„Frieden mit der Natur“ ist eine Serie von Essays aus dem gleichnamigen Band, der anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Verlags Neue Erde zusammengestellt und uns zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.
Im nachfolgenden Essay versetzt sich Coco Burckhardt, die auf einem Selbstversorgerhof in der Bretagne lebt, ins Innere eines Felsens und erzählt aus dessen Perspektive die Entwicklung des Menschen von einem, der die Sprache der Vögel verstand, hin zu einem, der sich die Mitgeschöpfe und die Natur als Maschinen vorstellt, und endet mit einem Appell an die Menschheit zur Umkehr.
Ein Fels erzählt
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Ich sah die Ozeane schwinden und die Kontinente entstehen, schaute den Gebirgen beim Wachsen zu und den Flüssen sich ihre Wege bahnen durch das Land.
Ich freute mich am ersten Grün, den ersten Bäumen und der ersten Blume.
Hörte das erste Surren der Insekten, sah die erste Raupe sich in einen Schmetterling verwandeln, staunte über den Flug der Vögel und das weiche Fell der Tiere, die ihre schutzlosen Jungen damit wärmten.
Es war schön, dem Gedeihen der Schöpfung beizuwohnen – so viel Vielfalt, so viel Farbe, so viele Fähigkeiten, so viel Musik, so viel Schönheit.
Eines bedingte das andere, eines war des anderen Nahrung – alles hatte seinen Platz, alles seinen Sinn.
Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen war geschaffen.
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Dann, nach vielen Zeitaltern, brachte die Natur ein neues Wesen hervor, anders als die Wesen zuvor. Es war zu ungewöhnlichen Dingen fähig, konnte mehr als ihr Pflanzen und ihr Tiere. Wir schauten zu, wie es begann, das Land zu durchwandern, wie es den Eiszeiten trotzte, Herr über das Feuer wurde und sich mit seinen geschickten Händen zu helfen wusste.
Nach der letzten großen Winterruhe der Welt veränderte sich das neue Wesen rasch. Vielerorts, wo das Wetter und ihr Pflanzen und ihr anderen Tiere es zuließen, wurde dieses jüngste Mitglied der Schöpfung sesshaft.
Es nannte sich Mensch, machte die Wildnis zu Gärten, vermehrte sich und begann die Zeit zu zählen.
Noch verstand es die Sprache von euch Vögeln, freute sich an eurem Flug, erkannte darin Botschaften der künftigen Tage.
Wusste das Surren und Zirpen von euch Insekten zu deuten, wie auch die Wolken und das abendliche Licht.
Es war den Sternen noch so nah wie der Erde, wie uns Steinen, euch Wassern, euch Kindern aus Flora und Faunas Reich und auch sich selbst.
Doch mit jeder gezählten Stunde entfernte es sich von seinem, von unserem Ursprung. Es vergaß, dass Blume und Baum, Fels und Fluss, Dachs und Drossel seine Geschwister sind.
Es vergaß, sich zu erfreuen am ausgelassen zwitschernden Flug von euch Schwalben, die ihr damit den sommerlichen Abend begrüßt.
Es vergaß, still zu werden, wenn es an euch Flüssen oder unter euch Bäumen saß.
Es vergaß auch, nur so viel zu nehmen, wie es zum Leben brauchte.
Dafür begann es, Hierarchien zu schaffen und stellte den einen über den anderen.
Die Erde ist groß, und nicht überall geschah diese Veränderung so zeitig.
An manchen Orten der Welt blieb der Mensch noch lange mit seinem, unserem Ursprung verbunden.
Doch dort, wo ich stehe, auf dem Teil der Erde, den er heute Europa nennt, eilte diese Veränderung am gravierendsten und schnellsten voran.
Im Vergleich zu seinen Kindertagen ward hier schon viel vergessen, aber man ehrte noch Mutter Erde und suchte ihre Nähe in den großen Wäldern.
Doch dann kam ein Stern mit Schweif und verdrängte den Mond.
Aus dem Kreislauf wurde ein Diesseits und ein Jenseits, ein Gut und ein Böse.
Es war ein Glaube, wie die Welt erschaffen wurde und zusammengehalten wird, der aus den Wüstenregionen stammte, wo Mutter Erde den Menschen und euch anderen Kindern der Schöpfung nicht mit Üppigkeit und Überfluss entgegentritt.
Dort war es der Nachthimmel, der Trost spendete und der Sitz allen Ursprungs war. (1) Der neue Glaube war im Grunde voller Liebe und hätte nicht nur Vater Himmel, sondern auch Mutter Erde und alle Mitgeschöpfe gleichermaßen ehren können.
Warum die Menschen dies nicht verstanden, weiß ich nicht.
Und dann veränderte sich alles sehr rasch – unter euch Bäumen gibt es noch ein paar, die sich erinnern, wie es war.
Anstatt zu teilen, wurde geraubt, anstatt zu helfen, wurde das Leid größer, die Hierarchien stärker und ohne Sinn Leben ausgelöscht.
Das wunderbare Geschenk, das den Menschenkindern mit auf den Weg gegeben wurde, ihr Erfindergeist, ihre Schöpferkraft wurde weniger für das Leben als vielmehr für dessen Zerstörung genutzt.
Sie schürften die Schätze der Erde und wurden doch nicht reicher.
Sie dachten sich die Mitgeschöpfe und die Natur als Maschinen.(2)
Sie hatten schon lange nicht mehr darauf geachtet, ihr Seelenlied zu hören, die Melodie, nur für sie bestimmt und draußen in der Stillen der Natur zu erfahren – das Lied, das ihrer Seele Wahrhaftigkeit schenkt.
Vielleicht begannen sie deswegen schließlich auch damit, sich als Schöpfer zu verstehen und ohne Bedacht in die kleinsten Bausteine des Lebens einzugreifen.
Wir alle stehen vor einer Zeitenwende, denn dem Menschen droht der eigene Untergang durch sein rücksichts- und respektloses Verhalten.
Viele von euch Pflanzen und Tieren gibt es nur noch als Erinnerung, da eure Arten durch die Menschen ausgelöscht wurden – durch den Raub eures Lebensraums oder aus Gier nach eurem Fleisch, Fell oder Gebein.
Viele von uns Felsen und Gesteinen sind nicht mehr – wurden abgetragen zum Nutzen weniger.
Und ihr Flüsse wurdet verschmutzt und verändert in eurem Lauf.
Auch wenn so viel Schönheit und Vielfalt auf immer verloren ist, so wird sich die Schöpfung, die Natur erholen und weiter bestehen.
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Menschenkinder, Teil der Schöpfung, Teil der Natur wacht auf – erkennt endlich wieder, wer und was ihr seid.
Ihr habt so viele Fähigkeiten, ihr habt so viele schöne Dinge geschaffen.
Eure Sprache ist der Poesie mächtig, eure Hände und euer Mund der Musik, euer Denken und euer Geschick baut Häuser aus Holz und Stein.
Ihr verändert Metalle zu Objekten der Anmut, habt von euren Mitgeschöpfen gelernt.
Was ist geschehen?
Warum wurde euer Übermut zu Respektlosigkeit und diese dann zu Dummheit?
Solch große Dummheit, dass ihr nie aus euren Fehlern gelernt habt.
Ihr habt so viel Leid über die Welt gebracht in dem Glauben der Schritt nach vorn – der Fortschritt – sei der einzige, euch vorbestimmte oder angemessene Weg.
Kehrt endlich zurück, ihr seid zu weit fort geschritten von eurem Ursprung.
Wollt nicht immer mehr, denn dies ist nie genug.(3) Hört die Worte eines klugen Mannes, der vor langer Zeit gelebt hat: »Der größte Reichtum ist die Selbstgenügsamkeit. Die schönste Frucht der Selbstgenügsamkeit ist die Freiheit.«(4)
Werdet wieder frei von den Dingen, die ihr euch selbst geschaffen habt.
Ihr nennt so vieles »praktisch«, doch was ich sehe, ist oft nur ein Kerker, in den ihr euch selbst begeben habt. Diese kleinen Apparate, die wie vieles andere von euch so laut sind, euch so unfrei machen und ablenken und dabei jedes Zwitschern eines Vogels, jedes Zirpen einer Grille, jedes Plätschern eines Baches und den Regen auf dem Laub der Bäume übertönen.
Schaut nur ein wenig zurück, wie ihr einst wart.
Geht wieder hinaus und hört die Stimmen der Natur, hört euer Innerstes, euer Seelenlied.
Geht wieder hinaus und schaut die Wunder im ersten Grün, auf weißem Schnee, im Samen des Ruprechtskrauts und in der Färbung der Herbstblätter.
Geht wieder hinaus und riecht den Duft der Walderdbeere, die Luft nach einem Sommergewitter und das salzige Wasser der Ozeane.
Geht wieder hinaus und spürt das weiche Moos unter euren Füßen, den Wind auf eurer Haut und die Regentropfen auf eurem Gesicht.
Lernt von euren Kindern, die noch staunen können und jeden Tag ein Wunder entdecken – sie reden noch mit Steinen und danken den Blumen.(5)
Lernt von den Gemeinschaften, die ihr »Indigene« nennt. Sie wissen oft noch etwas von dem Flug der Vögel, von den Wolkenbildern, von der Dankbarkeit gegenüber Mutter Erde und all unseren Mitgeschöpfen.(6)
Lernt von Menschen, die der Worte mächtig waren, die Schönheit der Natur im Inneren und Äußeren zu beschreiben.(7)
Und habt keine Angst, dass eure gewonnenen Erkenntnisse im Widerspruch zu einer belebten Welt stehen – sie können Hand in Hand gehen.
Nehmt teil am Lauf der Jahreszeiten, am Erwachen im Frühling, an der Fülle des Sommers, dem Reifen im Herbst und der Ruhe des Winters. Feiert ihre Feste und nehmt sie mit all euren Sinnen wahr.
Erkennt, dass Dankbarkeit ein großes Geschenk ist, denn sie zeigt einem, dass man geliebt wird.
Liebe Menschen, kommt heraus zu uns und seht, dass die Natur nicht nur Kulisse für euer Leben ist, sondern erkennt, dass ihr ein Teil von ihr seid, so wie die Pflanzen, Pilze, alle anderen Tiere, die Flüsse und wie ich, der Fels. Dann werdet ihr Frieden haben mit der Natur und mit euch selbst… Und vielleicht werdet ihr dann noch ein wenig weiter bestehen.
Ich bin ein Fels – ich war schon da – zur Geburtsstunde der Welt.
Anmerkungen:
(1) Ein sehr gutes Buch mit Beiträgen diverser Theologen und Religionswissenschaftler über den Einfluss der Christianisierung auf das Naturverständnis in Mitteleuropa: Hunold, Gerfried (Hrsg.): Ökologische Theologie und Ethik – 1999
(2) Der Fels bezieht sich auf den Mechanizismus, das mechanische Weltbild, das sich in der frühen Aufklärung begründet hat, bekanntester Vertreter Descartes.
(3) Immer mehr ist nicht genug – Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit von Bernhard Ungericht ist der Titel eines sehr guten Buches über die Geschichte unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems seit der Antike.
(4) Zitat von Epikur von Samos (341–271 v. Chr.)
(5) Ein Buch, das nach den heutigen Ansprüchen einer Argumentation, sprich jede Menge wissenschaftliche Studien klar herausarbeitet, wie die Natur auf allen Ebenen der kindlichen und erwachsenen Entwicklung eine extrem positive Wirkung hat: Raith Andreas, Lude Armin: Startkapital Natur – wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert.
(6) Sehr empfehlenswertes Essay mit dem Titel Indigenialität dazu von dem Philosophen Andreas Weber, erschienen Nicolai Verlag
(7) Henry David Thoreau wird als einer der größten amerikanischen Schriftsteller bezeichnet. Diesen Titel trägt er meiner Meinung nach etwas unverdient. Für mich ist er ein Mystiker, liest man seine Essays, seine Tagebücher so kann man einen tiefen Einblick in die Schönheit der inneren und der äußeren Natur bekommen.
Noch ein paar Liebeserklärungen an: den Ruf der Käuzchen – das Taubenschwänzchen – die Glöckchen der Stieglitze – den Zug der Kraniche – das Samtschnäuzchen einer Ziege – das Wachsen eines Baumes – der Duft eines Apfels – die Blütenverfärbung der Frühlingsplatterbse und des Lungenkrauts – das Auskringeln eines Farnblatts – die Fülle einer Brombeerböschung – das Blau der Wegwarte – das Violet der Flockenblume – das Leuchten der Mohnblüte – den Samen des Löwenzahns – das Flüstern der Pappeln – das weiße Licht der Bretagne – die Form einer Schneeflocke – frostumhülltes Gebüsch – das junge Grün der Laubbäume – den Duft der Lindenblüten – das Wiedererwachen der Vogelstimmen nach einem Gewitter – die harzige Luft in einem sommerlichen Kiefernwald – Schritte durch Herbstlaub – den goldenen Regen der Lärchennadeln – die Silhouette der Gräser gegen den Abendhimmel – die Dämmerung – den Blütenduft der Nachtfalterpflanzen in der Dunkelheit – die Stille der Nacht – den Geruch der Erde
Die Autorin
Coco Burckhardt lebt auf einem Selbstversorgerhof in der Bretagne. Sie ist eine deutschsprachige Autorin und Seminarleiterin für Wildpflanzen- und Pflanzenvolkskunde mit langjähriger Erfahrung in der Wald- Naturpädagogik. Mit ihrer Arbeit möchte sie den Menschen helfen das Wunder der Natur zu erkennen, eine tiefe Verbundenheit zu ihr zu spüren und wieder aufzubauen – der Mensch als Teil der Schöpfung und nicht über sie erhaben. Mit ihrem letzten Buch „Pflanzenbrauch im Jahreslauf – Mit Baum und Kraut im Reigen der Jahreskreisfeste spielen, heilen und genießen“ begleitet sie die Menschen durch das Jahr.
www.waldundwiesenwonne.de