Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

Die Rettungsboot-Ethik[1] ist eine sehr einflussreiche Theorie in der gegenwärtig geltenden Ethik. Sie wurde von dem Biologen Garrett Hardin entwickelt und findet ihre Anwendung bei Themen wie Welthunger, Nahrungsmittelhilfe, Einwanderungspolitik und globales Bevölkerungswachstum. In einem Artikel in der Zeitschrift Science aus dem Jahr 1968 skizzierte Hardin seine berühmte ‚Tragödie der Allmende‘: eine Situation, in der Einzelne eine gemeinsame Ressource ausschließlich zu ihrem persönlichen Nutzen ausbeuten, was zu einer Erschöpfung der Ressource und zu ernsthaften Schäden für die Gesellschaft im Allgemeinen führt.

von John P. Clark

In einem Artikel in Psychology Today aus dem Jahr 1974 vertrat er die Auffassung, dass eine solche Tragödie weltweit unbeabsichtigt als Folge der Nahrungsmittelhilfe für die an Hunger und Unterernährung Leidenden auftritt.

Die Rettungsboot­Ethik geht davon aus, dass die Welt auf eine katastrophale Krise zusteuert, in der die Weltbevölkerung ein nicht mehr tragbares Wachstum erreichen wird, und dass viele Länder innerhalb ihrer eigenen Grenzen bereits ein solches Niveau zu verzeichnen hätten. Hauptursache für diese Krise sei das rasche Bevölkerungswachstum, vor allem in den Ländern des Globalen Südens. Die Nahrungsmittelhilfe der reichen für die armen Länder sei ein wichtiger Faktor, der zu unhaltbar hohen Geburtenraten führe. Es wird behauptet, dass die Nahrungsmittelhilfe zu einem ‚Ratscheneffekt‘[2] führe, der es verhindere, dass die Bevölkerung eines armen Landes auf eine Tragfähigkeit sinkt, die als normale Grenze angesehen wird, und stattdessen ein unhaltbares Wachstum ermögliche. Sie sagen voraus, dass eine Fortsetzung der Hilfe zu einem weltweiten wirtschaftlichen Zusammenbruch und einem Bevölkerungsrückgang führen würde.

Dieser Standpunkt steht in der langen Tradition neo­malthusianischem und sozial-darwinistischem Denkens, das oft zur Begründung für soziale Ungleichheit, wirtschaftliche Ausbeutung und globalen Imperialismus herangezogen wird, mit dem Ziel, das Allgemeinwohl zu maximieren. Wie für solche Ideologien typisch, ist sie voller theoretischer Ungereimtheiten und steht im Widerspruch zu empirischen Beweisen.

Zunächst einmal ist das Grundkonzept der Tragfähigkeit ein Zirkelschluss. Es gibt keine empirischen Beweise dafür, dass ein bestimmtes Bevölkerungsniveau die tatsächliche Kapazität eines bestimmten geografischen Gebiets zur Aufnahme der menschlichen Bevölkerung erschöpft; und es wird keine Untersuchung vorgelegt, die belegt, dass ein Bevölkerungsrückgang in der realen Welt das Resultat einer solchen Kapazitätsüberschreitung gewesen wäre. Jedes Konzept der Tragfähigkeit, das empirisch fundiert ist – wie einige Untersuchungen zum ökologischen Fußabdruck –, zeigt, dass wohlhabende, industrialisierte Gesellschaften, welche enorme Mengen an fossilen Brennstoffen und anderen Ressourcen verbrauchen, die Grenzen der Tragfähigkeit viel stärker überschreiten als ärmere Gesellschaften, die pro Kopf relativ wenig Ressourcen benötigen. Darüber hinaus ignoriert die Rettungsboot­Ethik systematisch die Tatsache, dass viele arme und unterernährte Länder große Mengen an Gütern – unter anderem auch landwirtschaftliche Produkte – herstellen, die in wohlhabende Konsumgesellschaften exportiert werden, und dass ihre heimische Nahrungsmittelknappheit das Ergebnis globaler Machtverhältnisse und wirtschaftlicher Ausbeutung sowie des Außenhandels ist und nicht die Folge hoher Geburtenraten, welche die Tragfähigkeit des Landes übersteigen.

Die Rettungsboot-Ethik lehnt die Möglichkeit eines sanften demografischen Übergangs ohne Zwang ab, doch die historische Realität widerspricht dem. Ohne die drakonischen Maßnahmen zur Geburtenkontrolle, die Hardin befürwortet, liegen die Geburtenraten in den meisten Ländern der Welt (Stand 2016) unter der Reproduktionsrate und in drei Vierteln der Länder unter dem moderaten Wert von 3,0. Indiens Geburtenrate liegt mit 2,45 heute weit unter der Rate der USA zwischen 1945 und 1964, also in der Zeit kurz vor der Veröffentlichung von Hardins Manifest ‚Lifeboat Ethics‘.

Historische Belege zeigen auch, dass entgegen den Behauptungen der Rettungsboot-Ethiker*innen die Hauptursachen für Hungersnöte politischer und wirtschaftlicher und nicht etwa demografischer Natur waren. In Fällen wie der Ukraine, Biafra, Bangladesch, Timor-Leste und vielen anderen waren Hungersnöte das Ergebnis bewusster staatspolitischer Ziele, um die Autorität des herrschenden Regimes zu stärken, wirtschaftliche Interessen zu schützen und in den meisten Fällen Dissidenten und separatistische Bewegungen zu unterdrücken.

In der Realität ist das Verhältnis zwischen der Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung und der Geburtenrate genau das Gegenteil von dem, was die Rettungsboot-Ethik unterstellt. Zum Beispiel ist in weiten Teilen Afrikas südlich der Sahara das Niveau des sozialen Wohlstands in allen Bereichen – einschließlich der sicheren Nahrungsmittelversorgung – extrem niedrig. Dies müsste laut der Rettungsboot-Ethik zu einem Rückgang der Geburtenraten führen. Die Region hat jedoch auch die höchsten Bevölkerungswachstumsraten der Welt. Umgekehrt, Gebiete des Globalen Südens, in denen die Geburtenrate zurückgeht, sind diejenigen, in denen sich die Nahrungsmittelproduktion und andere Indikatoren des sozialen Wohlstands verbessert haben. Die Agenda des Neo-Malthusianismus verrät sich selbst durch die inkonsequente Anwendung der eigenen, fehlerhaften ideologischen Grundsätze. Die Weigerung, Menschenleben zu retten, führt nicht zum höheren Wohl der Gesellschaft. Würde die Rettung von Menschenleben in armen Ländern tatsächlich der Nachwelt schaden, dann müsste die Rettung von Menschenleben in reichen Ländern, in denen jeder Mensch ein Vielfaches von dem konsumiert, was ein Mensch in armen Ländern verbraucht, noch viel schädlicher für künftige Generationen sein. Dennoch empfehlen die Verfechter*innen der Rettungsboot-Ethik niemals, das Leben der wohlhabenden Konsument*innen zu opfern, um dem Gemeinwohl zu dienen.

Schließlich wird die Rettungsboot-Ethik durch die Tatsache widerlegt, dass sie die enge Beziehung zwischen dem Hunger in der Welt und der kolonialen und neokolonialen Entwicklungspolitik, die den globalen Süden als Quelle für billige Arbeitskräfte, Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte ansieht, völlig außer Acht lässt. Historisch gesehen hat die Kolonialpolitik drei Phasen durchlaufen, die zu weit verbreiteter Unterernährung und schweren Hungersnöten geführt haben. Diese sind:

  1. die gewaltsame Zerstörung der traditionellen auf der Allmende basierenden Subsistenzwirtschaft;
  2. der Einsatz von Gesetzen, öffentlicher Verwaltung und Zwangsmaßnahmen, um einheimische Arbeitskräfte den Forderungen imperialer Wirtschaftsinteressen zu unterwerfen, und
  3. die Weigerung der Behörden, leicht verfügbare Nahrungsmittelüberschüsse für die Bekämpfung von Hungersnöten zur Verfügung zu stellen.

Heutzutage wird die Nahrungsmittelknappheit verstärkt durch wirtschaftliche und politische Faktoren in Verbindung mit den klimatischen Bedingungen verursacht.

In Anbetracht ihrer Fähigkeiten, diese Geschichte auszublenden, empirische Realitäten zu verzerren und die globale Ausbeutung als den normalen Lauf der Dinge zu verschleiern, funktioniert die Rettungsboot-Ethik als mächtiges Instrument der neokolonialen Wirtschaft und sogar als genozidales Entwicklungsmodell.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Dahinter verbirgt sich folgendes Bild: Wenn im Meer ein Rettungsboot mit fünfzig Personen für zehn weitere Personen Platz hätte, im Wasser aber noch hundert Personen    gerettet werden wollen, welche ethischen Überlegungen folgen dem Dilemma her, ob, und wenn ja, welche weiteren Personen unter welchen Bedingungen aufgenommen werden sollten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Lifeboat_ethics  – Anm. d. Übers.)

[2] Eine Ratsche ist im Maschinen­ und Werkzeugbau ein Hilfswerkzeug, das beim Anziehen von Schrauben und Muttern das Drehmoment nur in einer Richtung überträgt. (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Clark, John (2016), The Tragedy of Common Sense. Regina, SK: Changing Suns Press.

Davis, Mike (2017), Late Victorian Holocausts. London: Verso. (deutsch: Die Geburt der Dritten Welt: Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Berlin u.a.: Verlag Assoziation A 2004)

Hardin, Garrett (1974), ‚Living on a Lifeboat‘, BioScience. 24 (10): 561­68.
—(1968). The Tragedy of the Commons, Science. 162 (3859): 1243­48.

Moore Lappé, Frances und Joseph Collins (2015), World Hunger: Ten Myths. New York: Grove Press. (deutsch: Vom Mythos des Hungers: d. Entlarvung e. Legende: niemand muss hungern. Frankfurt: Fischer Taschenbuchverlag, 1985)

Ostrom, Elinor (2015), Governing the Commons. Cambridge, UK: Cambridge University Press. (deutsch: Die Verfassung der Allmende : jenseits von Staat und Markt. Tübingen : Mohr Siebeck 1999)


John P. Clark ist Sozialökologe, Direktor des La Terre Institute for Community and Ecology und emeritierter Professor für Philosophie an der Loyola University, New Orleans. Sein jüngstes Buch ist The Tragedy of Common Sense (2016) und wurde bereits mehrfach veröffentlicht.

Der Originalartikel kann hier besucht werden