Kiew denkt Berichten zufolge über einen partiellen Waffenstillstand mit Moskau nach: keine Angriffe auf die jeweilige Energieinfrastruktur mehr. Etwaiges Eingreifen nordkoreanischer Truppen schafft Probleme auch für Deutschland.
(Eigener Bericht) – Im Ukraine-Krieg zeichnen sich vor dem Hintergrund des russischen Vorrückens im Donbass neue Überlegungen in Kiew über einen möglichen partiellen Waffenstillstand ab. Berichten zufolge sondieren ukrainische Stellen derzeit, ob Moskau sich auf eine Einstellung der wechselseitigen Angriffe auf die jeweilige Energieinfrastruktur einlassen würde; dabei geht es um Kraftwerke und Stromversorger auf ukrainischer, um Raffinerien und Erdöllager auf russischer Seite. Ein entsprechender Deal war mittlerweile zweimal in Kraft; er begleitete jeweils – ab Herbst 2023 und ab Mitte Juni 2024 – Verhandlungen über einen Waffenstillstand, die jeweils durch erneute ukrainische Angriffe zum Scheitern gebracht wurden. Aktuell drängt vor allem der Mangel an Soldaten Kiew, über eine Wiederaufnahme von Verhandlungen nachzudenken: US-Quellen schätzen, die Ukraine könne allenfalls noch für sechs bis zwölf Monate Truppen stellen. Es kommt hinzu, dass das etwaige Eingreifen nordkoreanischer Militärs in den Krieg die strategischen Kräfteverhältnisse verschiebt – zu Ungunsten des Westens, auch Deutschlands, das zum ersten Mal feindliche Einsätze asiatischer Soldaten in Europa einkalkulieren muss.
Die Front kollabiert
Bereits zu Beginn der vergangenen Woche hatte ein Interview mit einem Generalmajor der ukrainischen Streitkräfte, Dmytro Martschenko, einige Aufmerksamkeit erregt. Martschenko konstatierte umstandslos, „wir alle“ wüssten, „dass unsere Front zusammengebrochen ist“.[1] Es fehle an „Munition und Waffen“; zudem habe man für getötete und für verwundete Militärs „keinen Ersatz, die Soldaten sind müde, sie können die Frontlinie nicht abdecken, an der sie sich befinden“. Ähnliches räumen jetzt auch US-Medien ein. Prognosen vom Sommer, laut denen es im Ukraine-Krieg ein Patt zwischen den beiden Kriegsparteien gebe, hätten sich als verfehlt erwiesen, hieß es am Wochenende etwa in der New York Times. Russlands Streitkräfte seien inzwischen „stetig“ auf dem Vormarsch; Sie hätten nicht bloß Territorien in der Ostukraine gewonnen, sondern auch schon ein Drittel des Territoriums im Gebiet Kursk zurückerlangt, zu dessen Eroberung Kiew im August wertvolle Verbände von der ostukrainischen Front abgezogen und diese damit empfindlich geschwächt habe.[2] Das Pentagon gehe mittlerweile davon aus, die Ukraine könne vielleicht noch für sechs bis zwölf Monate eine halbwegs ausreichende Zahl an Soldaten auftreiben. Danach sei mit einem „krassen Mangel“ zu rechnen.
Neue Verhandlungen
Während Kiew weiterhin auf eine stärkere Unterstützung mit westlichen Waffen sowie auf die Freigabe weitreichender westlicher Raketen für den Beschuss von Zielen auf russischem Territorium dringt, sind ukrainische Stellen zugleich um Gespräche mit Moskau bemüht. Dies berichtete ebenfalls in der vergangenen Woche die Financial Times. Kiews Ziel sei es demnach, die wechselseitigen Angriffe auf die ukrainische Energie- respektive die russische Erdölinfrastruktur zu beenden.[3] Es handelt sich laut den Informationen der Financial Times bereits um den dritten derartigen Anlauf innerhalb von einem Jahr.
Angriffe eingestellt
Wie die Financial Times unter Berufung auf vier ukrainische Regierungsmitarbeiter erklärt, kamen Moskau und Kiew bereits im Herbst 2023 zu einer „stillschweigenden Übereinkunft“, Angriffe einerseits auf ukrainische Kraftwerke und Stromversorger, andererseits auf russische Erdölpipelines und Raffinerien einzustellen.[4] Die Maßnahme begleitete damalige Gespräche über einen etwaigen Waffenstillstand (german-foreign-policy.com berichtete [5]); sie sollte helfen, den Boden für einen förmlichen Deal zu bereiten. Gebrochen wurde die Übereinkunft laut der Financial Times von den ukrainischen Streitkräften, die im Februar und im März 2024 – angeblich trotz ausdrücklicher Warnungen der Biden-Administration – ihre Attacken auf russische Erdölanlagen wieder aufnahmen. Daraufhin griffen die russischen Streitkräfte ebenfalls die ukrainische Energieinfrastruktur erneut an; unter anderem zerstörten sie im April 2024 das Kraftwerk Trypilska rund 40 Kilometer östlich von Kiew. Experten urteilen, die Angriffe träfen die Ukraine härter als Russland. Zwar seien zeitweise 17 Prozent der russischen Raffineriekapazitäten beschädigt gewesen; doch sei inzwischen vieles wieder repariert, und Russland exportiere ohnehin relativ wenig Raffinerieprodukte, während es weniger als die Hälfte der Raffineriekapazitäten zur Deckung seines eigenen Bedarfs benötige.[6]
Der dritte Anlauf
Laut der Financial Times wurden Gespräche über eine Beendigung der Angriffe auf die Energie- bzw. Erdölinfrastruktur Mitte Juni 2024 neu gestartet – kurz nach dem gescheiterten „Friedensgipfel“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der Schweiz. Die Verhandlungen wurden demnach von Qatar organisiert, das als erfahrener Konfliktmittler gilt – insbesondere im Nahen Osten. Parallel fanden erneut auch Gespräche statt, die einen vollständigen Waffenstillstand zum Ziel hatten – unter anderem Gespräche des damaligen ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Erneut scheiterten die Verhandlungen an der Ukraine: Kiew befahl Anfang August 2024 die Invasion ukrainischer Truppen in das russische Gebiet Kursk, die sämtlichen Gesprächen ein Ende setzte. Wie schon im Frühjahr gelang es der Ukraine nicht, nennenswerte militärische Vorteile zu erzielen; im Gegenteil: Die Kursk-Offensive schwächte die Donbass-Front und trug, wie erwähnt, zu den aktuellen russischen Durchbrüchen dort bei. Wohl mit Blick darauf sei Kiew bemüht, an die Gespräche unter Vermittlung von Qatar wieder anzuknüpfen, heißt es; man habe – ähnlich wie im vergangenen Herbst – die wechselseitigen Angriffe auf die Energie- bzw. Erdölinfrastruktur bereits reduziert.[8] Unklar ist freilich, ob die Ukraine bereit ist, eine erneute, insgesamt bereits dritte entsprechende Einigung auf Dauer einzuhalten.
„Sehr enge Bindungen“
Unklar ist auch, inwieweit sich das mögliche Eingreifen nordkoreanischer Truppen in den Ukraine-Krieg auswirkt. Beweise für die Behauptung ukrainischer, südkoreanischer und US-amerikanischer Stellen, denen zufolge sich 3.000, 8.000, 10.000 oder sogar deutlich mehr Soldaten aus Nordkorea in Russland aufhielten und sich darauf vorbereiteten, in die Kämpfe zu intervenieren, liegen weiterhin nicht vor. Allerdings hat Nordkoreas Außenministerin Choe Son-hui bei einem Besuch in Moskau am Freitag erklärt, ihr Land werde „immer fest an der Seite unserer russischen Kameraden stehen“ – „bis zum Tag des Sieges“.[9] Ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow wiederum lobte die „sehr engen Bindungen“ zwischen den „Streitkräften und Spezialeinheiten“ beider Länder und erklärte, diese ermöglichten es beiden Seiten, „bedeutende Sicherheitsziele“ zu erreichen. Beobachter weisen darauf hin, das das Abkommen, das Russland und Nordkorea Mitte Juni 2024 geschlossen haben, militärischen Beistand für den Fall vorsieht, dass eines der beiden Länder angegriffen wurde. Genau das ist im russischen Gebiet Kursk der Fall; zumindest dort entspräche also ein nordkoreanisches Eingreifen den vertraglichen Grundlagen der bilateralen Zusammenarbeit.[10]
Druck auf Seoul
Sollte sich das Eingreifen nordkoreanischer Truppen in den Krieg bestätigen, wäre mit weit reichenden Folgen zu rechnen. Zum einen steigt der Druck auf Südkorea, die Ukraine künftig direkt mit Kriegswaffen zu unterstützen. Bislang liefert Seoul – abgesehen von Schutz- und medinzinischer Ausrüstung – lediglich indirekt: über Drittstaaten, die etwa Munition empfangen, um Munition im gleichen Umfang aus ihren Beständen an Kiew weiterzugeben. Dies ermöglicht es Südkorea, stets zu behaupten, es liefere keine Waffen unmittelbar in den Ukraine-Krieg. Laut Experten hat Seoul der Ukraine auf diesem indirekten Weg bereits mehr Munition des 155-Millimeter-Kalibers zur Verfügung gestellt als alle Länder Europas zusammengenommen.[11]
Neue Kräfteverhältnisse
Zum anderen aber geraten Südkorea und der Westen in eine strategisch ungünstige Lage. So gilt es als sehr gut denkbar, dass Pjöngjang im Gegenzug gegen die Entsendung von Truppen in die Ukraine russisches Know-how in der Rüstungsproduktion erhält, etwa im Hinblick auf Langstreckenraketen, die die USA erreichen können. Eine derartige Rakete wurde in der vergangenen Woche von Nordkorea getestet – dies offenkundig mit Erfolg.[12] Zum anderen verschiebt es die strategischen Kräfteverhältnisse, wenn einerseits der Westen es in Zukunft einkalkulieren muss, dass nordkoreanische Soldaten auf europäischen Kriegsschauplätzen kämpfen – das gab es noch nie –, wenn andererseits aber auch Südkorea und zugleich seine Schutzmacht USA es einplanen müssen, dass womöglich Russland seinerseits Nordkorea mit Truppen zu Hilfe eilt, sollte dies einmal erforderlich erscheinen. Beides ist in den gängigen Überlegungen westlicher Strategen bislang nicht wirklich eingeplant.
[1] Katerina Alexandridi: Ukrainischer Generalmajor: Kein Geheimnis, dass die Donbass-Front zusammengebrochen ist. berliner-zeitung.de 29.10.2024.
[2] Julian E. Barnes, Eric Schmitt, Helene Cooper, Kim Barker: As Russia Advances, U.S. Fears Ukraine Has Entered a Grim Phase. nytimes.com 01.11.2024.
[3], [4] Max Seddon, Christopher Miller, Andrew England: Ukraine and Russia in talks about halting strikes on energy plants. ft.com 29.10.2024.
[5] S. dazu Heikle Gespräche und Die Strategie der Eindämmung.
[6] Max Seddon, Christopher Miller, Andrew England: Ukraine and Russia in talks about halting strikes on energy plants. ft.com 29.10.2024.
[7] S. dazu Diplomatie statt Waffen und Kursk und die Folgen.
[8] Max Seddon, Christopher Miller, Andrew England: Ukraine and Russia in talks about halting strikes on energy plants. ft.com 29.10.2024.
[9] North Korea says will stand by Russia until ‘victory’ in Ukraine. koreatimes.co.kr 01.11.2024.
[10] Tessa Wong: Putin and Kim pledge mutual help against ‘aggression’. bbc.co.uk 19.06.2024.
[11] Christian Davies: South Korea weighs arming Ukraine after North Korean deployment. ft.com 01.11.2024.
[12] Jochen Stahnke: Kims Beitrag zum amerikanischen Wahlkampf. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.11.2024.