Kriege, Flucht, Klima – die Wirklichkeit als permanentes Inferno. Unsere Sicht auf die Welt bestimmt das Negative. Viele von uns pflegen ihr ignorantes, bequemes Unwissen. Dabei gibt es auch positive Entwicklungen – nur: wir nehmen solcherlei gute Nachrichten nicht zur Kenntnis. Kein guter Zustand.
Essay von Helmut Ortner
An einem November-Samstagsabend, bei einem angenehmen Abendessen unter Freunden, wurde, als es dem süßen Dessert zuging, mal wieder diskutiert, lamentiert und geklagt: über die Welt, in der wir leben, und der es nicht gut geht. Klima-Katastrophe, Kriege, Hunger, Flucht – und ja, klar … die »Politische Klasse«, diese karrieresüchtigen, selbstbezogenen, narzisstischen Ego-Typen. Kurzum: es war ein anregender, launischer Abend. Eine Runde gleichgesinnter Pessimisten (bis irgendwer dann die Frage stellte, zu welchem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte man denn gerne gelebt hätte… Was ist das denn für eine Frage? … Kollektives Kopfschütteln, ausholende Gesten, großes Palaver. Und doch fand die Tischgesellschaft rasch eine einhellige Antwort: Heute! Unbedingt!
Nur Robert, seit jeher ausgestattet mit einer soliden Grundausstattung an Gegenwartsverachtung, blieb seiner Rolle als eigensinniger Solitär gerecht. Ja, es stimme, es gibt viele Verbesserungen auf der Welt, aber ist es nicht so: die Kriege, der weltweite Terrorismus, Hundertausende auf der Flucht, die Meere verschmutzt, das Polareis schmilzt. Nicht zu übersehen, der weltweite Rüstungswahn, das organisiertes Verbrechen … und dazu noch eine Welt voller zweifelhafter Polit-Figuren: Putin, XI Jinping, Lukaschenko, Erdogan, Trump – allesamt finstere Diktatoren und Menschenschinder. Er sei amüsiert über unsere hedonistische Einfalt, die entweder einer naiven Weltsicht oder luxuriöser Ignoranz geschuldet. In jedem Fall ein törichter Eskapismus sagt Robert. Sein Fazit: die Gegenwart sei absolut konkurrenzfähig mit düsteren Vor-Zeiten, nichts sei besser geworden. Im Gegenteil, allerorten Gier, Egoismus, Machtmissbrauch, Dummheit. Wir einigten uns schließlich darauf: Wir leben in unsicheren, wirren, ambivalenten Zeiten. Alte Gewissheiten gelten nicht mehr.
Mein Freund Robert ist kein Griesgram, kein Misanthrop, doch er ist in guter Gesellschaft. Die Mehrheit hierzulande glaubt, die Weltlage habe sich verschlechtert. Sie ist sich darin einig, dass die Welt moralisch zerfällt, Kriminalität beängstigend steigt, »die Politik« unglaubwürdig und selbstbezogen ist. Und gibt es nicht immer mehr Kriege, die zu Flucht und Vertreibung führen? Schließlich: was ist mit den Umwelt-Katastrophen, den Folgen unseres selbstverschuldeten Klima-Desasters? Allerorten Ignoranz, Niedergang und Düsterheit. Es grassiert ein kollektiver Defätismus befeuert von professionellen Schwarzsehern und Untergangs-Propheten. Wer auf einzelne positive Entwicklungen verweist, muss sich den Vorwurf der Verharmlosung und Relativierung gefallen lassen.
Wer hat recht? Oder besser: Was bleibt zu tun? Vor allem: Was sollten wir unterlassen? Statt uns in politischen Schaukämpfen zu profilieren, in privaten Schein-Debatten gegenseitig einer besseren Moral zu versichern, wäre es sinnvoller und sich um reale Missstände zu kümmern oder wie der Volksmund fordert, beginnen, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Befragt man die Menschen zu Ihrem Nahbereich, sieht die Sache ohnehin anders aus: Sie schätzen ihr Umfeld durchaus positiv ein. In seinem Buch »Moralspektakel« drückt der Philosoph Philipp Hübl diese paradoxe Wahrnehmung der Lebens-Wirklichkeit sarkastisch aus: „Die Welt geht unter, doch bei mir ist alles in Ordnung”. Was geht da vor? Reden wir herbei, was beklagt und beschworen wird?
Tatsache ist: es gibt auch hoffnungsvolle Fakten, Zahlen und Statistiken gegen die grassierende Gegenwartsverzweiflung. Wir unterschätzen den weltweiten Rückgang der Armut, ignorieren, dass über 60 Prozent aller Mädchen in Ländern mit niedrigen Einkommen mittlerweile die Grundschule absolvieren, nur wenige ahnen, dass heute weniger als halb so viele Menschen bei Naturkatastrophen sterben wie vor 100 Jahren und 80 Prozent aller Einjährigen geimpft werden. Wir registrieren kaum, dass sich die Rechte der Frauen, dass sich Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit in vielen Teilen der Welt in den letzten Jahrzehnten erfreulich verbessert haben.
Krankheiten, Armut und Hunger sind signifikant zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdoppelung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat. Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das sind weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils. Noch 1970 waren 30 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern der Welt unterernährt, heute sind es etwa zehn Prozent.
Die Welt ist schlecht – und sie wird immer schlechter. Oder: Unser ignorantes, bequemes Unwissen.
Obwohl die Weltlage sich im Vergleich zu früheren Zeiten zum Besseren gewandelt hat, sind viele Menschen der Meinung, sie hat sich deutlich und beängstigen verschlechtert. Viele von uns – mich nicht gänzlich ausgenommen – pflegen ihr pessimistisches Weltbild, böse gesagt, – ihr ignorantes, bequemes Unwissen. Die Welt ist schlecht – und sie wird immer schlechter.
Dabei sind es doch gerade wir Europäer, insbesondere wir Deutschen, denen es vergönnt ist, seit langem friedlich, sicher, gesund und wohlhabend zu leben. Das heißt nicht, dass alles gut ist, aber es heißt, dass das meiste, was Menschen im Leben wichtig ist, heute viel besser ist, als es in der Vergangenheit war. Wir leben auf einer Insel der Glückseligen, trotzdem sprechen wir ständig von Krisen, von dem, was nicht so ist, wie wir es uns wünschen. Kein Wunder, dass Sozialpsychologen mitunter von einem »Zusammenbruch des Zukunftsoptimismus« sprechen. Was also stimmt? Die Antwort: Beides! Die Welt ist schlecht. Und: Die Welt ist besser als früher.
Ich selbst bin kein besonders optimistischer Mensch. Meine Freude sehen in mir allenfalls einen alltagskompatibler Skeptiker, mitunter einen Nörgler. Es ist noch nicht so weit, dass ich zu keinem Abendessen mehr eingeladen werde, aber für lustige Spielabende bin ich gänzlich ungeeignet. Und es geht mir tatsächlich nicht darum, die Welt positiv zu sehen, dort, wo sie nun einmal schlecht ist. Aber immerhin: ich bin dabei, mir klarzumachen, dass die Welt anhand messbarer Daten weitaus besser ist, als wir mitunter denken. Es geht nicht um Optimismus, sondern um Realismus.
Hilfreich ist, über den heimischen Tellerrand hinaus zu schauen und das eigene Bauchgefühl einem Wirklichkeits-Test zu unterziehen. Nützlich kann dabei beispielsweise die Lektüre von »Factfulness«, einem Buch von Hans Gösta Rosling sein, Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institute und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. Er hielt weltweit Vorträge, in denen er die Verwendung von Statistiken zur Analyse von Entwicklungsproblemen bewarb.
In Zeiten von Fake News ist es verdienstvoll, wenn ein Autor ganz auf Fakten setzt. Der 2017 verstorbene Gesundheitsforscher war so einer. In seinem Buch, das sein Sohn und dessen Ehefrau zu Ende geführt haben, wird deutlich: Erst wer die Fakten kennt, kann seine Situation richtig einschätzen. Deutlich wird das mitunter an einfachen Fragen, beispielsweise dieser: Inwieweit hat sich in den letzten 20 Jahren der Anteil extrem armer Menschen verändert? Hat er sich a) fast verdoppelt, b) nicht verändert oder c) deutlich mehr als halbiert? Letzteres ist richtig. Aber die wenigsten Menschen wissen das. Wir alle sind pessimistisch, wir lieben dramatische Nachrichten und übersehen deshalb systematisch hoffnungsvolle Fakten«, so die Erkenntnis Roslings. Mit seinem Buch wollte er das ändern: „Hier finden Sie Daten, wie Sie sie bisher nicht kannten“. Daten der Aufklärung.
Rosling Buch – mittlerweile ein vielgelesener und diskutierter Longseller – verkündet gute Botschaften, etwa wenn es um Fakten zur weltweiten Armut geht. Im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, nahezu halbiert. Im Jahr 1800 lebten ungefähr 85 Prozent der Menschen in extremer Armut. Überall auf der Welt hatten die Menschen schlicht nicht genügend zu essen. Auf diesem Niveau lebte bis etwa 1966 die Mehrzahl der Menschen. Bis dahin war extreme Armut die Regel, nicht die Ausnahme. In den letzten 20 Jahre hat sich die extreme Armut schneller vermindert als in jeder anderen Phase der Weltgeschichte. 1997 lebten in China und Indien 42 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut. 2017 hatte sich dieser Anteil in Indien auf zwölf Prozent verringert: 270 Millionen Menschen weniger lebten in extremer Armut als 20 Jahre zuvor. Lateinamerika senkte seinen Anteil von 14 Prozent auf vier Prozent: weitere 35 Millionen Menschen. Es stimmt, alle Schätzungen zu extremer Armut sind sehr unsicher, wenn sich jedoch solche Veränderungen zeigen, passiert unzweifelhaft etwas Großes. Wir ignorieren das gerne.
Mediale Selektion konstruiert die Wirklichkeit. Oder: Die Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes
Warum aber nehmen wir solcherlei gute Nachrichten nicht zur Kenntnis? Warum schauen wir so düster auf die Gegenwart und sehen um uns herum nur Katastrophen, Krisen und Verfall? Kognitions-Psychologen, die sich damit beschäftigen, verweisen darauf, wie unzuverlässig, ja launisch die menschliche Wahrnehmung ist. Wie stark unsere momentanen Gedanken und Gefühle allgemeine Bewertungen steuern. Wir unterliegen einer »selektiven Verfügbarkeit«, die dafür sorgt, dass Gegenwart im Vergleich immer schlecht abschneidet. Wenn wir unsere Ist-Situation bewerten, fallen uns Probleme ein. Denken wir an die Vergangenheit, sind die Probleme verblasst oder aus unserer Erinnerung »gelöscht« – in jedem Fall weniger dramatisch. Unser Gehirn scheint den negativen Signalen den Vorrang zu geben. Fragt man also beispielsweise nach der inneren Sicherheit, fällt den meisten dazu ein, früher habe es weniger Verbrechen und Gewalt gegeben. Da kann man noch so häufig auf Kriminalstatistiken hinweisen, die deutlich zeigen, dass hier ein Trugschluss vorliegt: die Kriminalität nimmt insgesamt seit Jahren ab. Subjektives Bedrohungsgefühl und reale Gefahr liegen hier besonders weit auseinander. Medien nutzen diese Wahrnehmungsmuster – und verstärken sie. Die Kommunikationsforschung spricht vornehmer von einer »Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes«.
„Wir sind einem Trommelfeuer negativer Nachrichten aus allen Teilen der Welt ausgesetzt: Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen, politische Fehlentscheidungen, Korruption, Haushaltskürzungen, Krankheiten, Massenentlassungen, Terroranschläge«, konstatiert Rosling und mutmaßt, »dass Journalisten, die über Flüge berichten, die nicht mit einem Absturz enden, oder über Ernten, die nicht fehlschlagen schnell ihren Job verlieren« würden. Wir können es nicht übersehen: Langsame, allmähliche Verbesserungen schaffen es nur selten auf die Titelseiten, selbst wenn sie eine große Tragweite haben und Millionen Menschen betreffen. Bad news is good news… Boulevard vor Relevanz.
Im digitalen Zeitalter ist die Geschwindigkeit dieser Informations-Dynamik exponentiell gestiegen. Wir erfahren mehr, als wir verarbeiten, ja verkraften können. Es geht es vor allem um drastische Ereignisse und eklatante Missstände. Dagegen thematisieren die Nachrichten selten den sozialen Fortschritt, der sich stetig vollzieht. Zahlen, Informationen, Bilder, Likes, Klicks – das alles prägt und formt unser Wissen, Halb-Wissen und Falsch-Wissen.
Unsere Sicht auf die Welt wird so verlässlich ins Negative verzerrt. Wirklichkeit als permanentes Inferno. Die Folge: »Wir sind ständig gestresst, unser Gehirn ist dauerhaft im Angstzustand. So gewinnen wir keinen Überblick über das, was unsere Welt bewegt, was uns Sorgen machen sollte, aber auch Hoffnung bringen kann«, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner und beschreibt eindrucksvoll, was in dieser modernen, rasanten Medienwelt schiefläuft und wie unser Hirn täglich vor einem digitalen Informations-Tsunami kapituliert. Niemals zuvor hatten wir Zugriff auf so viel Informationen, trotzdem sind wir nicht unbedingt »wirklichkeitsnah« informiert. Mediale Selektion konstruiert die Wirklichkeit.
Hans Rosling, der Mann der Fakten, liefert stattdessen Fakten: So zum Beispiel ist in Amerika die Gewaltkriminalität seit den 1990er-Jahren im Rückgang. Im Jahr 1990 wurden knapp 14,5 Millionen Gewaltdelikte registriert. Im Jahr 2016 lag diese Zahl nur noch bei weit unter 9,5 Millionen. »Jedes Mal, wenn etwas schrecklich Schockierendes passierte, also so gut wie jedes Jahr, war gleich von einer Krise die Rede. Die Mehrheit der Menschen befindet sich die meiste Zeit in dem Glauben, dass die Gewaltkriminalität immer schlimmer werden würde. Es ist also kein Wunder, dass wir in der Illusion ständiger Verschlechterung leben«.
Es gibt zwar keine schnellen Lösungen herauszukommen aus dem realen Wirklichkeitsgeflecht, aber Hoffnung gibt es. Muss es geben. »Wir haben weiterhin Grund«, schreibt Rosling, »uns Sorgen zu machen. Solange es Flugzeugabstürze, vermeidbare Kindersterblichkeit, die Bedrohung von Arten, Leugner des Klimawandels, chauvinistische Männer, verrückte Diktatoren, Giftmüll und eingesperrte Journalisten gibt und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts keine Berufsausbildung machen dürfen, solange einige dieser schlimmen Dinge existieren, können wir uns nicht entspannt zurücklehnen. Doch es ist ebenso lächerlich und ebenso belastend, einfach die Augen zu verschließen vor dem Fortschritt, der erzielt wurde. Oft nennen mich die Leute einen Optimisten, denn ich zeige ihnen die enormen Fortschritte auf, von denen sie nichts wissen«.
Mit dem Verdacht, ein unerschütterlicher Optimist zu sein, konnte Hans Rosling leben. Und so finden sich auf den 400 Seiten seines Buches zahlreiche Diagramme, Kurven und Statistiken, die aufräumen mit Halbwissen und gefühlten Wahrheiten. Viele kluge Ratschläge, die helfen, nach den relevanten Zahlen zu fragen und sie einzuordnen. Sein Ziel: Neugier auf Fakten zu wecken und zum Selbstdenken anzuregen. Fehlende Fakten sind aber nicht nur ein Problem in der öffentlichen Debatte. Genauso wichtig ist die Neigung, Fakten für irrelevant zu halten. Wem, wie meinem Freund Robert, sein Weltbild über alles geht, der wird nicht unbedingt nach der Lektüre von Büchern greifen, die das eigene, sorgsam gepflegte Weltbild in Frage stellen.
Demokratie ist, wie der Berliner Sozialwissenschaftler Herfried Münkler einmal bemerkte, eine träge Maschinerie, konzipiert, um Entscheidungen zu verlangsamen. Notwendig und nützlich sind hoffnungsfrohe Stimmen und, erkenntnisreiche Bücher, wie das Buch von Hans Rosling. Ja, es ist nüchtern und wissenschafts-basiert zu fragen, was zu tun ist, was notwendig ist: eine andere Form der Wirtschaft, eine friedliche Koexistenz mit Klima und Natur, ein Verzicht auf Gewalt. Die Zeit ist knapp. Es braucht Menschen, die sich trauen, gegen tradierte Denkmuster und Polit-Schablonen anzudenken und neue Möglichkeiten und Perspektiven zu entwerfen.
Meinem Freund Robert, dessen faktenfreies Weltbild ihm über alles geht, möchte ich in diesen rasanten, unwirtlichen und mitunter unübersichtlichen Zeiten das Buch empfehlen. Und ihn an Kants Bild vom aufgeklärten Menschen zu erinnern, dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.” Denn „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Ansonsten gilt unisono: Nein, der Zustand der Welt ist nicht rosarot, aber wir sollten nicht so tun, als wüssten wir nicht, was zu tun ist.