Debatte über neues Bundeswehr-„Sondervermögen“ oder Aufstockung des Wehretats auf bis zu 3,5 Prozent des BIP spitzt sich zu. Neue Greenpeace-Studie: NATO-Staaten stecken schon jetzt zehnmal so viel Geld ins Militär wie Russland.

Mit Blick auf die bevorstehenden Neuwahlen spitzt sich die Debatte um die Aufstockung des deutschen Militärhaushalts zu. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dringt auf die Verabschiedung eines neuen „Sondervermögens“ noch vor den Wahlen: Sollten AfD und BSW zusammen auf ein Drittel der Sitze im nächsten Bundestag kommen, könne man die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht mehr erreichen, heißt es. Bei dem „Sondervermögen“, das erstmals Ende Februar 2022 beschlossen wurde, handelt es sich dem Bundesrechnungshof zufolge faktisch um Sonderschulden. Alternativ schlägt Verteidigungsminister Boris Pistorius eine Aufstockung des Bundeswehretats auf bis zu 3,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts vor. Aktuell wären dies über 140 Milliarden Euro. Mit Blick darauf, dass die Forderung nach massiver Aufrüstung meist damit begründet wird, man müsse eine militärische Übermacht Russlands verhindern, weist eine neue, von Greenpeace publizierte Studie darauf hin, dass die NATO-Staaten schon jetzt rund zehnmal so viel Geld für das Militär ausgeben wie Russland. Greenpeace plädiert dafür, die NATO solle ihre konventionelle Überlegenheit nutzen, um auf Abrüstung zu dringen.

Unter Zeitdruck

Die Debatte um die Aufnahme neuer Sonderschulden zugunsten einer weiteren Aufrüstung der Bundeswehr gewinnt nach dem Bruch der Berliner Regierungskoalition an Fahrt. Ursache sind Überlegungen, die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag könne nach den bevorstehenden Neuwahlen nicht mehr gegeben sein – und zwar dann, wenn die AfD und das BSW zusammengenommen mehr als ein Drittel der Parlamentssitze innehaben sollten. Ihnen wird zugetraut, ein neues „Sondervermögen“ konsequent abzulehnen. „Dieses Problem“ gehe nach den Wahlen „nicht weg“, erklärt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck.[1] Der Grünen-Politiker dringt deshalb darauf, die aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag zu nutzen und neue Sonderschulden unbedingt noch vor den Wahlen mit sicherer Mehrheit zu beschließen. Schließlich werde das aktuelle „Sondervermögen“ aus dem Jahr 2022 bereits im Jahr 2027 überwiegend „ausgeschöpft“ sein. Habeck begründet seine Forderung damit, der Bundeshaushalt lasse eine Steigerung der Militärausgaben im gewünschten Umfang nicht zu. Mit Blick darauf hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius schon im Mai darauf gedrungen, den Militärhaushalt von der „Schuldenbremse“ auszunehmen.[2] Die dafür ebenfalls nötige Zweidrittelmehrheit ist im Bundestag allerdings schon jetzt nicht gesichert.

„Handlungsfähigkeit ohne Ablaufdatum“

Gegen neue Sonderschulden werden im deutschen Establishment allerdings starke Einwände geltend gemacht. So erklärt beispielsweise Moritz Schularick, Präsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), mit Blick auf die begrenzte Dauer eines neuen „Sondervermögens“, man benötige „Handlungsfähigkeit ohne Ablaufdatum“.[3] Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Münchener Universität der Bundeswehr, plädiert gleichfalls für „ein deutliches Anwachsen des regulären Verteidigungsetats“ – nicht zuletzt, weil dann „die Planung besser“, das heißt vor allem auch: flexibler, „ausgestaltet werden kann“. Masala spricht von einer Steigerung des Militärbudgets „um etwa zehn Milliarden Euro im Jahr“.[4] Andere fordern mehr. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte vor kurzem, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO werde „in unserer heutigen Lage nicht mehr ausreichen“; heute gelte es, den Streitkräftehaushalt „groß zu denken und groß zu machen“.[5] Pistorius wiederum äußerte ebenfalls kürzlich, ein Bundeswehretat in Höhe von zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) sei nur „die Basis, nicht die Decke“. Er hatte bereits im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Summe von „drei oder sogar 3,5 Prozent“ des BIP als womöglich anzustrebenden Betrag genannt.[6]

Widersprüchliche Meinungen

Umfragen dazu ergeben ein widersprüchliches Bild. So sprechen sich laut einer aktuellen Erhebung der Hamburger Körber Stiftung 50 Prozent der Deutschen dafür aus, das Vorhaben von Pistorius umzusetzen und bis zu 3,5 Prozent des BIP für die Bundeswehr auszugeben.[7] 15 Prozent halten den Prozentsatz gar für zu niedrig. Zugleich sprechen sich aber 56 Prozent dagegen aus, die erforderlichen Kürzungen in den Haushaltsposten für Soziales, Umwelt, Kultur und Entwicklung vorzunehmen. Woher die Mittel stattdessen kommen sollen, ist nicht klar. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung – 46 Prozent – wünscht, die Bundesrepublik solle sich in internationalen Krisen stärker einmischen. Von diesen befürworten allerdings 71 Prozent diplomatische Aktivitäten, 15 Prozent finanzielle Maßnahmen und lediglich 10 Prozent ein militärisches Eingreifen. 65 Prozent sind der Umfrage zufolge eher dagegen, dass Deutschland in der EU eine militärische Führungsrolle übernimmt. Schließlich sind nur 35 Prozent der Auffassung, Deutschland müsse sich, sollten die Vereinigten Staaten unter dem künftigen Präsidenten Donald Trump als Führungsmacht im Westen ausfallen, an deren Stelle setzen. 57 Prozent plädieren weiterhin dafür, die Ukraine militärisch zu unterstützen. 2023 waren es allerdings noch 66 Prozent.

Militärisch klar überlegen

Den Forderungen, bei widersprüchlicher Stimmungslage in der Bevölkerung in hohem Tempo weiter aufzurüsten, hat jetzt Greenpeace eine ausführliche Analyse der militärischen Potenziale der NATO und Russlands gegenübergestellt – davon ausgehend, dass die rasante Aufrüstung gewöhnlich mit der Behauptung begründet wird, man müsse für einen etwaigen russischen Angriff gewappnet sein. Wie die Greenpeace-Analyse zeigt, geben die NATO-Staaten schon jetzt „etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland“ – 1,19 Billionen gegenüber 127 Milliarden US-Dollar.[8] Selbst bei Ausklammerung der USA und bei Berücksichtigung der Kaufkraftdifferenzen liegen die NATO-Staaten Europas plus Kanada mit 430 Milliarden gegenüber 300 Milliarden US-Dollar vorn. Die NATO hat mehr als drei Millionen Soldaten in ihren Streitkräften, Russland bloß 1,33 Millionen; dabei beläuft sich die Zahl der Großwaffensysteme, über die die NATO-Staaten verfügen, auf mindestens das Dreifache der Zahl der russischen Großwaffensysteme. Darüber hinaus beträgt der Umsatzanteil westlicher Konzerne unter den 100 stärksten Rüstungsunternehmen der Welt 70 Prozent; derjenige russischer Konzerne liegt bei gerade einmal 3,5 Prozent. „Die Analyse“, so heißt es explizit bei Greenpeace, „lässt keinen Zweifel an der allgemeinen militärischen Überlegenheit der NATO“.

„Eine andere Zeitenwende“

Greenpeace folgert, eine „Notwendigkeit, in Deutschland die Militärausgaben weiter und dauerhaft zu erhöhen“ und dazu Kürzungen in „essenzielle[n] Bereich[en] wie Soziales, Bildung oder ökologische Transformation“ vorzunehmen, lasse sich aus Russlands Rüstung „nicht ableiten“.[9] Vielmehr solle „die bestehende konventionelle Überlegenheit der Nato“ zum Anlass genommen werden, Rüstungskontrolle und Abrüstung voranzutreiben: „Eine andere Zeitenwende“ sei dringend erforderlich.

„Weltpolitikfähig“

Dem stehen Äußerungen führender deutscher Politiker gegenüber, die klar darauf abzielen, Deutschland und der EU zu einer Weltmachtrolle zu verhelfen – auch mit militärischen Mitteln. „Wir müssen weltpolitikfähig werden“, verlangte in der vergangenen Woche etwa Wirtschaftsminister Habeck.[10] „Europa muss aus eigener Kraft heraus weltpolitikfähig werden“, forderte der Kanzlerkandidat von CDU und CSU, Friedrich Merz.[11] Damit tritt der gemeinsame Nenner einer möglichen künftigen Regierungskoalition hervor.

 

[1] Georg Ismar: Armdrücken statt Schulterschluss. Süddeutsche Zeitung 12.11.2024.

[2] Boris Pistorius: „Wir brauchen mehr Geld für unsere Sicherheit“. handelsblatt.com 09.05.2024.

[3], [4] Georg Ismar: Armdrücken statt Schulterschluss. Süddeutsche Zeitung 12.11.2024.

[5] Daniel Brössler, Paul-Anton Krüger, Sina-Maria Schweikle: Zwischen den Welten. Süddeutsche Zeitung 12.11.2024.

[6] Tim Aßmann, Kilian Neuwert: „Nicht die Zeit, um sich die Realität schönzureden“. tagesschau.de 18.02.2024.

[7] Körber Stiftung: The Berlin Pulse. Reliably Unreliable? Germany’s Struggle for Standing. Berlin, November 2024.

[8], [9] Christopher Steinmetz, Herbert Wulf: Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands. Herausgegeben von Greenpeace. Hamburg, November 2024.

[10] Cem-Odos Gueler, Anna Lehmann, Tobias Schulze, Stella Lueneberg: Plötzlich einig bei Verteidigung. taz.de 06.11.2024.

[11] Merz wirbt für stärkere Rolle Europas. faz.net 06.11.2024.

 

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