Vor dem Hintergrund einiger Streiks für eine 35 Stunden-Woche, fühlte sich der Wirtschaftsminister Habeck im März 2024 herausgefordert, auf einer Mittelstandstagung einige philosophische Reflexionen über die Arbeit anzustellen.
„Jedenfalls wird ein bisschen im Moment zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt bzw. geworben.“ (Habeck)
„Der Mensch muss denken und ich muss für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht.“ (König Peter in „Leonce und Lena“ von Georg Büchner)
Vor dem Hintergrund einiger Streiks für eine 35 Stunden-Woche, fühlte sich der Wirtschaftsminister Habeck im März 2024 herausgefordert, auf einer Mittelstandstagung einige philosophische Reflexionen über die Arbeit anzustellen. Die haben es in sich und insbesondere Leute, die das Vorurteil pflegen, dass die Grünen (oder auch die SPD) sozialpolitisch soviel besseres tun könnten, wenn sie nicht ständig von der FDP ausgebremst werden würden, sollten diese Rede mal genau zur Kenntnis nehmen. Zumindest macht es dieser Text und zeigt auf, wie damit in den Grundzügen die „Wachstumsinitiative“, die von der Bundesregierung mit der Haushaltsplanung 2025 aktuell (Juli 2024) ausgerufen wird, legitimatorisch vorbereitet wird.
Der Hintergrund: Streiks für die 35-Stunden-Woche
Im Frühjahr 2024 haben ver.di und die GDL für die 35 Stunden-Woche gestreikt. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich darüber überwiegend echauffiert. Da nützte es nichts, dass die GDL immer wieder betont hat, dass es nur um die Schichtarbeiter*innen geht. Deren Jobinhalt hat eine Intensität erreicht, die bei Schichtarbeit schlicht viele Krankheitstage produziert. Das Personal hält den Job nicht lange durch und Berufseinsteiger werden aufgrund der miesen Arbeitsbedingungen abgeschreckt. Die Bahn reicht dann den verstärkten Intensitätsdruck an die noch vorhandenen Lokführer*innen weiter, so dass das Drangsal potenziert wird. Genauso sieht die Diagnose von ver.di aus: „Täglich kommt es durch hohe Krankenstände und den Personalmangel zu Fahrtausfällen. Schon jetzt fehlen ca. 80.000 Beschäftigte. Einen guten und verlässlichen ÖPNV wird es nur geben, wenn sich endlich die Arbeitsbedingungen ändern.“1
Kurzum: Beide Gewerkschaften haben explizit gesagt, dass ihre Lohnarbeiter*innen nicht einfach weniger Arbeit leisten wollen, damit sie schlicht ein besseres Leben haben – so ein Standpunkt ist den deutschen Gewerkschaften fremd. Die Gewerkschaften haben betont, dass die bereits erhöhte Arbeitsleistung, hervorgerufen durch Intensitätssteigerungen, durch ein Weniger an Arbeitszeit kompensiert werden müsse, soll der Geist und Körper der Arbeitenden weiterhin einigermaßen für die Lohnarbeit parat stehen. Diese Forderungen sind objektiv sehr dienstbeflissen. Und nur wer den Unterschied zwischen einer Arbeitsstunde und der variablen Masse an Arbeit(sleistung), die man in so eine Stunde stopfen kann, nicht kennt oder wahrhaben will, entdeckt in den gewerkschaftlichen Forderungen den Unfug, der derzeit der Generation Z angedichtet wird. Auf den Zusammenhang von Arbeitszeitverkürzung zum Zwecke, mehr Arbeit aus den Leuten rauszuholen, hat Marx mal so hingewiesen:
„Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die Tendenz des Kapitals, sobald ihm Verlängerung des Arbeitstags ein für alle Mal durch das Gesetz abgeschnitten ist, sich durch systematische Steigerung des Intensitätsgrads der Arbeit gütlich zu tun und jede Verbessrung der Maschinerie in ein Mittel zu größerer Aussaugung der Arbeitskraft zu verkehren, bald wieder zu einem Wendepunkt treiben muss, wo abermalige Abnahme der Arbeitsstunden unvermeidlich wird.“ (Kapital Band 1, S. 439)
Neben der extensiven Leistung tritt die intensive Leistung und sie stehen wechselseitig in einem gewissen Gegensatz: Manche Intensitätsschritte sind mit der vorhandenen Arbeitszeit überhaupt nicht durchzuhalten, so dass eine Arbeitszeitverkürzung erst eine intensivere Arbeitsverausgabung erlaubt. Dass die Arbeitszeitverkürzung kein Schaden, sondern ein Mittel des Kapitals sein kann, zeigen auch Testläufe: In Deutschland wollen 45 Unternehmen – angeleitet von der NGO „4 Day Week Global“ – mit einer 4-Tage Woche herumexperimentieren und prüfen, ob sie die Arbeitsleistung von 5 Tagen nicht in 4 Tage reingepresst bekommen: „Die teilnehmenden Unternehmen sollen das Modell 100-80-100 verfolgen: 100 Prozent Leistung in 80 Prozent der Zeit bei 100 Prozent Bezahlung.“ (FAZ, 05.02.2024, S. 17.)
In diesem Testlauf geht es zwar nicht um absolut mehr Arbeitsleistung, sondern um genauso viel in kürzerer Zeit. Dieses Arbeitsverdichtungsprojekt sollte man aber exemplarisch im Hinterkopf behalten, wenn heutzutage Politiker*innen antreten und mal locker dafür plädieren, dass man auch wieder ein bisschen mehr arbeiten könne, ging ja früher auch. Deren Arbeitszeitverlängerungsvorschläge sind dann nicht eine Rückkehr zu einem Zustand etwa vor 20 Jahren, sondern sie fordern eine Verlängerung von Arbeitsstunden, die nach allen Regeln der kapitalistischen Kunst schon längst ordentlich verdichtet wurden.
Habeck: „es ist nicht schlimm zu arbeiten“
In die Debatte über Arbeitszeitverkürzungen klinkt sich der Wirtschaftsminister Robert Habeck im März 2024 ein.2 Auf dem Zukunftstag des Mittelstandes erläutert er vor der interessierten Unternehmer*innenschaft seine Sicht auf die Dinge und bereitet damit die aktuelle Wirtschaftsinitiative der Bundesregierung im geplanten Bundeshaushalt 2025 vor.
Bevor er zum harten wirtschaftspolitischen Kern seiner Intervention kommt, zeigt der Wirtschaftsminister, wozu ein Philosophiestudium gut ist. „Und jetzt will ich nicht mit meinem vorherigen Leben langweilen und über den philosophischen Charakter von Arbeit und Anerkennung reden.“ Tut er dann aber doch:
„Aber ich kann Ihnen sagen, es gibt einen Zusammenhang und es ist nicht schlimm zu arbeiten. Im Gegenteil, die Würde eines Menschen, ja, ich würde pathetisch sagen, die Würde eines menschlichen Lebens entsteht durch Arbeit, und die Integration in die Gesellschaft entsteht durch Arbeit.“
Mit diesem Einstieg in das Thema bereitet Habeck folgenden „Trick“ vor: Er redet über Arbeit auf einer Abstraktionshöhe, die über verschiedenen Arbeitsformen wie Sklavenarbeit, Lohnarbeit oder private Arbeit im Schrebergarten schwebt. Da will er jetzt was Positives herausstellen, um später zu sagen: So soll man sich auch die konkrete Lohnarbeit in der BRD 2024 vorstellen.
Selbst wenn man sich aber auf diese überhistorische Abstraktionsebene begibt und da mitdenkt, dann muss man gegen Habeck festhalten: Es muss nicht schlimm sein zu arbeiten, unter bestimmten Bedingungen ist es das hingegen schon. Und was nun der Fall ist, kann man nicht unter Absehung der konkreten Arbeitsumstände beantworten.
Und was heißt überhaupt „schlimm“ oder „toll“? Wäre die erste sinnvolle Frage nicht, was man von der Arbeit hat? Im konkreten Falle der Diskussion in der BRD 2024 könnte man sich sinnvollerweise folgende Fragen vorlegen: Schafft die Lohnarbeit ein Einkommen, mit dem man sein Leben gut und sicher führen kann? Hinterlässt die Lohnarbeit Körper und Geist so, dass man überhaupt noch in der Lage ist, nach der Arbeit irgendwie die Früchte zu genießen oder bleibt es bei einem stumpfen Ruhebedürfnis? Oder sogar: Hinterlässt die Lohnarbeit Körper und Geist so, dass man überhaupt auf Dauer in der Lage ist, sich ein Einkommen zu verschaffen oder geht man schleichend kaputt und das verdiente Geld muss man als bloßer Eigentümer seiner Arbeitskraft im steigenden Masse dafür ausgeben, dass man irgendwie weiterarbeiten kann (Medizin, Urlaub, Fitness-Studio, Pilates)? Zusammengenommen wäre das die Frage, ob die Arbeit zweckdienlich für diejenigen ist, die die Arbeit verrichten. Ob die Arbeit dann noch Spaß macht, man neutral dazu steht oder sie manchmal auch einfach anstrengend ist, wäre dann wirklich die nachgelagerte Ecke.
Die Würde durch den Dienst an der Gemeinschaft…
Toll sei die Arbeit, weil sie überhaupt Würde verschaffe. Im GG, Artikel 1 steht dagegen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Der Staat sagt: Jeder Mensch hat die Würde, fertig und daran will ich mich orientieren.3 Habeck dagegen – als wenn er bei den Realsozialisten abgeschrieben hätte – sagt mit einer Entstehungsbegründung der Würde durch die Arbeit indirekt: Wer nicht arbeitet, hat keine Würde und verdient keine Rücksicht.
Einfach gemein ist das Lob der Arbeit, weil sie die Integration in die Gesellschaft stiften würde. Erinnert sei daran, dass Habeck auf einem sehr abstrakten Level über die Arbeit nachdenkt und da kann man ja mal nachfragen: Soll man die Sklavenhaltergesellschaft dafür loben, dass die Sklavenarbeit den Sklav*innen erlaubt, sich in die Gesellschaft zu integrieren? Hängt es nicht stark von der Gesellschaft ab, ob man da integriert sein will oder sich was Besseres vorstellen kann? In der kapitalistischen Gesellschaft muss der Lohnabhängige seine Dienstbarkeit an die Unternehmen verkaufen, schlicht weil er eigentumstechnisch von den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit (also Maschinen, Rohstoffen und ein Boden zum Produzieren) ausgeschlossen ist. Sein Daseinszweck ist dann die Ableistung von möglichst viel Arbeitsleistung für die Gewinne der Unternehmen inklusive üppiger Tributzahlungen an das Immobilienkapital.
Relativ dazu muss man dann zudem feststellen: Die Lohnarbeiter*innen haben es gar nicht in der Hand, sich Arbeit zu verschaffen. Sie können um Arbeitsplätze, die von den Unternehmen auf Rentabilität durchkalkuliert sind, untereinander konkurrieren, sonst nichts. Und wenn die Konjunktur oder die neuen Rationalisierungswellen Arbeitsplätze vernichten, weil sie sich für die Unternehmen nicht lohnen, dann wird da auch nichts integriert.
Mit der philosophischen Interpretation der Arbeit (Würde + Integration) leitet Habeck schlicht die Verpflichtung der Einzelinteressen (konkret sind Lohnabhängige gemeint, wie später deutlich wird) auf die Interessen der Gemeinschaft (konkret sind die Bedürfnisse des deutschen Staates im Jahr 2024 gemeint) ein. Indirekt steckt darin der Hammer: Wer wegen Behinderung, Krankheit, etc. nicht arbeiten kann, der hat keine Würde und verdient daher noch nicht mal eine verballhornte Rücksicht. Solche Menschen sind schlicht nichts wert. …sorgt bei Ausbleiben für „schlimmes Leiden“
Damit vertritt er einerseits realsozialistisches, links-sozialdemokratisches (oder auch rechtsradikales) Gedankengut, gibt dem Ganzen dann aber eine liberale Note:
„Nicht arbeiten zu wollen oder nicht arbeiten zu dürfen, ist ein schlimmes Leiden. Menschen von der Arbeit fernzuhalten, ist ein schlimmes Leiden.“
Das Drangsal, dass der Staatsführer Habeck mit den Arbeiter*innen hat, wird in das Individuum verlagert. Nicht die Volkswirtschaft hat ein Problem, sondern die Individuen. Damit ist geistig alles, was Habeck als Minister mit den Lohnarbeiter*innen anstellen will, als Dienst an den Einzelnen vorbereitet: Der Staat mindert Leiden, wenn er den Kapitalist*innen erlauben will, die Arbeiter*innen (und Arbeitslosen und Rentner*innen) mehr bzw. länger arbeiten zu lassen.
Kurzum: Depressionen, Verzweiflung, Existenzangst sind nicht Resultate der kapitalistischen Lohnarbeit, sondern resultieren aus einem Mangel an der kapitalistischen Benutzung, der dem Menschen ein angeborenes Bedürfnis unbefriedigt vorenthalte – eben die Würde durch Arbeit.
So ist das Drangsalieren von Arbeitslosen und Arbeiter*innen, die auf Arbeitszeitverkürzung aus sind, nicht mit dem expliziten Sozialschmarotzer-Vorwurf vorbereitet, wie man ihn hin und wieder von Politiker*innen hört oder in der BILD-Zeitung ständig präsentiert bekommt, sondern als Dienst an dem individuellen Leidens-/Glückshaushalt der Menschen.
„Das sage ich deshalb, weil im Moment natürlich ein Diskurs da ist, der sagt: Je mehr wir arbeiten, umso dümmer sind wir. Und das ist nicht richtig. Wir müssen wieder anerkennen, dass Arbeit – und zwar unabhängig von der Vergütung –, erst einmal etwas ist, was einen stolz machen kann, wo man etwas schafft, worauf man voller Stolz schauen kann. Und dass die Anerkennung für Arbeit wieder gewertschätzt werden muss.“ Habeck plädiert hier für eine geistig-moralische Wende. Einerseits sei es einfach so: Egal was das Resultat der Arbeit ist, egal, wie der Arbeitsprozess aussieht (Wirkung auf den Körper), egal, was man davon hat (Vergütung), der Mensch entwickle Stolz angesichts dessen, dass er irgendwas tut. Ich bin was, weil ich arbeite. Das solle man sich mal ganz dick hinter die Ohren schreiben. Bleibt die Frage, warum Habeck dann überhaupt so einen Zinnober macht. Wenn der Mensch eh so drauf ist, wie Habeck ihn erklärt, dann bräuchte man doch nicht, wie Habeck es tut, die Umwelt dafür agitieren, überall, wo Menschen irgendetwas tun, ein Kommentar abzulassen, dass das echt toll ist. Habeck präsentiert sich mit diesem Widerspruch als Meister seiner Profession – Politiker sein – indem er das, was er den Leuten aufherrschen will, als Dienst an der Menschennatur verstanden wissen will – damit die Leute bei seinem Programm mitmachen.
Aber bitte keinen Sozialschmarotzerdiskurs gegen Menschen, die nicht 60-80 Stunden arbeiten
Nachdem Habeck kunstvoll ausgeholt hat, warum Arbeit überhaupt eigentlich alles ist, was man sich und anderen wünschen kann, will er auch noch locker ein bisschen warnen, vor der Konsequenz, die notwendig in solchen Gedanken steckt: Wenn Arbeit ein ureigenstes menschliches Bedürfnis ist, weil der Mensch nun mal Anerkennung haben will, dann sind ja solche Leute, die nicht so viel arbeiten wollen, wie es nur geht, irgendwie zweifelhafte gesellschaftliche Gesellen. Hier steigt Habeck dann von seinem überhistorischen Höhenflug runter in die Niederungen von Deutschland 2024:
„Natürlich gibt es Lebenssituationen, wenn man kleine Kinder kriegt, wo man nicht 60 oder 80 Stunden arbeiten kann, sondern in der Crunchtime des Lebens irgendwie alles zusammenkriegen muss. Den Alltag, die Finanzen sind knapp und die Kinder sind – wenn man noch Zwillinge kriegt – und dann plärren die dauernd und das muss man alles (kurzes Stocken in der Rede; Autor), das ist ja auch Arbeit und Pflegearbeit und die älteren Leute. Ich will damit nicht sagen: Hüten wir uns vor pauschalen Debatten und sagen: Alle, die nicht 60 Stunden in der Woche arbeiten, sind irgendwie nicht würdige Individuen. Das wäre natürlich falsch.“
Der feministisch geschulte Wirtschaftsminister will darauf hinweisen, dass die ganze familiäre, nicht entlohnte Care-Arbeit selbstverständlich auch Arbeit ist. Und Menschen, die hier unterwegs sind, können nicht unbedingt 60 Stunden lohnarbeiten. Das ist freilich schon eine interessante Sicht der Dinge: Erst erhebt Habeck die familiären Care-Arbeiten in den Rang einer Arbeit, um sie dann am Ende wieder davon auszuschließen: Denn welche Lohnarbeiter*innen, die z.B. nur 35 Stunden die Woche lohnarbeiten, kommen mit ihrer familiären Arbeit nicht auf eine 60 oder 80 Stunden-Woche? Wenn er am Ende davor warnt, Leute, die weniger als 60 Stunden arbeiten, zu unwürdigen Individuen zu erheben, dann meint er schließlich damit nur die Lohnarbeitsstunden.
Davon abgesehen ist natürlich das zeitliche Maß, das er in den Raum stellt, der eigentliche Hammer. Da streiken Gewerkschaften für die 35 Stunde-Woche wegen der intensiven Beanspruchung, wohl in dem Wissen, dass dann sowieso Überstunden anfallen werden. Und Habeck haut als Würdemaß mal eben 60-80 Stunden raus. Wäre er ein Spinner an einem Stammtisch, könnte man vielleicht noch lachen, aber hier hat man es mit einem Menschen in weitreichendem Amt und Würden zu tun. Vielleicht hat Habeck sich vorsichtshalber nochmal bei Wikipedia unter dem Stichwort Tod durch Überarbeiten schlau gemacht, weil da ist zu lesen: „Mittlerweile (! –2024; Autor) ist anerkannt, dass Erwerbstätige nicht über Jahre hinweg sechs bis sieben Tage pro Woche mehr (sic!) als zwölf Stunden täglich arbeiten können, ohne körperlich und geistig darunter zu leiden.“ (Wikipedia-Karōshi) Also: Über Jahre hinweg, sechs oder sieben Tage die Woche, „nur“ zwölf Stunden täglich (= 72 bis 84 Wochenstunden) bei heutiger Intensität zu arbeiten – das wäre vernünftig und darunter würden Körper und Geist nicht leiden. So stellt Habeck sich das zumindest vor.
Das eigentliche Leiden hat Deutschland
Nachdem Habeck sich so ein wenig der Alltagsrealität in Deutschland 2024, in der er Veränderungsbedarf sieht, auf absurde Weise angenähert hat, kommt er zum eigentlichen Anliegen, was er als Wirtschaftsminister den mittelständischen Unternehmer*innen sagen will:
„Jedenfalls wird ein bisschen im Moment zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt bzw. geworben. Und das können wir uns in der Tat im Moment nicht leisten. Wir sind in einer Phase in Deutschland angekommen, wo wir jetzt – und sie kennen ja die wirtschaftlichen Daten, wo wir jetzt (verhaspeln; Autor) leider noch halbwegs stagnieren – in (das „in“ ist undeutlich, könnte auch was anderes heißen; Autor) der Wirtschaft angekommen sind, 700.000 offene Stellen haben – gemeldet, möglicherweise sind es zwei Millionen und wir werden ja älter. Die Perspektive ist deutlich dramatischer.“
Die deutsche Wirtschaft wächst insgesamt kaum und dem Staat fehlen dadurch spekulativ angedachte Einnahmen. Der deutsche Staat hat sich weiterhin umfangreiche Staatsverschuldungs-Sondertöpfe genehmigt, deren Zinslast sich jetzt ordentlich bemerkbar macht, seitdem die EZB zwecks Inflationsbekämpfung die Zinsen angehoben hat. Zwar wollen Grüne und SPD gerne die Staatsverschuldung nochmal besonders beanspruchen (die FDP stellt sich dagegen), aber selbst wenn das gelingt, wissen beide Parteien: Das Vertrauen in die deutsche Staatsschuld seitens der Finanzmärkte braucht ein Wirtschaftswachstum als Basis. Und das alles kommt zusammen ausgerechnet in dem Moment, in dem Deutschland sich mehr und mehr als ein Land aufstellen will, dass selbständig fähig ist, Kriege zu führen.4 So übersetzen sich Staatsnöte in eine Krisendiagnose des deutschen, privat organisierten Wirtschaftslebens.
Um die Wirtschaft anzukurbeln, muss die Wirtschaft wettbewerbsfähiger werden. So verwandelt sich die Krisendiagnose über die Wirtschaft in einen Konkurrenzauftrag: Die deutschen Unternehmen müssen sich gegen das Ausland besser durchsetzen können. Und so ist der ganze Irrsinn ja dann wieder ganz zweckrational: Damit der Staat sich besser gegen andere Staaten durchsetzen kann, muss die nationale Wirtschaft sich gegen die Wirtschaft der anderen Staaten durchsetzen – und da wundern sich die Parteien, dass die AfD mit der Parole „Deutschland zuerst“ so viel Erfolg haben kann…
Wie man als Regierung der hiesigen Wirtschaft gegen die ausländische Wirtschaft auf die Sprünge helfen kann, da gibt es einige Rezepte und im Grunde lässt die Bundesregierung da auch keins aus. Habeck will aber auf zwei wirklich wichtige Sachen hinweisen:
„Guckt man in der Wirtschaft darauf: Was sind die Potenziale des Landes? Und wir haben zwei Probleme beim Wachstumspotenzial: Das eine ist der Zugang zu Finanzen. Der europäische Finanzmarkt ist zu klein für den globalen Wettbewerb. Und das Zweite, was das Potenzial, also die Möglichkeit ausbremst, ist in der Tat die Zahl an Händen und Köpfen, das schiere Arbeitsvolumen, das nicht ausreicht. Ich habe schon auf die offenen Stellen hingewiesen, jetzt in dieser schwierigen Lage. Was meinen Sie, was los ist, wenn wir wieder eigentlich auf anderthalb, zwei Prozent Wachstumspfad wären? Das wird die Wachstumsbremse der Zukunft sein, (…).“
Was Deutschland fehlt: „das schiere Arbeitsvolumen“
Die Finanzmarktfrage hier einfach beiseite gelassen, ist dieses Urteil schon bemerkenswert. Noch vor dem Urteil, dass die deutschen Unternehmen in allen Bereichen Spitzentechnologie bräuchten, um ausländische Unternehmen niederzukonkurrieren, kommt hier die pure Arbeitsleistung ins Spiel. Schon jetzt, bei stagnierender Wirtschaft, ist in vielen Bereichen der Arbeitsmarkt leergefegt – was wäre erst los, wenn die Wirtschaft auch mal wieder 2% wachsen würde, fragt sich Habeck. Damit ist der Sache nach eine Wechselwirkung behauptet: Zu wenig Arbeitskräfte oder zu wenig Arbeitszeit pro Arbeitnehmer*in ist einer der Hauptgründe für die schwächelnde Wirtschaft. Würde man das irgendwie beheben und die Wirtschaft wachsen, wird das Drangsal für das weitere Wirtschaftswachstum nur noch schlimmer.
Dies spornt Habeck und mit ihm die aktuelle Regierung aber nur umso mehr an, um Deutschland das zu geben, was es braucht: Mehr schieres Arbeitsvolumen aus den Menschen rauszuholen, bzw. den Unternehmen dies zu erlauben. Das geht die Regierung derzeit (Juli 2024) innerhalb der Haushaltsplanung 2025 an und nennt einen Kernpunkt diverser Maßnahmen die „Wirtschaftsinitiative“.
Einerseits sollen mehr Fachkräfte aus aller Welt herbeigeholt werden. Anderseits sollen aber vor allem diejenigen, die nicht oder kaum arbeiten oder doch einfach noch mehr arbeiten könnten durch ‚Anreize‘ dazu gebracht werden, mehr zu arbeiten. Das geht einerseits über Steuer- und Sozialbeitragsvorteile für Überstunden der Normalbeschäftigten oder für Rentner*innen, die doch noch ihre armselige Rente durch Lohnarbeit aufbessern wollen. Am Arbeitszeitgesetz soll herumgeschraubt werden, um die wöchentliche Höchstarbeitszeit flexibler zu machen – das betrifft alle Arbeiter*innen. Damit beherzigt die Regierung den alten Marx, wenn er schreibt: „Innerhalb gewisser Grenzen wird die vom Kapital erpressbare Zufuhr der Arbeit also unabhängig von der Arbeiterzufuhr.“ (Kapital Band 1, S. 323) Für die Bürgergeldempfänger*innen wiederum soll einerseits mehr Netto vom Lohn übrigbleiben, wenn sie ergänzend arbeiten. Andererseits werden schlicht einige Reformen, die erst Anfang 2023 umgesetzt wurden, wieder zurückgenommen und sogar verschärft: Verstärkte Sanktionen, Senkung des Schonvermögens und Senkung der Kriterien für zumutbare Arbeit, die man als Arbeitsloser nicht ungestraft ablehnen darf. Um den Arbeitslosen ihr Leben so ungemütlich wie möglich zu machen, sollen auch die 1 Euro-Jobs wieder zu Ehren kommen. Und da ist eine Sozialschmarotzerdebatte herzlich willkommen, weil „(…) diejenigen, die noch arbeiten wollen und können, die sollen nicht das Gefühl haben, dass sie die Doofen sind, weil sie länger arbeiten im Leben, als sie eigentlich wollen, sollen (vermutlich „sollen“, ist in einem Verhaspeln verschluckt; Autor) oder dürfen oder müssen (…).“ (Habeck)
Ein Fazit: Das Regierungsprogramm ist ein aktuelles, eindrückliches Beispiel für das vernichtende Urteil über die kapitalistische Produktion, dass der Produktivkraftfortschritt zwar dafür sorgt, dass man alles immer schneller herstellen kann, sich dies aber für die Arbeitenden überhaupt nicht in mehr Freizeit umsetzt. Die pure Arbeitsleistung muss das Kapital erhalten und vermehren. Arbeitszeitverkürzungen gibt es, wenn die Intensität der Arbeit diese erfordert. Arbeitszeitverlängerungen müssen her und erlaubt werden, wenn der Staat meint, dass mal wieder eine Zeit der Staatenkonkurrenz angebrochen ist, in der es nicht nur von der AfD heisst: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern, was du für das Land tun kannst. Wobei nach Habecks Philosophie beide Halbsätze eigentlich sowieso das Gleiche sind.
Gruppe gegen Kapital und Nation
Fußnoten:
1. https://oeffentliche-private-dienste.verdi.de/tarifbereiche/tv-n/++co++ec6f8240-5c3f-11ee-8334-001a4a160100
2. Alle folgenden Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet aus der Rede von Habeck. Zu hören ist sie hier: https://zukunftstag-mittelstand.de/ Die Passagen zur Arbeit finden sich zwischen 14:28 und 20:42.
3. Der Inhalt des GG-Artikel ist: Der Staat nimmt den Menschen als Menschen, er will bei allem, was er mit den Menschen anstellen will, den Menschen als willensbegabt nehmen. Auf einer Super-Abstraktionsebene ist damit das Thema „erlaubte Freiheit“ vorbereitet. Der Staat erlaubt „das an sich selber Denken“, um die Leute dahin zu schubsen, wo er sie haben will.
4. „Die Bundeswehr ist ein Kerninstrument unserer Wehrhaftigkeit gegen militärische Bedrohungen. Hierzu muss sie in allen (sic!) Bereichen kriegstüchtig sein. Das bedeutet, dass ihr Personal und ihre Ausstattung auf die Wahrnehmung ihrer fordernden Aufträge ausgerichtet sind. Maßstab hierfür ist jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht. Nur so wird Abschreckung glaubwürdig und Frieden gewährt.“ (Verteidigungspolitische Richtlinien 2023, S. 9)