Fünf Schlüsselfaktoren entscheiden darüber, ob kontroverse Proteste eher zu einem Rückschlag führen oder positive Wirkung haben.
Von Mark Engler und Paul Engler
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist der zweite Beitrag einer zweiteiligen Serie, in der untersucht wird, wie Bewegungen die polarisierende Wirkung von Protest begreifen und ausnutzen können. Im ersten Teil wird untersucht, weshalb störender Protest inhärent polarisierend ist und wie sich Bewegungen in einem polarisierten Umfeld erfolgreich entwickeln lassen. Im zweiten Teil werden die wesentlichen Faktoren untersucht, die entscheiden, ob die Polarisierung, die durch Protestaktionen entsteht, einer Sache zugutekommt oder nicht.
In einer der berühmtesten Protestreden des 20. Jahrhunderts stand Mario Savio, Anführer des Berkeley Free Speech Movement, am 2. Dezember 1964 vor einer Menge tausender Menschen und lieferte ein inbrünstiges Plädoyer für Ungehorsam: „Es gibt eine Zeit, wo der Betrieb der Maschine so verabscheuungswürdig wird, einen so krank im Herzen macht, dass man nicht mehr mitmachen kann, auch nicht passiv“, erklärte Savio. „also musst du deinen Körper in das Getriebe und die Hebel der Maschine werfen, in den ganzen Apparat, und man muss sie stoppen!“ Im Moment scheinen mehr Leute denn je die gravierenden und grundlegenden Umbrüche unserer Zeit zu erkennen und Savios Rat zu folgen, ihre Körper in das Getriebe zu werfen. Als Ergebnis hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahren eine Welle störenden Protests erlebt.
Wir haben bereits beleuchtet, wie solche Aktionen unausweichlich eine spaltende Wirkung auf die Öffentlichkeit haben.
Das können Bewegungen ebenso wenig verhindern wie ein Ozean das Rauschen seiner Wellen; so formulierte es einprägsam der Abolitionist Frederick Douglass. Störender Protest zieht Aufmerksamkeit auf zentrale Themen, die sonst vielleicht ignoriert würden, und gibt ihnen eine Wichtigkeit, die den Machtinhaber:innen eine dringende Antwort abverlangt. Auf diese Weise polarisieren sie die Öffentlichkeit, wo zuvor unentschiedene Beobachter:innen gezwungen werden, eine Seite zu wählen. Protestkritiker:innen mag missfallen, dass Aktivismus außerhalb der etablierten Kanäle von Mainstream-Politik stattfindet – dies ist jedoch ein zentraler Teil im Prozess sozialen Wandels.
Anstatt Polarisierung zu fürchten, sollten Organisator:innen danach streben zu verstehen, wie sie sie möglichst effizient nutzen können. Dazu gehört die Einsicht, dass kollektive Aktion im Zeichen eines guten Zwecks zwar meist positive Folgen hat, aber nicht alle Proteste die identische Wirkung zeigen oder den gleichen Nutzen erzielen.
Um sich die Kraft der Polarisierung zunutze zu machen, muss man anerkennen, dass sie von Natur ein zweischneidiges Schwert ist: Die gleichen Aktionen, die positive Polarisierung erwirken – mehr aktive Unterstützer:innen für Bewegungen begeistern und bisher neutrale oder unentschiedene Zuschauende überzeugen, das Anliegen wenigstens passiv zu befürworten –, werden auch negative Folgen haben; ein paar Leute werden sich abwenden und die Opposition anfeuern. Das Ziel von Mitgliedern sozialer Bewegungen ist es also sicherzustellen, dass die positiven Wirkungen ihrer Aktionen die kontraproduktiven überwiegen, und dass sie das allgemeine Spektrum der Verbündeten zu ihren Gunsten verschieben.
Wie können Teilnehmende einer Gruppe vorhersagen, auf welche Weise ein Protest polarisieren wird? Und wie können sie lernen, effizientere Aktionen zu kreieren?
Im Umgang mit der polarisierenden Wirkung zivilen Widerstands helfen fünf zentrale Faktoren dabei, den Grad und die Qualität der öffentlichen Reaktionen auf eine Aktion vorherzusagen. Auch wenn Aktivist:innen nie komplette Kontrolle über die Resonanz haben, können sie doch ihre Erfolgschancen erhöhen, wenn sie diese Faktoren mitbedenken.
1. Wie die Forderungen einer Gruppe ihr Anliegen vermitteln
Stärker als alle anderen Faktoren beeinflusst die öffentliche Reaktion auf einen störenden Protest, wie gut Zuschauende die Legitimität des Anliegens einer Bewegung verstehen und nachvollziehen können. Weil die Taktiken von störenden Protests selten populär sind, ist es wichtig, dass die Menschen den guten Zweck dahinter sehen können. So ist also die Weise, wie Organisator:innen die Gerechtigkeit ihrer Ziele herüberbringen, entscheidend für die Frage danach, ob die resultierende Polarisierung alles in allem gut oder schlecht sein wird.
In erster Linie drücken Bewegungen dies durch die Formulierung ihrer Forderungen aus.
Die Forderungen einer Bewegung brauchen nicht unnötig technokratisch ausfallen. Häufig geben Expert:innen in den Medien ihrer Frustration Ausdruck, dass Proteste sich nicht um ein spezifisches Stück Gesetzestext gruppieren oder eine leicht umzusetzende Fünf-Punkte-Reform entworfen haben. Während solch spezifische Forderungen zwar wichtig für Langzeitverhandlungen einer Kampagne sein können, liegt der Fokus bezüglich der Dynamiken öffentlicher Polarisierung woanders.
Viel wichtiger ist nämlich, dass die Bewegung ihr Anliegen auf sympathische Weise präsentiert, indem sie an verbreitete Werte appelliert und das moralische Gewicht ihres Kampfes deutlich macht. Wir haben schon ausführlich darüber berichtet, wie Massenproteste die symbolische Dimension einer aktivistischen Forderung – etwa „wie gut eine Forderung in den Augen der Öffentlichkeit die dringende Notwendigkeit, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen verdeutlicht“ – oft ihre konkreten Qualitäten überwiegt, oder die Arten und Weise, wie sie in einen kurzzeitigen politischen Einfluss oder sofortige Zugeständnisse am Verhandlungstisch niederschlagen könnte.
Um das Britischen Kolonialreich Indien zu Fall zu bringen, konzentrierte sich Gandhi auf das Thema der Salzsteuer – eine besonders gehasste Abgabe des imperialen Regimes –, weil er wusste, dass die gleichen Menschen, die bezüglich verschiedener Unabhängigkeits- oder Selbstverwaltungsentwürfe unsicher waren, sich einem Widerstand gegen die Steuer anschließen würden, weil die Ungerechtigkeit dahinter deutlich zu spüren war. In der gleichen Logik war die Desegregation der Busse im Rahmen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vielleicht nicht der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Aufhebung der Jim-Crow-Gesetze. Trotzdem wurde sie zu einer zentralen symbolischen Forderung, weil sowohl die direkt betroffene Community als auch außenstehende Beobachter:innen konnten sofort begriffen, wieso die Forderung gerecht war – so vermittelte sie auf effiziente Weise die Legitimität der allgemeineren Ziele der Bewegung.
Gezielt Forderungen zu nutzen ist ein zentraler Teil der Vermittlungskunst. Hin und wieder haben Protestierende den Eindruck, dass ihr Anliegen in mancherlei Hinsicht wenig populär ist. Wollen sie zum Beispiel erreichen, dass der Militärhaushalt gekürzt wird, sehen sich vielleicht der Tatsache gegenüber, dass viele Gruppierungen bewaffnete Streitkräfte befürworten und eine Opposition als unpatriotisch empfunden wird. Trotzdem können Antikriegsgruppen Fortschritte machen, wenn sie etwa die Korruption von Militärunternehmen ans Licht bringen und die Verschwendung üppiger Verteidigungsausgaben anprangern (so infame Ausgaben wie „Schrauben für 37 USD, Kaffeemaschine für 7622 USD, 640 USD für Toilettensitze“), und somit die Unbeliebtheit bestimmter Auslandseinsätze anfeuern, oder die Opportunitätskosten von Krieg und Militarismus hochalten. Indem sie einen sympathischen Zugang zu ihrer Liste allgemeinerer Ziele bieten, präsentieren Protestierende ihr Anliegen auf eine Weise, die Schwungkraft kreiert und Wahlbezirke beeinflussen kann.
Bevor es ans Handeln geht, können Organisator:innen recherchieren, wie verschiedene Wahlbezirke auf bestimmte Themen reagieren, wenn diese von Politiker:innen angesprochen werden oder auf anderem Weg Eingang in die öffentliche Debatte halten. Der sicherste Indikator dafür, wie die Öffentlichkeit polarisiert, wenn ihr Protest mehr Menschen dazu zwingt, Partei zu ergreifen, ist jedoch nicht, wie diese Menschen über ein allgemeines Thema (wie den Klimawandel) denken, sondern vielmehr, ob sie mit der Forderung sympathisieren, die eine Bewegung vorbringt (sei es die Verweigerung einer Genehmigung für den Bau einer Pipeline, eine Steuer auf CO²-Emissionen, die Schaffung neuer öffentlicher Verkehrsmittel oder eine Agenda wie der Grüne New Deal).
Einige Berater:innen in der Welt der Medien und Erzählstrategie verrennen sich in der Debatte um feinere Aspekte von Gesprächspunkten und Botschaften zu einem Thema. Das Element, über welches Protestierende einer Kollektivaktion aber die meiste Kontrolle haben, ist die Art und Weise, wie sie ihr Grundanliegen präsentieren. Wenn eine Person mit der Forderung einer Gruppe sympathisiert, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich in die entsprechende Richtung polarisiert, auch wenn sie mit den Strategien nicht unbedingt einverstanden ist.
Protestierende vermitteln ihre Absichten nicht nur durch Zeichen, Banner, Lieder und Reden, sondern auch durch die Natur ihres Protests – seine Aktionslogik. Patrick Reinsborough und Doyle Canning vom Zentrum für geschichtenbasierte Strategien haben dieses Konzept eingeführt.
„Eure Handlungen sollten für sich selbst sprechen“, erklären die Autoren von Beautiful Trouble, denn: „Mit guter Aktionslogik…kann ein Außenstehender sehen, was ihr tut, und sofort verstehen, wieso ihr es tut. Wenn Menschen zum Beispiel einen Baum besetzen, um die Rodung eines Waldes zu verhindern – dann ist das eine eindeutige und offensichtliche Logik.“ Fordert eine Bewegung, eine Ölraffinerie zu schließen, und Aktivist*innen ketten sich selbst an die Tore der Einrichtung, um den Eintritt zu versperren, ist die Aktionslogik ebenfalls transparent. Wenn Menschen verschiedener Ethnien sich in dem Ziel, Rassentrennung in Cafeterias aufzuheben, sich dort zusammensetzen und Bedienung fordern, braucht dieser Akt des Widerstands wenig zusätzliche Erklärung.
Und doch sind die Ziele zivilen Widerstands nicht immer so eindeutig. Es gibt auch Beispiele für Proteste mit beträchtlich weniger kohärenter Aktionslogik. Kürzlich etwa unterbrachen Klimaaktivist:innen die Broadway-Show eines klassischen Ibsen-Stücks mit dem Schauspieler Jeremy Strong. Wie die New York Times berichtete, hatte das Stück ironischerweise „sowieso schon die Absicht, Licht auf die Klimakrise zu werfen, in den Augen seines kreativen Teams und der Stars“, die dem Klimakampf freundlich gesinnt sind. Sowohl das Publikum als auch die Medien hatten Schwierigkeiten zu begreifen, weshalb der Protest stattfand, und ob es sich nicht gar um einen geplanten Teil der Show handelte. Die Protestierenden begründeten ihre Handlung mit dem Wunsch, das normale Tagesgeschäft zu verhindern, um auf die Bedrohung eines sich aufwärmenden Planeten aufmerksam zu machen, auch wenn das bedeutet, von ihnen geschätzte Kunstperformances einzustellen. Es muss nicht erst gesagt werden, dass diese Absicht den meisten Beobachter:innen nicht direkt ersichtlich war.
Bei störendem Protest ärgern sich missfällige Kritiker:innen häufig: „Was wollen die?“ Gegen diese Kritik müssen sich Protestierende nicht direkt verteidigen. Aber sie müssen ihre eigene Antwort für das Publikum so selbstersichtlich und unwiderstehlich wie möglich vermitteln.
2. Das Gleichgewicht zwischen Stören und Selbstopfer
Der zweitwichtigste Faktor, der beeinflusst, wie die Öffentlichkeit sich als Reaktion auf Protest positioniert, ist das Gleichgewicht zwischen Störung und Selbstopfer im Handlungsablauf, bzw. der Protestplan und wie er in der Praxis aufgeht.
Laut Francis Fox Piven, Forscherin für Soziale Bewegungen, haben Proteste zwar eine kommunikative Funktion, sind aber nicht nur eine Form der Kommunikation. Sie seien mehr als Theater, „Zurschaustellung“, oder „Lärm“, argumentiert Piven. Vielmehr üben Proteste eine störende Kraft aus, wenn Menschen etwa aufhören, Regeln zu befolgen und mit dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Status Quo zu kooperieren: Arbeiter:innen beschließen, nicht zur Arbeit zu gehen; Mieter:innen weigern sich, Miete zu zahlen; Schüler:innen gehen nicht mehr in die Schule; Konsument:innen hören auf, ihr Geld in einem bestimmten Business auszugeben. Menschen, von denen gefordert wird, dass sie Schlange stehen, Formulare ausfüllen und die bürokratischen Prozesse erfüllen, lehnen diese ab. In manchen Fällen – wie Sit-Ins, Landbesetzungen, Fabrikstürmungen und verschiedenen Arten von Blockade – gehen diese Menschen weiter, als bloß passiv ihre Kooperation zu verweigern. Sie entscheiden vielmehr, aktiv das Funktionieren des Systems zu behindern.
Solcher Ungehorsam verursacht kleine und größere Krisen und kann von Personen in Autoritätspositionen nicht leicht ignoriert werden. So ist das das Störniveau eines Protestes eine zentrale Komponente bei der Vorhersage maßgeblicher Resonanz.
Dennoch gibt es ein Problem in der Frage, wie Störungen die Öffentlichkeit polarisieren könnten. Hören Mitglieder einer Gruppe auf, ihren Part zu erledigen und die Räder der etablierten Ordnung zu ölen, um sich stattdessen in das Getriebe der Maschine zu werfen, dann können solche Aktionen Alltagsroutinen zuwiderhandeln und anderen Menschen Unannehmlichkeiten bereiten. Auf diesem Weg riskieren Aktivist:innen, Unbeteiligte gegen sich aufzulehnen.
Ein Schlüsselfaktor für das Gewinnen der Sympathie angesichts solcher Unannehmlichkeiten ist das Niveau an Selbstopfer, das eine Handlung präsentiert. Wie die Forscherin Keeanga-Yamahtta Taylor kürzlich mit Blick auf Sit-Ins auf dem Campus feststellte: „Studierende, die sich zivilem Ungehorsam verschreiben, tun dies mit der Erwartung einer gewissen Repressalie. Das ist letzten Endes der moralische Imperativ im Herzen dieser spezifischen Form des Aktivismus: Selbstaufopferung im Namen eines höheren politischen Ziels.“ Das kann für Protesthandlungen in weiterem Sinne gelten: halten Teilnehmer:innen ihren Kopf hin, erwarten sie, die Kosten dafür zu tragen. Sie riskieren, gefeuert oder der Schule verwiesen zu werden; sie akzeptieren die Aussicht auf Verhaftung und legale Konsequenzen; vielleicht sogar das Risiko körperlicher Versehrtheit.
Die Bereitschaft von Protestierenden solche Opfer in Kauf zu nehmen zeigt beträchtliche Wirkung. Den Teilnehmenden selbst kann es helfen, sich ihrer Werte klarer bewusst zu werden und ihre Entschlossenheit zu stärken. Wenn eine unentschiedene Öffentlichkeit ein hohes Maß an Opferbereitschaft sieht, erzeugt das eine empathische Reaktion. Der Mut und die moralische Ernsthaftigkeit, die so gezeigt werden, können auch passive Unterstützende überzeugen, gleichfalls ein Zeichen zu setzen. Bei Handlungen mit hoher Opferbereitschaft sind Freund*innen, Familienmitglieder, Kolleg*innen und Nachbar*innen häufig so berührt, dass sie auf zahlreichen Wegen zur Tat schreiten – um Essen zu liefern, Geld zu spenden, Briefe zu schreiben, Boycotts beizutreten, ihren beruflichen Einflussbereich zu nutzen, Politiker:innen zu kontaktieren oder als Unterstützung dazuzukommen.
In jeder Strategie funktioniert die Kombination aus Störung und Opfer wie ein Tandem. Anfang der 1970er veröffentlichte Gene Sharp, Pionier in der Forschung zu zivilem Widerstand, seine berühmte Liste der 198 Methoden gewaltfreier Aktion, in denen er Herangehensweisen katalogisiert, die von Streikposten aufstellen und Musikperformances über Arbeitseinstellung und Mietstreiks zu „Entkleiden aus Protest“ und „politisch motiviertem Fälschen“ und Pray-ins und Landbesetzungen gehen. Sharp’s taktisches Inventar sollte die große Anzahl an Optionen illustrieren, aus denen Dissident:innen der Protestplanung wählen können.
Ausgehend von dieser Liste kann man jede vorgestellte Taktik auf einem Diagramm eintragen, das auf der einen Achse den Grad an provozierter Störung, auf der anderen den Grad des in Kauf genommenen Opfers misst. Diese Anordnung zerteilt die Taktiken in vier Quadranten:
Jeder Quadrant hat seine Stärken und Schwächen, und Bewegungen können die Taktiken aus den verschiedenen Bereichen für unterschiedliche Zwecke nutzen.
Um unteren rechten Quadrant haben die Handlungen wenige Opfer und wenige Störfaktoren. Hierzu zählen die üblichsten Formen kollektiven Protests, wie etwa autorisierte Rallyes und Märsche, das Unterzeichnen von Petitionen und Aushängen von Bannern. All diese Handlungen können Wege sein, mit geringem Risiko große Mengen an Unterstützenden einzubeziehen, Einheit zu demonstrieren und Teilnehmende für zukünftige Bemühungen zu rekrutieren. Der Gefahr dieser Proteste liegt darin, dass sowohl Menschen in Machtpositionen als auch die allgemeine Öffentlichkeit sie schlicht und einfach ignorieren können.
Im unteren linken Quadrant finden sich die Handlungen, die ein hohes Opfer, aber niedrige Störungen fordern. Oft ist hierbei nur eine kleine Anzahl an Menschen beteiligt, die isolierte, aber heroische Haltung zeigen: Sie halten etwa eine lange Mahnwache, sitzen eine mehrjährige Gefängnisstrafe ab, fasten über einen ausgedehnten Zeitraum, pilgern von Küste zu Küste und halten auf ihrem Weg in lokalen Communities Reden über ihr Anliegen. Durch Selbstlosigkeit und die Bereitschaft, Opfer zu bringen, können Menschen, die diese Taktiken verfolgen, zu inspirierenden Wegbereiter:innen zu ihrer Sache werden für jene, die sie treffen. Einige werden zu verehrten Figuren in ihrer Gemeinschaft. Doch auch hier bleibt das Störniveau niedrig, weshalb wieder das Risiko besteht, übersehen oder in die Marginalisierung verbannt zu werden.
Handlungen mit hohem Stör- und niedrigem Opferfaktor findet man im oberen rechten Quadrant. Sie sind effizienter, wenn es darum geht, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es handelt sich aber auch um den Quadranten mit dem höchsten Risiko, einen öffentlichen Rückschlag zu verursachen und für negative Polarisierung zu sorgen. Setzt sich eine einzelne Person auf eine Autobahn, legt das meilenweit den Verkehr lahm und richtet beträchtlichen Schaden an. Die Person riskiert vielleicht juristische Konsequenzen für ihr Handeln, das Opfer hält sich jedoch in Grenzen, wenn man es in Verhältnis zur ganzen Bewegung setzt. Ein ähnliches Gleichgewicht zeigt sich, wenn jemand eine öffentliche Veranstaltung unterbricht, oder bei Streiks, die eine geringe Anzahl an Arbeitenden betreffen, aber Leistungen für zahlreiche Konsument*innen einfrieren. Solche Störungen sind praktisch, um die Aufmerksamkeit auf die Aktivist:innen zu lenken und eine Reaktion zu erzwingen. Aber mit Blick auf die Polarisierung haben sie auch ihre Schattenseiten.
Der obere linke Quadrant beinhaltet die Taktiken mit hohem Stör- und Opferfaktor. Hierzu zählen viele der großen Klassiker zivilen Widerstands, wie großflächige Streiks, Besetzung mehrerer Gebäude, Proteste mit hoher Verhaftungszahl, die das Rechtssystem überfluten, und Community-weite Gesten der Nichtkooperation (wie zum Beispiel der Montgomery Bus-Boycott).
Anliegen von großem Ausmaß schaffen von Natur aus Situation mit hohem Stör- und Opferfaktor. Fangen größere Menschenmengen an, sich in Kollektivaktionen zu beteiligen und ihren beruflichen Komfort, ihre legale Freiheit und persönliche Sicherheit aufs Spiel setzen, weitet das den Bereich des kollektiven Opfers und steigert die Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Störung. Verlässt eine einzelne Person ihre Arbeitsstelle, ärgert das nur den lokalen Schichtmanager; tun zehntausende das gleiche, können sie eine ganze Industrie lahmlegen. Eine Person im Hungerstreik ist ein isolierter Märtyrer; als jedoch aberdutzende eingesperrter Suffragetten in England vor dem Ersten Weltkrieg die gleiche Taktik wählten, erregten die Frauen große Aufmerksamkeit und setzten die Regierung vor ein lästiges Dilemma. Auch eine milde Taktik wie ein Marsch kann zu einem riesigen Phänomen werden, wenn sich hunderttausende beteiligen. Auch wenn dies selten vorkommt, resultieren Proteste von solchem Ausmaß am ehesten in einem „Wirbelwindmoment“ – oder einer bahnbrechenden Phase, wenn ein Thema viral geht und die gewöhnlichen Regeln der Politik außer Kraft gesetzt scheinen.
Zudem laufen bei Handlungen mit hohem Stör- und Opferfaktor, bei denen Autoritäten Proteste unterdrücken wollen, der Bewegung am ehesten zugute. In der Forschung für zivilen Widerstand heißt dieses zentrale Phänomen das „Paradox der Repression“. Während maßgebliche Störung Autoritäten zu einer Reaktion zwingt und dieser Reaktion gewaltvoll ausfällt, kann eine hohe Opferbereitschaft seitens der Protestierenden helfen, Beobachter:innen für ihre Sache zu gewinnen.
Der Soziologe Lee Smithey zitiert Beispiele vom Einsatz von Polizeihunden gegen Bürgerrechtsprotestierende bis zum Massakrieren von Zivilist:innen durch die britische Regierung im kolonialen Indien und erklärt, dass „der Einsatz von Zwangsmitteln gegen Dissident:innen häufig zurückschlägt und so zu einem transformativen Momentum wird, das den Kurs eines Konfliktes verändern kann.“ Smithey fügt hinzu: „Anstatt eine Bewegung zu demobilisieren, schürt Repression ironischerweise den Widerstand und untergräbt die Legitimität einer Machtelite.“
Es gibt nicht nur in der Geschichte zahllose Beispiele des Paradoxes der Repression. Das Phänomen ist auch mit Blick auf die Pro-Palästina-Zeltlager an den Universitäten im vergangenen Frühling sichtbar. Über Proteste an der Columbia University war vor dem 18. April begrenzt Bericht erstattet worden. Dann entschied der Universitätspräsident Nemat „Minouche“ Shafik, nachdem er gerade von Republikanern im Kongress in die Mangel genommen worden war, über 100 Studierende verhaften zu lassen, die am Vortag ihre Zelte auf dem Campus aufgestellt hatten. Nach den Verhaftungen stieg die öffentliche Aufmerksamkeit für die Studierendenproteste exponentiell. Innerhalb weniger Tage titelte der Economist „Bemühungen, Studierendenproteste in Amerika zu unterbinden ist stark danebengegangen“ und erläutert in seinem Artikel, dass die polizeilichen Intervention die Situation sowohl „aufgepeitscht“ als auch als „Trigger“ für eine landesweite Ausbreitung der Studierendenbesetzung gedient habe, die die neuen Semester über Wochen dominieren würde.
„Die Ironie ist, dass die Administration/Verwaltung in dem Versuch, Ruhe zu schaffen und Kontrolle über das Zeltlager auszuüben, einen Feuersturm ausgelöst hat“, konstatierte David Pozen, Rechtsprofessor an der Columbia University.
Im New Yorker stellte Keeanga-Yamahtta Taylor fest, dass „eine überreizte und gewaltvolle Attacke durch den Staat eine marginalisierte Bewegung schnell ins Zentrum rücken kann und Menschen anzieht, die dem sonst vielleicht keine Aufmerksamkeit geschenkt und nur stumm zugeschaut hätten.“ Taylor zitierte eine studierende Person in SUNY New Paltz, die zusah, wie Mitglieder der Bereitschaftspolizei mithilfe von Hunden die 130 Studierenden forttrieb, welche auf dem Boden saßen und sich weigerten, das Gelände zu verlassen. „Ich hatte mich nicht besonders am Geschehen beteiligt“, berichtete sie. „Ich sah, was gestern Abend passierte, das war komplett unnötig und widerlich. Jetzt hab ich das Gefühl, ich muss mich einbringen.“
In der Berichterstattung darüber, wie Verhaftungen an der Dartmouth University im Januar letzten Endes eine Ausweitung des Zeltlagers schürten, zitierte die New York Times eine studierende Person, die argumentierte, Verhaftungen hätten dem Campus-Aktivismus einen „Turboantrieb“ gegeben. In gleicher Weise berichtete die Times am 20. April mit Blick auf die Verhaftungen an der Columbia, dass „die aggressive Reaktion Studierende erschüttert zurücklässt – aber auch, so sagen sie, angespornt.“
Wie ein Mitglied der Proteste verkündete: „Alle fühlen sich belebt.“
3. Sympathische Akteure und unsympathische Ziele
Ein dritter Schlüsselfaktor für die Polarisierung bezieht sich auf die „Heldenfiguren“ und „Bösewichte“, die in einem Protestprogramm stilisiert werden. In einigen Fällen kann die Anwesenheit von hochsympathischen Protagonist:innen oder stark unbeliebten Antagonist:innen darüber entscheiden, wie die Öffentlichkeit einer Aktion gegenüber antwortet – besonders, wenn normale Menschen das Anliegen vielleicht als komplex wahrnehmen oder sich unsicher sind, welche Gruppen von einer bestimmten Ungerechtigkeit betroffen sind.
Saul Alinsky riet Organisator:innen, man solle „ein Ziel wählen, es fixieren, es personalisieren, und polarisieren“, und unterstrich damit die Wichtigkeit, ein Thema weniger abstrakt erscheinen zu lassen, indem man einer Gegenpartei eindeutige Verantwortung zuschreibt. Reinsborough und Canning vom Zentrum für geschichtenbasierte Strategien chreiben ebenso in ihrer umfangreichen Diskussion darüber, wie das Präsentieren einer Geschichte funktioniert, dass manchmal „der Botschafter die Botschaft“ ist. Schieben Gruppen bestimmte Charaktere in den Vordergrund, „verkörpern [diese] die Botschaft, indem sie dem Konflikt ein menschliches Gesicht verleihen, und die Geschichte in Kontext setzen.“
Es ist bekannt, wie die Bürgerrechtsbewegung ganz in diesem Sinne Nutzen daraus zog, den hitzköpfigen Polizeichef Bull Connor zum Gegner zu haben, denn man konnte sich darauf verlassen, dass er das vornehme und paternalistische Selbstbild der Segregation der Südstaaten diskreditieren würde. Mit Connor in der Rolle des Bösen wurde die ganze Gewalt des Jim Crow-Systems bloßgestellt.
Etwas kürzlicher zog Occupy Wall Street, das im Herbst 2011 für Schlagzeilen sorgte, die allgemeine Wut auf wohlhabende Banker:innen, die eine globale Rezession verursachten, was zu Zwangsvollstreckungen und einer in die Höhe schießenden Arbeitslosenquote führte. Diese Aspekte der Belagerungen stellten andere Punkte in den Schatten. In diesem Moment war das Zielobjekt der Protestierenden letztendlich wichtiger als ihre spezifischen Forderungen. Da die Öffentlichkeit spürte, dass die Führungskräfte der Wallstreet nicht zur Verantwortung gezogen wurden, schien eine wutentbrannte Demonstration auf ihrer Türschwelle hochvernünftig. Und Occupy’s Narrativ der oberen „1 Prozent“ gegen die in inklusiven „99 Prozent“ der Gesellschaft zeichnete das Bild einer Bewegung, die die große Mehrheit repräsentierte.
Von Beginn ihrer Existenz profitierten die Occupy Zeltlager davon, dass man sie mit einer Reihe von allgemein gesellschaftlich befürworteten Themen assoziierte: Eine im Oktober 2011 im Time Magazine veröffentlichte Umfrage machte deutlich, dass doppelt so viele Befragte Occupy freundlich gesinnt waren wie der konservativen Tea Party, und dass von jenen, die über die Proteste auf dem Laufenden waren, „86 Prozent – davon 77 Prozent Republikaner:innen – mit dem Streitpunkt der Bewegung einverstanden waren, dass Wall Street und ihre Stellvertreter:innen in Washington zu viel Einfluss auf politisches Geschehen haben.“ Des weiteren schrieb die Time, „über 70 Prozent, und 65 Prozent der Republikaner:innen [der Meinung waren], dass die Finanzchefs, die die US-Wirtschaft im Herbst 2008 an den Rand der Implosion geführt hatten, dafür strafrechtlich verfolgt werden sollten.“
Solche Gefühle ermöglichten es der Bewegung, sich trotz der ablehnenden Haltung der Elitemedien durchzusetzen und Beobachter:innen zu helfen, die Bedeutung der Proteste zu begreifen. In einer Rede auf der Occupy-Generalversammlung in selbigem Herbst spöttelte Naomi Klein, dass „verblüffte Kritiker:innen im Fernsehen“ bezüglich der Demonstrationen fragten: „Warum protestieren die?“, während der Rest der Welt sich die Frage stellte, „Warum hat das so lange gedauert?“
Ungewöhnlich sympathische Protagonist:innen können eine ähnlich starke Wirkung haben. Der knappe Niederlage des demokratischen Präsidentschafts-Kandidaten John Kerry im Wahlkampf 2004 und die Wiederwahl des militärischen Oberbefehlshabers George W. Bush hatte Anfang 2005 die Niederschlagung und Auflösung die Bewegung gegen den Irak-Krieg zur Folge. Um die Bewegung wiederzubeleben brauchte es jemanden wie die American Gold Star Mother Cindy Sheehan, deren Sohn Casey im Krieg gefallen war.
Im August 2005 errichtete Sheehan ein Zeltlager außerhalb von Bushs Ranch in Crawford, Texas. Vor dem Hintergrund der Lügen der Bush-Verwaltung über die Notwendigkeit des Einmarschs in den Irak forderte sie ein Treffen mit dem Präsidenten und eine Erklärung für den Tod ihres Sohnes. Sheehan taufte ihren Protestplatz „Camp Casey“. Die rasche Zunahme an Protestierenden im Verlauf der folgenden Wochen erwirkte ein zwingendes Handlungsdilemma: Lehnte Bush das Treffen mit Sheehan ab, zeigte er sich als kaltherziger Staatschef, der keine Verbindung mit Familien suchte, die grauenhafte Opfer gebracht hatten. Gewährte er ihr jedoch Gehör, riskierte der Präsident ein großflächiges Medienereignis, in welchem seine Kriegsführung scharf kritisiert würde.
Das Ergebnis war der perfekte Wirbel für die Bewegung. Wie die Nation berichtete: „Bush verweigerte das Gespräch. Die Medien nicht. Reporter:innen kamen in Scharen zu der Frau, die die Kühnheit besaß, in aller Öffentlichkeit auf Bushs Türschwelle zu trauern. Plötzlich flimmerte Sheehans erschöpftes, sonnenverbranntes Gesicht auf Fernsehbildschirmen in nahezu jedem Wohnzimmer des Landes – und der Welt.“ Das Magazin zitierte zudem die Forscherin Karen Dolan vom Institute for Policy Studies: „Ich bin selbst Mutter, als ich Cindy zum ersten Mal sprechen hörte, kamen mir die Tränen. Sie war so ergreifend und berührend, dass jeder Durchschnittsamerikaner ungeachtet der eigenen politischen Meinung nicht anders kann als bewegt zu sein von dieser Mutter, die ihren Sohn im Irak verloren hat“ NBC News veröffentlichte einen Bericht zum „Cindy Sheehan Effekt“, in welchem die Präsidentschafts-Historikerin Doris Kearns Goodwin sich zu dem außergewöhnlichen Potenzial der Mahnwache äußert, Sympathisant:innen für die Bewegung außerhalb der gewöhnlichen Wählerschaft zu gewinnen. Letzten Endes löste Sheehans Handeln quer durchs Land eine neue Protestwelle aus, mit Antikriegs-Militärveteran:innen und deren Familienmitgliedern an der Spitze.
Ein anderes Beispiel dafür, wie untypische Held:innen die Wahrnehmung von Protesten beeinflussen, gab es kürzlich in Europa. Dort gingen Landwirt:innen und LKW-Fahrer:innen in mehreren Ländern – darunter Deutschland – Anfang des Jahres auf die Straßen, um ihrer Wut über die Sparpläne der Regierung und Umweltregulierungen Ausdruck zu verleihen. In vielen Fällen nutzten sie die gleichen Strategien wie Klimaaktivist:innen, wie zum Beispiel das Blockieren von Autobahnen. Aber während die Politik die Aktion junger Klimaschützer:innen als Terrorismus denunzierte, suchten viele schnell die Gunst der verstimmten Landwirt:innen und LKW-Fahrer:innen – obwohl deren Blockaden zum Teil in fatalen Unfällen resultierten.
Entscheidend ist an dieser Stelle, dass die letztere nicht als die „üblichen Verdächtigen“ wahrgenommen wurden, die man auf einem Straßenprotest erwarten würde, sondern eher als die schon lange leidenden, „vergessenen“ Arbeiter:innen, deren Bürde nun endlich untragbar geworden war. Der Einsatz von Sattelzügen, Traktoren und Landwirtschaftsfahrzeugen zur Blockierung von Autobahnen wurde zu einem wichtigen Teil der Aktionslogik des Protests und stellte das unerwartete und sympathische Wesen der Teilnehmenden in den Vordergrund.
4. Medien und PR-Kompetenz
Von allen Faktoren, die dazu beitragen, wie Bewegungen die Öffentlichkeit spalten, ist die vierte Kategorie die direkteste: die PR-Kompetenz einer Bewegung.
Mit einer guten Aktionslogik können Organisator:innen die Botschaft ihres Protests „zeigen statt [zu] sagen“, und auf diesem Weg das Narrativ darum mitgestalten. Aber das Erzählen an sich ist auch wichtig. Und Erzählen bedeutet Kommunikation mit den Medien.
Besonders in der jüngsten Generation hat sich das Studium der Medienkunst weiter verbreitet – und so haben die Aktivist:innen von heute keinen Mangel an Ressourcen zu dem Thema. Doch während die bestorganisiertesten politischen Operationen immer ausgeklügelter werden, scheitert eine schockierende Zahl an Graswurzelbewegungen daran, grundlegende, lang bewährte Schritte zu gehen, wie etwa gut vorbereitete Sprecher:innen zu wählen, kohärente Stellungnahmen zu verfassen, die das Ziel der Bewegung klar vermitteln, und Stück für Stück Medienkontakte aufzubauen.
Manchmal ist dies das Ergebnis eines einfachen Übersehens. Da die die internen Notwendigkeiten bei der Organisation einer Gruppe und das Planen einer womöglich risikoreichen Kollektivaktion an sich schon hochintensiv sind, kann die Kommunikation mit dem Außen schnell untergehen. In anderen Fällen zeugt der Mangel an öffentlichen Stellungnahmen jedoch von mehr als bloßer Nachlässigkeit. Manche Radikale sehen Medienbeziehungen als geschmacklos und sogar ideologisch verwerflich an; sie werfen jenen, die sich mit dem öffentlichen Image auseinandersetzen, vor, „für die Kameras [zu] spielen“ und implizieren, dass Appelle an die Gunst der Öffentlichkeit entgegen der Ethik ernsthaften Widerstands seien. In diesem Sinn beschlossen Mitglieder der pazifistischen Katholischen Arbeiterbewegung, keine Presseankündigungen über ihre Proteste zu senden, da sie der Ansicht waren, ein Suchen nach Aufmerksamkeit behindere die Reinheit ihres moralischen Zeugnisses. Und auf der anderen Seite laufen anarchistische Aufständische mit absichtlich aufwieglerischen Bannern (z.B. „Bringt die Guillotine zurück“) durch die Straßen, und schreien dann den an ihrem Protest interessierten Nachrichtenteams „keine Kameras!“ entgegen.
Es ist sicherlich legitim, die Mainstream-Tendenz anzuprangern, Politik fürs Image und Schönreden zu nutzen, wobei tiefgehende Kräfte moralischer Prinzipen, politisches Gewissen, Solidarität und Organisationsstärke zu kurz kommen. Nichtsdestoweniger ist das allzu verbreitete Zurückweisen der Linken, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, eine Einladung für Marginalisierung und Selbstisolation. Es steht für das Scheitern, radikale Verantwortung der Kritik für Hegemonie in der Gesellschaft als Ganzem zu akzeptieren – das bedeutet, sich ernsthaft zu bemühen, Einfluss zu nehmen auf die dominante Weltsicht, die die meisten Menschen nutzen, um sich ein Bild von sozialen und politischen Themen zu machen.
Es gibt Methoden, die Wandel herbeiführen und nicht unbedingt auf Massemedien basieren: etwa die Traditionen, geduldig Organisationsstrukturen aufzubauen, alternative Institutionen zu schaffen, Inside-Lobbying und legales Vorgehen, die Arbeit mit Einzelpersonen, um spirituelles Erwachen oder persönliche Transformation zu fördern brauchen oder wünschen oft keine mediale Berichterstattung über ihre Bemühungen. Aber anders als diese Aspekte eines gesunden Ökosystem sozialen Wandels hängen etwa Massenproteste und ziviler Widerstand substanziell von öffentlicher Kommunikation ab.
Die Folgen einer öffentlichen Kommunikation können hart sein. Proteststrategien wie Streik am Arbeitsplatz oder eine massenhafte Mietzahlverweigerung brauchen in der Regel keine öffentliche Resonanz, um zu funktionieren. Sehen sich Arbeitgeber:innen gezwungen, ihr Geschäft aufgrund eines Arbeitskräftemangels schließen zu müssen, erkennen sie womöglich selbst, dass für das Funktionieren ihrer Firma Zugeständnisse nötig sind. Oder ein Vermieter kommt angesichts eines Einkommenseinbruchs vielleicht eher den Forderungen der Mietenden nach. Für einige Theoretiker:innen ist das die Definition von „direkter Aktion“, als Widerstand, der die Machtinhabenden augenblicklich herausfordert, ohne den Umweg über Außenstehende zu gehen. Aber in unserer modernen Welt ist oft der Meinungskrieg entscheidend – und dieser reicht weit, um die Lösungen für die durch soziale Bewegungen hervorgebrachte Störung mitzugestalten.
Das Ausmaß an positiver Resonanz und Intervention „indirekter“ Akteure – die großzügige Unterstützung durch Personen aus dem Arbeitsfeld, der Nachbarschaft, verbündete Organisationen, Partien und Mitgliedern der Community – kann den Unterschied machen dazwischen, ob die Streikenden, Besetzer oder andere Dissidentinnen von Militär und Polizei niedergeschlagen/zerstreut werden, und ob diese Repression letzten Endes erfolgreich den Widerstand unterdrückt. Es kann ebenfalls darüber entscheiden, ob Mitglieder einer Bewegung in der Folge strengen legalen Sanktionen ausgesetzt sind oder nicht. Ein großer Teil dieser Form von Unterstützung wird über Massenmedien verbreitet/vermittelt/transportiert.
Eine effiziente Öffentlichkeitsarbeit kann bedeuten, dass Bewegungen ihre eigenen Medien gründen, oder dass sie mit bestehenden progressiven Magazinen, Websites und alternativen Medienformen zusammenarbeiten. Die Linke war bisher allgemein weit weniger erfolgreich als die Rechte darin, ein eigenes Medienuniversum von signifikanter Reichweite aufzubauen. Ihr ist kein Gegenstück zum Beliebtheitsdurchbruch von Netzwerken wie Fox News gelungen. Mangels solcher Plattformen haben Linke viel Energie in die Analyse von Grenzen und Vorurteilen der großen Medienunternehmen gesteckt. Aber ob es einem gefällt oder nicht, Bewegungen müssen dennoch mit solchen Institutionen rechnen. Immerhin können schon die kleinsten Bemühungen reale Früchte tragen. Auf lokaler Ebene kann die persönliche Beziehung mit jemandem in den Medien einen riesigen Unterschied machen, was sowohl den Umfang als auch die Qualität der Berichterstattung eines Protestes betrifft.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben soziale Netzwerke die Medienlandschaft grundlegend verändert – sie haben Mittel geschaffen, die traditionelle Presse zu umgehen und direkt mit einer breiten Zuhörerschaft zu kommunizieren. Dies hat entlang des gesamten politischen Spektrums eine Generation von Medienstrateg:innen geschaffen, welche Weiterbildung und Beratung anbieten, um das Potenzial dieser neuen Plattformen maximal auszuschöpfen. Manchmal fixieren sich die Mainstreammedien darauf, wie Bewegungen neue Technologien nutzen, und überbewerten die Bedeutung der neusten Trend-App – sie betiteln etwa frische Demonstrationswellen als „Twitter Revolutionen“ oder verkünden den Beginn der „TikTok Generation“ des Protests. Aktivist:innen sind sich indes deutlich bewusst, dass Plattformen, die Billionär:innen gehören und von Unternehmen kontrolliert werden, keine neutralen Orte darstellen, und dass sie notwendigerweise mit ihren eigenen Tücken daherkommen.
Aber es stimmt auch, dass es die Aufgabe von Organisator:innen ist, aus den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen das meiste herauszuholen. Im Falle der Medien bedeutet das sowohl, sich an neue Technologien anzupassen, als auch von Einblicken in die Industrie politischer Öffentlichkeitsarbeit der letzten Jahrzehnte zu lernen, ohne in den seelenlosen Kreislauf der Mainstreampolitik abzurutschen. Es bedeutet, Wege zu finden, beliebte Kommunikationswege effizient zu nutzen und gleichzeitig die eigene Integrität zu wahren.
5. Timing und nicht greifbare Faktoren
Die fünfte und letzte Kategorie der Faktoren zur Bestimmung von Polarisierung bei Protest besteht aus nicht greifbaren Aspekten. Zugegeben ergibt das eine etwas strukturlose, allgemeine Klassifizierung. Dennoch ist wahr, dass eine Reihe kleinerer äußerer Umstände – die in der Regel außerhalb des Einflussbereichs der Protestorganisation liegen – am Ende einen wichtigen Einfluss darauf haben kann, wie eine Aktion aufgenommen wird. Obwohl sie grundsätzlich weniger wichtig sind als die Forderungen einer Gruppe, der Aktionsplan eines Protests, die Guten und Bösen einer Aktion oder die PR-Kompetenz können diese Faktoren in einigen Fällen entscheidend sein.
Viele nicht greifbare Umstände haben mit Timing zu tun. Gelegentlich kann eine mit dem Protest nicht zusammenhängende Naturkatastrophe oder eine Eilmeldung stark beeinflussen, wie die Öffentlichkeit eine Aktion bewertet. Verursacht beispielsweise die Explosion einer Bohrinsel eine Umweltkrise, kann ein geplanter Protest für den folgenden Tag gegen Führungskräfte der fossilen Industrie besondere Aufmerksamkeit bekommen – auch wenn die Bohrinsel tausende Meilen entfernt liegt. Im Gegenzug verlieren Proteste gegen das Star-Gesicht eines Ausbeuterunternehmens vielleicht an Zuspruch, wenn die betroffene Berühmtheit plötzlich verkündet, an einer schweren Krankheit zu leiden – wodurch jede Kritik inmitten der Welle des Mitgefühl, nun unverzeihlich bösartig wirkt.
Ein weiterer nicht greifbarer Faktor, der gelegentlich aktuell wird, ist das Paradox bezüglich der Repression, wenn etwa Reporter:innen, Kameraleute oder andere Pressemitglieder bei einem Protest vor die hart durchgreifende Polizei gelangen. Werden Journalist:innen Opfer von Belästigung, körperlicher Gewalt oder Verhaftung, setzen sie sich in der Folge mitunter intensiv mit der Geschichte auseinander, was zu einer weit länger anhaltenden und unterstützenden Berichterstattung führen kann, als Organisator:innen es hätten erwarten können. In diesem Fall können die scheinbaren Launen eines Tagesgeschehens letzten Endes einen gewaltigen Einfluss auf die Polarisierungskraft eines Protestes haben.
Hin und wieder ist der Ruf einer Bewegung aufgrund früherer Aktionen entscheidend. Der negative Nachgeschmack einer einst schlampig durchgeführten Aktion kann zukünftigen Protesten einen Strich durch die Rechnung machen, seien sie noch so gut geplant. Oder die positive Wahrnehmung, dass eine Bewegung auf dem Vormarsch ist und an Schwung gewinnt, kann einer Bewegung Glaubwürdigkeit verleihen, die die Mängel in der Planung eines aktuellen Protests aufwiegen kann.
Viele dieser nicht greifbaren Faktoren liegen jenseits der direkten Kontrolle einer aktivistischen Bewegung. Dennoch können die meisten Teilnehmenden sich über die bestehenden Umstände ausführlich informieren, eine Konjunkturanalyse durchführen und stets Ausschau für „Triggermomente“ halten, die sich auf allgemeine Sensibilität zur eigenen Sache auswirken können.
Mit anderen Worten, Organisator*innen können nicht immer entscheiden, welche Karten sie in der Hand haben. Aber sie können Glück erkennen, wenn es vor ihnen liegt – und dementsprechend spielen.
Polarisierung als Handwerk
So umfassend Gene Sharps Ambitionen auch waren, sein Katalog der 198 Taktiken wird nie die ganze Bandbreite an Optionen für soziale Bewegungen ausschöpfen. In den Jahrzehnten seit seiner Erstveröffentlichung haben neue Technologien sowie der Erfindungsreichtum der Wurzelbewegungen der Liste gewaltfreier Interventionen zahlreiche „Methoden“ hinzugefügt. In der Tat erstellte Michael Beer, Direktor der Nonviolence International 2021 eine überarbeitete Datenbank, die Sharps ursprüngliche Liste auf 346 Taktiken erweitert und so die Anzahl an präsentierten Möglichkeiten fast verdoppelt.
Haben diese vielen Taktiken eines gemein, dann ist es ihr Potenzial, die Öffentlichkeit auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlicher Intensität zu polarisieren. Indem sie einen Konflikt aufbauschen, der sonst übersehen würde, und indem sie die Macht der Nichtkooperation und des persönlichen Opfers nutzen, um das Alltagsgeschehen der Gesellschaft zu durchbrechen, nötigen Protestaktionen Leute dazu, eine Seite zu wählen. Sie erlauben Bewegungen, eine aktive Unterstützungsbasis aufzubauen, und geben ihnen die Möglichkeit, jene für sich zu gewinnen, die zuvor vielleicht gleichgültig oder im Unwissen waren. Gewinnen diese Bewegungen an Reichweite und werfen ihre Körper ins Getriebe der Maschine, gibt das den weniger Mächtigen in den Mainstreamkanälen der Politik ein Mittel, um trotzdem größeren Einfluss auszuüben.
Es gibt nicht die eine „richtige“ Antwort auf die Frage, welche Taktiken eine Bewegung zu einer bestimmten Zeit wählen, wie sie das Narrativ ihrer Aktion gestalten sollte oder welches das beste Maß an Störung und Opferbereitschaft für einen bestimmten Protest ist. Am besten sieht man die Liste der Methoden als eine Einladung zur Kreativität, als Erinnerung an Organisator:innen, dass sich in ihrer kollektiven Werkzeugkiste viele Werkzeuge befinden – oder viele Waffen in ihrem taktischen Arsenal –, alle mit eigenen Eigenschaften und Stärken.
Doch während Bewegungen zahlreiche Optionen zur Verfügung stehen, können Teilnehmende ihre Fähigkeit verfeinern, die beste Weise für das Einwirken auf einen bestimmten Wahlbezirk vorherzusehen. So sichern sie sich besser ab, dass mehr Leute sich unterstützend zu- als abwenden, und ziehen mit der Zeit steigende Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen. Auch wenn Gruppen, die störenden Protest ausüben, nur eine begrenzte Reihe an Umständen kontrollieren können, bieten die fünf Faktoren der Polarisierung Wegweiser, um zu erahnen, wie ein Protest aufgenommen wird und wie man die Resonanz darauf mitgestalten kann. Mit anderen Worten ermutigen die Faktoren Bewegungen, Polarisierung als Handwerk zu betrachten – und ihr Bestes zu tun, um sie zu beherrschen.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alissa Birle vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
Mark Engler ist Schriftsteller in Philadelphia, Redaktionsmitglied bei Dissent und Mitautor von „This Is An Uprising: How Nonviolent Revolt Is Shaping the Twenty-first Century“ (Nation Books). Er kann über die Website www.DemocracyUprising.com erreicht werden.
Paul Engler ist Direktor des Center for the Working Poor in Los Angeles, Mitbegründer des Momentum-Trainings und gemeinsam mit Mark Engler Autor von „This Is An Uprising“.