusion war. Wie die Folgen belegen, dürfen wir auf die Pflege unserer außermenschlichen Beziehungen nicht verzichten. Denn das gesamte Netzwerk der Erde ist es, das Lebendigkeit hervorbringt – unsere eigene natürlich eingeschlossen.
Im Grunde hatten wir uns die Natur wie ein regloses Bühnenbild vorgestellt, vor dem sich das eigentliche Leben abspielt: die Dramen der menschlichen Geschichten und Geschichte. Da die natürliche Welt aber verhaltensauffällig wurde, kommt es uns nun gruseligerweise so vor, als würde sich das Bühnenbild plötzlich bewegen. Die Requisiten von gestern werden zu tonangebenden Akteuren von heute, die uns im Kostüm von Naturgewalten wissen lassen, dass sie mitspielen wollen. Das liefert den Stoff für den letzten Akt dieses lehrreichen Dramas: Die leichtsinnigen Kinder erkennen, wie lebenswichtig die Beziehung zu ihrer erzürnten Mutter ist. Zu guter Letzt zeigen sie Reue und versöhnen sich.
Die ferne Geliebte
Bis zur Versöhnung werden wir an unserer Naturbeziehung aber noch arbeiten müssen. Die Voraussetzungen scheinen günstig zu sein, denn die Erde macht nicht nur durch die ökologische Krise auf sich aufmerksam, sondern lockt auch immer mehr Menschen zu sich ins Freie hinaus. Ob es ihnen nun mehr um die belebende Bewegung beim Wandern, schlichte Erholung beim Spazierengehen oder um Gesundheit und inneren Frieden beim Waldbaden geht – all diese Menschen spüren instinktiv, dass die Natur ihren Leib und ihre Seele auf eine Weise nährt, die sie in der modernen Lebensweise vermissen.
Naturbesucher lieben ihre Gastgeberin, weil sie sich bei ihr wie von Zauberhand wohlfühlen, ohne dafür etwas erbringen zu müssen.
Doch obwohl die Begeisterung für die Natur zunimmt, bleibt sie uns weiterhin fremd. Wir Spätmodernen sind wie schmachtende Liebhaber, die ihre Angebetete nicht kennen, weshalb unsere Annäherungsversuche eher an den Archetyp der fernen Geliebten als an den der Mutter erinnern. Machen wir uns – trotz Verschossenheit – nichts vor: Wie viele bekennende Naturliebhaber könnten mit dem Objekt ihrer Begierde eine entspannte oder gar lustvolle Nacht im Wald verbringen? Aus Furcht kann das heute kaum noch jemand. Die meisten Liebeshungrigen würden die Flucht ergreifen, wenn in ihrer Nähe ein aufgeschrecktes Reh bellt, weil sie den durchdringenden Warnruf nicht zuordnen können. Ein unternehmungslustiger Igel, der bei Dunkelheit im Laub raschelt, mausert sich in der Phantasie von Unerfahrenen leicht zu einem riesigen Wildschwein. Im klaren Morgenlicht würden sich diese Rätsel auch nicht auflösen, denn dafür müsste man die Spuren dieser Tiere lesen können. Und wie baut man eigentlich einen wärmenden Unterschlupf aus Naturmaterialien, der in der Nacht für Geborgenheit sorgt? Welche Pflanzen liefern das Frühstück?
Offenbar sind wir zu Fremden auf dem Land geworden, das uns trägt und ernährt. Insofern ergeht es uns ähnlich wie Migranten. Tatsächlich hat der koloniale Drang moderner Kulturen nicht nur Indigene von ihrem Land vertrieben und zu Migranten gemacht, er hat auch unser menschliches Innenleben samt Weltverhältnis kolonialisiert. Unser Migrationshintergrund ist, dass wir uns mit dem modernen Weltbild als Erdlinge entwurzelt und uns den Heimatboden unter den Füßen weggezogen haben. Wir waren verstiegen genug, von der Erde in eine vermeintlich enthobene Zivilisation auszuwandern, was die unter Migranten typische Gefühlslage hervorbringt: das Verlangen nach Heimat im fernen Land.
Wir Heutigen sind schlicht Naturwesen, die von der Natur getrennt leben, weshalb sie in uns sowohl Sehnsucht als auch Befremdung auslöst. Die beiden Pole stehen also keineswegs im Widerspruch zueinander, sondern gehören zum selben Phänomen. Doch weshalb können die enthusiastischen Wanderer und Waldbadegäste die Kluft zwischen diesen Polen nicht schließen? Das lässt sich leicht erklären: Denn wie das Sitzen in einer Bibliothek noch nicht zur Gelehrsamkeit führt, so entsteht durch den reinen Aufenthalt in der Natur noch keine kundige Vertrautheit mit ihr. Um Migranten in das Land einzugliedern, bedarf es mehr – und einige sträuben sich zunächst.
Die gute Freundin
Die erstaunliche Bedeutung der Raumfahrt dürfte auch daher rühren, dass wir uns insgeheim und teilweise sogar ausdrücklich auf die Emigration von der Erde vorbereiten wollen. Der Fluchtversuch in noch kühnere Weiten liegt in gewisser Weise nahe, da wir unseren Heimatplaneten im Augenblick verloren haben. Doch schon während die ersten Raumfahrer sich mit Pioniergeist von der Erde entfernten, blickten sie auch schon nachdenklich auf ihre Herkunft zurück. Erstmals war es Erdlingen möglich, den ganzen Planeten mit eigenen Augen zu betrachten. Die Ikone, die dieses Ereignis der Menschheitsgeschichte festhält, kennen wir alle. Es ist das berühmte Foto vom blauen Planeten, welches die Besatzung von Apollo 17 im Jahre 1972 aufgenommen hat. Das Bild wurde unzählige Male mit andächtigen Worten besprochen und bringt die Sehnsucht der Menschheit zum Ausdruck, sich von neuem auf der Erde anzusiedeln. Wenn wir es betrachten, nehmen wir die Perspektive von orbitalen Ausflüglern ein, die sich wieder auf den Landeanflug zu ihrem Heimatplaneten begeben. Um diese einsetzende Rückbesinnung zu bezeugen, ist die Ikone wichtig genug.
Frühere Interpreten hatten dem Foto stärkere Auswirkungen zugetraut. Das Motiv führe die Endlichkeit der Erde untrüglich vor Augen, weshalb die einzig mögliche Konsequenz sei, die vom Club of Rome ebenfalls im Jahre 1972 angemahnten »Grenzen des Wachstums« einzuhalten. Doch was hat das Wissen um Grenzen bewirkt? Wenn es uns in den vergangenen Jahrzehnten an einem nicht gemangelt hat, dann an Informationen darüber, auf welch gewaltige Krise wir zusteuern. Auf dieses Wissen haben wir aber kaum reagiert und den Eindruck erweckt, als hätten wir an unserem Überleben kein Interesse. Wie ist das bloß möglich?
Die Gründe sind vielschichtig, aber einer liegt sicherlich in der Kolonialisierung unseres Menschenbildes. Den vor allem vernunftgeleiteten Menschen, den die Moderne teils behauptet, teils gefordert hat, gibt es nicht. Wissen allein bewirkt im Menschen keinen grundlegenden Wandel. Dies bestätigt die Hirnforschung schon seit Jahren. Wenn wir die Erde wieder als Einheimische bewohnen und pflegen wollen, dann brauchen wir eine persönliche Beziehung zu ihr, dann müssen wir uns wieder mit dem Land verbinden, auf dem wir leben. Dafür ist es nötig, dass wir einen Reifungsschritt vollziehen. Nachdem wir uns wie unerzogene Kinder unserer Mutter aufgeführt und wie jugendliche Schwärmer die ferne Geliebte angehimmelt haben, schlage ich nun die gute Freundin als neue Beziehungspartnerin vor – zu der sowohl die Mutter als auch die Geliebte werden kann.
Um diese Freundin zu gewinnen, kommt uns entgegen, dass Freundschaften für uns Menschen wesentlich sind. Wir sind Wesen, die sich natürlicherweise auf Beziehungen ausrichten und mit der Zeit lernen, wie Freundschaften geschlossen werden. Erfahrungsgemäß geht es so: Wir müssen uns der Freundin gegenüber öffnen, uns einlassen, Zeit mit ihr verbringen, sie kennenlernen. Wir müssen herausfinden, wie sie tickt und sie mit ihren Eigenheiten annehmen. Einer Freundin begegnen wir mit wertschätzender Anteilnahme.
Die moderne Psychologie sieht Freundschaften freilich nur unter Menschen vor. Dementsprechend betrachtet sie lediglich die zwischenmenschlichen Beziehungen, während die zur Natur weitgehend ausgeblendet werden. Diese Sichtweise bringt einmal mehr die Naturentfremdung der vergangenen Epoche zum Ausdruck, die wir dringend überwinden müssen. Denn für unsere seelische Gesundheit brauchen wir Naturbeziehungen, weil wir Beziehungswesen überhaupt sind, nicht nur Menschenbeziehungswesen. Erleichternderweise beruht die Freundschaft zur Natur auf den gleichen Voraussetzungen wie die zu anderen Menschen, so dass wir zutiefst darauf vorbereitet sind. Um uns mit Naturwesen anzufreunden, müssen wir uns öffnen, einspüren, sie genau kennenlernen und wertschätzen – also buchstäblich das gleiche in Grün.
Allerdings ist uns Heutigen der umfangreiche Erfahrungsschatz verlorengegangen, der unsere Vorfahren in ihren Naturbeziehungen gehalten hat. Deshalb habe ich das Buch Freundschaft mit der Natur geschrieben. Es beruht auf meinen langjährigen Erfahrungen als Leiter der Naturschule Wildniswandern und begleitet moderne Lehrlinge durch einen Jahreskurs. Dazu lade ich den Leser auf eine Entdeckungsreise ein, um die Natur vor der eigenen Haustür zu erkunden. Was hat der Vogel soeben gesagt? Wie schleichen wir unbemerkt und aufmerksam durch den Wald? Welcher Unterschlupf wärmt am besten? Wie werden Pflanzen und Tiere zu unseren Verbündeten? Wie erkennen wir uns im Spiegel der Natur? In einem Wechselspiel aus Geschichten, Übungen und Hintergrundwissen reifen die Antworten heran. Denn eine Freundschaft mit der Natur entsteht nur dann, wenn wir sie mit lebendigen Themen unmittelbar erfahren.
Das besagte Buch fördert unsere direkten Naturbeziehungen im Wesentlichen dadurch, dass es unsere menschlichen Zugänge zur Welt belebt. Hier unterscheide ich vier Ebenen: Geist, Körper, Seele und Verstand. Diese Ebenen im Menschen eröffnen jeweils ein Tor, durch das wir mit der Welt verbunden sind. Zusammen betrachtet zeichnen die vier Tore ein ganzheitliches Bild vom Menschen. Allerdings haben wir Modernen uns besonders auf die Kultivierung des Verstandes konzentriert und dabei die übrigen Zugänge vernachlässigt. Weil der Intellekt überbetont wurde, leidet die momentane Komposition unseres Menschenbildes unter einer erheblichen Unstimmigkeit. Wenn wir mit uns selbst und der Natur wieder ins Gleichgewicht kommen wollen, müssen wir alle Zugänge gleichermaßen wachrufen. Im Buch erziele ich diese Ausgewogenheit, indem ich vier große Bereiche aus den menschlichen Toren hervorgehen lasse, die für Verbindung sorgen: der Geist gebiert die Naturspiritualität, der Körper das Naturhandwerk, die Seele die Naturwahrnehmung und der Verstand das Naturwissen. Diese Bandbreite ermöglicht ein weites Erfahrungswissen um die Natur, das eine kraftvolle Freundschaft mit ihr braucht.
Wenn wir uns der Natur mit unserem ganzen Wesen öffnen, wird sie mit der Zeit zur guten Freundin. Dann schließt sich die Kluft zwischen Sehnsucht und Fremdheit, die uns dazu brachte, die Erde wie jugendliche, flegelhafte Liebhaber zu verehren und zu verheeren. Erst aus der Verbundenheit mit der vertrauten Freundin entsteht die Fürsorge, die heute vonnöten ist. Dafür sind Freundschaften ja da, wie wir aus Erfahrung wissen: Sollten die Freunde in eine schwere Krise geraten, werden sie sich gegenseitig hindurchhelfen. Das können wir aber nur, wenn wir die Freundin gut kennen.
Die weise Älteste
Unsere Verbindung mit der Natur zu pflegen, dürfte die wichtigste Aufgabe im 21. Jahrhundert sein. Durch freundschaftliche Beziehungen wird es uns gelingen, aus der Emigration zurückzukehren und uns friedlich auf der Erde niederzulassen. Das haben aber noch nicht alle »außerirdischen« Rückkehrer verstanden, die sich im Grunde schon auf dem Landeanflug befinden. Viele vernehmen die Notrufe der Erde und behalten sie seither im Blick, hoffen jedoch weiterhin darauf, dass die ökologische Krise allein durch eine Weiterentwicklung von Technik zu überwinden sei. Das wäre bequem, weil wir an unserem Lebenswandel nicht viel ändern müssten. Die Technikgläubigkeit bleibt aber dem modernen Machbarkeitsdenken verhaftet, das die Krise hervorgebracht hat und führt deshalb noch tiefer in die Irre. Denn die kulturellen Rahmenbedingungen bestimmen darüber, was technische Innovationen erreichen wollen, wie sie genau konzipiert werden und ob wir sie weise einsetzen. Technologien spiegeln immer den Geist einer Gesellschaft wider. Solange es im kulturellen Raum kein intimes Verständnis vom Leben auf der Erde gibt, wird uns die erforderliche Ausrichtung fehlen, wobei und wie uns neue Technologien überhaupt helfen sollen.
Was jetzt vor allem ansteht, ist eine Weiterentwicklung von Kultur
Es geht um nichts Geringeres, als eine neue Bewusstseins-, Kultur- und Gesellschaftsstufe zu entwickeln, deren oberstes Gebot die Förderung des Lebens ist. Dadurch hellen sich unsere Aussichten auf: Eine lebensförderliche Zukunft wird möglich, indem wir alte Weisheiten über das Zusammenleben auf der Erde mit modernen Errungenschaften verschmelzen. Wir brauchen eine zeitgemäße, nachmoderne Erdkultur, die es bisher nicht gab und noch nicht gibt.
Doch wer wird uns beraten, wie wir die nötige Erdung einer zukünftigen Kultur vollziehen? Das wird zunächst die gute Freundin sein. Ihr müssen wir uns öffnen, anvertrauen und wie beschrieben in Beziehung gehen. Dann sind wir von Natur nicht nur im übertragenen Sinne erfüllt, sondern gleichsam angefüllt, so dass ihre Themen in uns lebendig werden und zu sprechen beginnen. Je mehr Menschen die Stimme der Freundin aber vernehmen, desto mehr dringen ihre Anliegen bis in den kulturellen Raum hinein. Sie erhebt ihre Stimme in uns, und wir erheben ihre Stimme unter uns allen, weil freundschaftliche Fürsorge das nahelegt. So räumen wir der Erde ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft ein.
Wenn wir länger im Austausch mit der Freundin bleiben, verrät sie uns irgendwann auch, worin das Wesen des Lebens auf der Erde besteht. Dieses Verständnis wird durch eine Fülle von Erfahrungen heranreifen, die wir mit der Lebendigkeit der Natur samt unserer eigenen sammeln. Damit erfährt unsere Ansprechpartnerin eine letzte archetypische Verwandlung: Sie wird zur weisen Ältesten, die unsere Vorfahren als Erdgöttin erlebten. Stellen wir uns eine Hüterin der Weisheit vor, welche in den unendlichen Beziehungen des Erdgewebes gespeichert wurde, um Lebendigkeit hervorzubringen. Aus dieser Quelle können die Prinzipien unserer Gesellschaft neu ergrünen. Einige Zeitgenossen haben bereits begonnen, sich an die Weisheit der Erde wieder anzubinden und sie in die öffentlichen Debatten hineinzutragen. Dort ist momentan ein enormer Paradigmenwechsel im Gange, der offenbar von der weisen Ältesten eingeflüstert wurde. An die Zukunftstauglichkeit des modernen Programms glaubt heute jedenfalls kaum noch jemand. Es besagte, dass wir die natürliche Welt wie etwas Totes behandeln und fortwährend ausbeuten sollen, um immer mehr Wohlstand für eine separate Menschenwelt zu schaffen. Stattdessen zeichnet sich ein neues Erd- und Beziehungsparadigma ab, das unseren Sinn für Gemeinschaft auf die natürliche Welt ausdehnt und wieder auf die Pflege unserer Lebensbedingungen setzt. Zukünftig wird es nur noch eine Welt aus lauter lebendigen Teilnehmern geben, die miteinander in synergetischen Beziehungen stehen. Die rein »soziale Frage« nach der Verteilung des menschlichen Reichtums wird von der »ökosozialen Frage« abgelöst. Hier werden wir beantworten müssen, wie genau wir uns in die Erdgemeinschaft eingliedern wollen, so dass sie ihre lebensspendende Kraft erhält oder möglichst sogar steigert.
Dieser Perspektivwechsel wird sich durchsetzen, weil es zur Kooperation mit unseren Lebensgrundlagen keine Alternative gibt. Offen ist allerdings, wie wir mit den spätmodernen Ausprägungen der weiblichen Erdarchetypen verfahren. Werden wir schleunigst mit der guten Freundin und der weisen Ältesten über den Wandel beraten? Oder bleiben wir an der fernen Geliebten hängen, um am Ende desto schmerzlicher von der erzürnten Mutter zu einem Neuanfang gezwungen zu werden?
Eine neue Erdkultur
Angesichts unserer prekären Lage sollten wir eines nicht vergessen: Indigene Völker sind seit unvordenklichen Zeiten mit der Erde verbunden und in einem intensiven Dialog begriffen. Sie haben ihr Wissen um das Zusammenleben aller Wesen in Überlieferungen konzentriert, damit spätere Generationen davon lernen können. Wir Heutigen sind gut beraten, diesen Erfahrungsvorsprung dankend aufzunehmen. Schließlich ist den Indigenen gelungen, was unter dem Eindruck der jüngeren Geschichte kaum noch glaubhaft er scheint: Ihre Völker haben über lange Zeiträume in Frieden mit der Erde und untereinander gelebt. Im Umkreis von indigenen Siedlungen nimmt die Biodiversität in aller Regel sogar zu. Das sind keine Idealisierungen, sondern archäologisch und ethnologisch belegte Tatsachen. Wie haben diese Völker solch ein Kunststück vollbracht?
Ihr Rezept bestand und besteht in einer friedensstiftenden Kultur. Ein Bündel von kulturellen Werkzeugen sorgt dafür, dass die menschlichen Beziehungen zur Welt auf mehreren Ebenen gepflegt werden. So kann sich die Erdgemeinschaft als täglich erfahrbare Praxis etablieren.
Unser Weltverhältnis lässt sich in vier grundlegende Beziehungen unterteilen, auf die Friedenskulturen ihre Aufmerksamkeit richten. Dazu gehören unsere Beziehung zur Natur, zur Gemeinschaft, zu uns selbst und zur Geistwelt. Für die Pflege aller vier Bereiche gibt es kulturelle Routinen, die so miteinander in Resonanz stehen, dass sie eine gemeinsame Friedensabsicht verfolgen. Für diese kulturellen Werkzeuge habe ich mich auf meinen Reisen zu indigenen Völkern und Lehrern besonders interessiert. Außerdem konnte ich damit ausgiebig in der gelebten Verbindungskultur meiner Naturschule experimentieren, was zu vertiefenden Einsichten führte. Allmählich haben sich acht kulturelle Kernelemente herauskristallisiert, die sich den vier grundlegenden Beziehungen zuordnen lassen. Die folgende Aufstellung verschafft also einen Überblick, wie sich mir der Kern einer friedlichen, beziehungsstiftenden Erdkultur im Augenblick darstellt. Ich werde kurz erläutern, was mit den indigenen Kernelementen jeweils gemeint ist und Beispiele anführen, unter welchen Namen sie heute in verwandelter Form wieder aufleben:
Beziehung zur Natur
- Schon immer entstand Naturfreundschaft, indem wir unser ganzes Wesen öffnen und uns mit lebendigen Themen unmittelbar verbinden. Mit der Wildnispädagogik haben die Naturschulen eine dementsprechende, zeitgemäße Erziehungskunst entwickelt.
- Als Gabenaustausch bezeichne ich einen wirtschaftlichen Stoffwechsel aus Geben und Nehmen, der Fruchtbarkeit durch die wechselseitige Unterstützung seiner Teilnehmer erzielt. Dies wird von Allmende-Modellen in der Landwirtschaft bis hin zu Wikipedia wieder aufgegriffen, teilweise auch in der Kreislaufwirtschaft.
Beziehung zur Gemeinschaft
- Die ökonomische Grundlage des Gemeinwohls bildete die Teilung aller lebensnotwendigen Güter, insbesondere der Nahrungsmittel. Genossenschaften und Sharing-Modelle basieren auf einem ähnlichen Prinzip.
- Basisdemokratische Kreiskultur beruht auf den Regeln des Redekreises. Dazu gehören empathisches Zuhören, respektvolle Ehrlichkeit und angestrebte Einigkeit. Das wird mittlerweile in vielen Organisationen sowie in der gewaltfreien Kommunikation angewandt.
Beziehung zum Selbst
- Die Lebensaufgabe entspringt aus unserer persönlichen Begabung, deren Entfaltung nicht nur uns selbst, sondern auch dem großen Ganzen dient. Dieser Zusammenhang wird momentan als sinnstiftende Selbstverwirklichung neu erfahren.
- Übergangsrituale helfen, dem Wandel unserer persönlichen Aufgabe und gesellschaftlichen Rolle gerecht zu werden, während wir unsere Lebensstadien durchwandern. Dabei begleiten derzeit die naturbasierte Prozess-, Visionssuche und Ritualarbeit.
Beziehung zur Geistwelt
- Mit Dankbarkeit verneigen wir uns vor allem, was uns nährt und was wir nicht in der Hand haben. Damit vertrauen wir uns dem Geheimnis des Lebens auf eine bejahende Weise an, was längst von spirituellen Lehrern wiederentdeckt wurde.
- Erdspiritualität geht aus uralten Fertigkeiten hervor, die uns mit der geistigen Wirklichkeit der Welt verweben. Den Kern dieser Praxis hat unter anderem der Core-Schamanismus von Michael Harner freigelegt.
Selbstverständlich liefert diese Aufstellung nur eine Skizze, der wir mehr Farbe verleihen müssen. Dafür sollten wir Spätmodernen prüfen, inwieweit uns die erläuterten Kernelemente unterstützen können, den Übergang in eine nachmoderne Erdkultur zu gestalten. Immerhin haben sich die dazugehörigen Kulturwerkzeuge nicht nur bei Indigenen bewährt, sondern ihr heutiges Potential in zeitgemäßen Weiterentwicklungen bewiesen. Letztere müssen wir nun breiter erproben und aus der gesellschaftlichen Praxis heraus vervollkommnen. Dabei steht uns der Balanceakt bevor, die ursprüngliche Kraft der Kulturwerkzeuge zu erhalten und für ihre Anschlussfähigkeit mit der Gegenwart zu sorgen. Sicher ist jedenfalls, dass folkloristische Nachahmungen von alten Völkern nicht in eine neue Erdkultur führen. Verbreiten werden sich die Werkzeuge nur, wenn sie lebenswerte Lösungen für aktuelle Bedürfnisse und Erfordernisse anbieten. In der Kulturevolution gibt es kein epochales »Zurück«, weshalb ein passendes Motto für heute lautet:
Vorwärts zur Natur!
Der Autor
Matthias Blaß leitet die Naturschule Wildniswandern, die Touren, Seminare und Ausbildungen in freier Natur anbietet. Seit 25 Jahren begleitet er Menschen jeden Alters dabei, auf der Erde wieder heimisch zu werden. Zahlreiche Reisen führten ihn zu indigenen Völkern und Lehrern, wodurch er intensiv mit dem Wissen alter Kulturen vertraut wurde. Daraus hat sich ein wildnispädagogischer Ansatz entwickelt, der auf hartes Survivaltraining verzichtet und vielmehr dazu einlädt, im Einklang mit der Natur zu leben. Sein Buch „Freundschaft mit der Natur“ ist ein tiefgreifender Jahreskurs in Naturverbundenheit.