Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Renate Klein

Von Retortenbabys bis zur Auslöschung der Frau – die Reproduktionsindustrie hat in den letzten vierzig Jahren immer mehr an Boden gewonnen. Seit der Geburt von Louise Brown durch In­vitro­Fertilisation (IVF) im Jahr 1978 haben die Zwillingsindustrien der Reproduktions­ und Gentechnologie zusammen mit den Befürworter*innen der Bevölkerungskontrolle ihren globalen Kreuzzug fortgesetzt, um zu definieren:

  • in welchen Teilen der Welt es erlaubt sein soll, Kinder zu gebären
  • welche Klasse, ‚race‘ oder welches Alter von Frauen als Mütter akzeptabel sind
  • welche genetischen Eigenschaften ihre Kinder haben sollen
  • welches Geschlecht diese Kinder haben sollen. Die Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen unter uns, die diese aufkommenden Technologien und Politiken in den 1980er Jahren kritisierten, taten recht daran, die beiden Industrien miteinander zu verbinden, und nannten unser Netzwerk das Feminist International Network of Resistance to Reproductive and Genetic Engineering (FINRRAGE – Feministisches Internationales Netzwerk des Widerstands gegen Reproduktions­ und Gentechnologien).

Seit den 1980er Jahren erleben wir, wie sich die industrielle Babyproduktion und die Gentechnik­Industrie auf parallelen Bahnen entwickelt haben, aber Jahrzehnte später wachsen diese Technologien zusammen. ‚Offizielles Ziel‘ ist es, die Schmerzen und Leiden unfruchtbarer Menschen zu beseitigen und die durch genetische Krankheiten verursachten Schmerzen und Leiden zu lindern. Das ‚inoffizielle‘ Ziel ist es, so viel Geld wie möglich für die Aktionäre zu verdienen. Und das ist ihnen auch gelungen: Die kapitalistische Gentechnik­ und Reprotech­Industrie ist weltweit milliardenschwer.

Pronatalistische und anti­natalistische Technologien sind zwei Seiten derselben frauenfeindlichen, patriarchalen Medaille. Die Strategie der Reprogen­Industrie besteht darin, den Wunsch nach einem biologischen Kind und neuerdings auch die Angst der Frauen, als ‚unwürdig‘ für die Fortpflanzung eingestuft zu werden, auszunutzen. Für diejenigen, die als ‚minderwertig‘ gelten, wie behinderte Frauen oder Angehörige einer armen und ausgegrenzten ethnischen Gruppe, lautet die übliche Anweisung: „verhüten/abtreiben oder sterilisieren lassen“.

Die In­vitro­Fertilisation ist eine brutale, teure und weitgehend erfolglose Industrie, aber IVF­Kliniken breiten sich auf der ganzen Welt aus. Zu ihren jüngsten Angeboten gehören die gefährliche Praxis der Eizell­‘Spende‘ für ältere Frauen und die ‚Leihmutterschaft‘ für schwule Männer (Klein 2017). Darüber hinaus ist die Zahl der unfruchtbaren Männer in den letzten dreißig Jahren aufgrund des Einsatzes giftiger Pestizide (Schafer 2014) und anderer Umweltgefahren dramatisch gestiegen. Bei der Hälfte aller IVF­‘Behandlungen‘ kommt die Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) zum Einsatz; dabei wird ein einzelnes Spermium in die Eizelle einer fruchtbaren Frau eingesetzt. Aus der FINRRAGE­Datenbank geht hervor, dass unter Berücksichtigung jedes schmerzhaften IVF­Zyklus, den eine Frau durchläuft, bis ein lebendes Baby geboren wird, die tatsächlichen Erfolgsquoten nur 20 ­ 30 % betragen, obwohl Kliniken in aller Welt routinemäßig eine Erfolgsquote von 70 Prozent angeben.

Während die Reproduktionsindustrie Frauen in Gebärmütter und Eizellen zerstückelte und diese nach Belieben rekombinierte, kündigte die Gentechnikindustrie in den 1980er Jahren ihre Gen­Revolution an. Mit der Technologie der Rekombinanten DNA[1] kann eine Fülle von gentechnisch veränderten Bakterien und Viren hergestellt werden. Dazu gehört auch Hybridsaatgut für eine ‚Gen­Revolution‘, die die Fehler der gescheiterten ‚Grünen Revolution‘ in der sogenannten Dritten Welt wiedergutmachen soll. Im Jahr 2000 wurde das menschliche Genom kartiert, und seither bietet die ‚personalisierte Medizin‘ Tests für 1.500 bis 2.000 US­Dollar an, um etwaige ‚Schädlinge‘ aufzuspüren, die die Gesundheit im späteren Leben oder das Leben unserer noch nicht gezeugten Kinder beeinträchtigen könnten. Trotz der Unbestimmtheit dieser zukünftigen Risiken schafft diese Medikalisierung der Menschen Ängste in Bezug auf ihre genetische Ausstattung und ein Gefühl der Verantwortung, die Träger ‚schlechter‘ Gene frühzeitig zu erkennen.

Besonders problematisch für schwangere Frauen ist die jüngste Einführung nicht­invasiver pränataler Tests (NIPTs), die auf dem Screening der zellfreien Plazenta­DNA im mütterlichen Blut basieren. Ein einziger Bluttest, der bereits in der zehnten Schwangerschaftswoche durchgeführt wird, kann bis zu 100 monogenetische (einfach genetisch bedingte) Krankheiten aufdecken, an denen ein Fötus leiden könnte. Die professionelle Botschaft lautet: abtreiben und neu anfangen, aber beim nächsten Mal IVF und genetische Präimplantationsdiagnostik (PID) anwenden. Bei der PID wird eine einzelne Zelle eines frühen Embryos entnommen und auf ihre Qualität geprüft, einschließlich des Geschlechts, und nur der ‚beste‘ Embryo wird eingepflanzt. Dies ist medizinische Eugenik in Aktion, die sich die Angst der Menschen vor einem behinderten Kind zunutze macht. Island berichtet, dass 99 Prozent der Schwangerschaften mit Verdacht auf Down­Syndrom abgetrieben werden (Cook 2017). Die medizinische Ausnutzung solcher Ängste beeinträchtigt die Freude der Menschen am Leben und an der Schwangerschaft erheblich. Das Aufkommen der Reproduktionstechnologie erfordert die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft; eine kritische Masse, insbesondere unter jungen Menschen, muss sich wieder mit dem radikalfeministischen Slogan ‚Our Bodies­Ourselves‘ verbinden.

Wir ‚sind‘ unsere Körper und müssen uns gegen das reglementierende Eindringen der Technowissenschaft in unser tägliches Leben wehren. Weit davon entfernt, ‚Wahlmöglichkeiten‘ oder ‚Selbstbestimmung‘ zu bieten, führen die Reproduktionsindustrien durch seelenlose und Ausschneiden­und­Einfügen­Ideologien zur ‚Fremdbestimmung‘.

Sobald die ‚Ektogenese[2] der künstlichen Gebärmutter perfektioniert ist (Bulletti et al. 2011) und die ‚Verbesserung‘ des Menschengeschlechts durch Keimbahn­Editierung mit Hilfe von ‚clustered regularly interspaced short palindromic repeats‘ (CRISPR­Cas9, Genschere) möglich ist, wird die patriarchale Auslöschung der Frauen vollständig sein. CRISPR ist ein Leitmolekül, das aus Ribonukleinsäure (RNA) besteht, und Cas9 ist ein bakterielles Enzym. Die CRISPR­RNA wird an Cas9 angehängt, so dass es wie eine molekulare Schere funktioniert. Mit dieser schnellen neuen Gen­Bearbeitungs­Technologie können Veränderungen an frühen Embryonen vorgenommen werden, die unwiderruflich an die nächste Generation weitergegeben werden (Klein 2017).

Währenddessen verletzt die kommerzielle Leihmutterschaft, bei der arme Frauen als Brüterinnen für reiche Leute eingesetzt werden, zutiefst die Menschenrechte der leiblichen Mütter, der Eizell­‘Spenderinnen‘ und der hergestellten Kinder (www.stopsurrogacynow. com).

Es ist unerlässlich, dass linke, progressive Denker*innen sich radikalen Feministinnen anschließen, um die technologische Zerstörung dessen zu stoppen, was die eigentliche Definition menschlichen Lebens sein könnte.

Übersetzung ins Deutsche von Elisabeth Voß.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Unter „rekombinanter DNA­Technik“ wird „die Isolierung und Untersuchung einzelner Gene und die Wiedereinführung dieser Gene in Zellen der gleichen oder unterschiedlicher Arten” verstanden. “Dabei können transgene Organismen (Mikroorganismen, Tiere oder Pflanzen) erzeugt werden.” https://www.spektrum.de/lexikon/biochemie/rekombinante-dna-technik/5328 (Anm. d. Übers.)

[2] Ektogenese: Zeugung und Reifung eines Säugetierembryos in einem künstlichen Uterus https://de.wikipedia.org/wiki/Ektogenese (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Bulletti, Carlo, Antonio Palagiano, Caterina Pace, Angelica Cerni, Andrea Borini and Dominique de Ziegler (2011), The Artificial Womb, Annals of the New York Academy of Science. 1221 (1): 124­28.

Cook, Michael (2017), Iceland: Nearly 100% of Down Syndrome Babies Terminated, https://www.bioedge.org/bioethics/iceland-nearly-100-of-downsyndrome-babies-terminated/12391 (abgerufen am 7.6.2023)

Feminist International Network of Resistance to Genetic and Reproductive Engineering (FINRRAGE), https://www.finrrage.org/ (abgerufen am 7.6.2023)

Klein, Renate (2017), Surrogacy: A Human Rights Violation. Mission Beach: Spinifex Press (deutsch: Mietmutterschaft: Eine Menschenrechtsverletzung. Hamburg: Marta Verlag, 2018) (Neuaufl. Spinifex Press, Australien, 2022). Schafer, Kristin (2014), Pesticides and Male Infertility: Harm from the Womb through Adulthood – and into the Next Generation, https://psr.org/environment-and-health/environmental-health-policyinstitute/responses/pesticides-and-male-infertility.html (Datei unter der Webseite nicht mehr aufrufbar)

Stop Surrogacy Now, http://www.stopsurrogacynow.com (abgerufen am 7.6.2023)


Renate Klein ist Biologin und Sozialwissenschaftlerin, Koordinatorin von FINRRAGE (Australien) und Herausgeberin von Spinifex Press. Als langjährige internationale feministische Gesundheitsforscherin war sie außerordentliche Professorin für Frauenstudien an der Deakin University in Melbourne. Ihr jüngstes Buch ist Mietmutterschaft: Eine Menschenrechtsverletzung (2018/2022).

Der Originalartikel kann hier besucht werden