Die WHO-Strategie könnte jährlich zu 300’000 Todesfällen bei Kindern führen, warnen Fachleute. Sie fordern zuerst Studien.

Martina Frei für die Online-Zeitung INFOsperber

Die WHO-Impfexperten wollen die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung durch einen anderen Impfstoff ersetzen. Denn die Schluckimpfung sei «nicht vereinbar» mit dem Ziel der Ausrottung des Poliovirus. Eigentlich hätte die Umstellung dieses Jahr erfolgen sollen.

Doch weil die Polio-Ausrottungs-Kampagne ihre selbstgesteckten Ziele Jahr um Jahr verfehlt, verschiebt sich das auf den Zeitpunkt, an dem alle drei «Wild»-Typen von Polioviren ausgerottet sind. Typ 2 gilt seit 2015 als ausgerottet, Typ 3 erklärte die WHO 2019 für ausgerottet. In dieser Liste fehlt jetzt nur noch Typ 1, der noch in Afghanistan und Pakistan kursiert.

Die Schluckimpfung besteht aus abgeschwächten Polioviren. Diese können unter Umständen mutieren, selbst zu Krankheitserregern werden und ungeimpfte Menschen infizieren. Weil von diesem Impfstoff immer wieder – allerdings sehr selten – Fälle von impfverursachten Kinderlähmungen sowie kursierende, mutierte Impfviren ausgehen, will die WHO ihn durch einen zum Spritzen ersetzen, den sogenannten IPV-Impfstoff.

Der Impfstoff zum Spritzen hat einen Vorteil und drei Nachteile

In reichen Ländern wird der IPV-Impfstoff schon länger verwendet. Er enthält inaktivierte Polioviren und umgeht so das Problem, dass der Impfstoff selbst Kinderlähmung auslösen kann. Allerdings kann er nicht verhindern, dass zirkulierende Polioviren von Mensch zu Mensch übertragen werden. Das ist einer seiner Nachteile.

Der zweite Nachteil ist sein Preis. Eine Dosis des bei Routine-Impfungen verwendeten Schluckimpfstoffs kostet laut «Unicef» aktuell (günstigster Preis) etwa 11 US-Cent. Eine Dosis des IPV-Impfstoffs zum Spritzen kommt im günstigsten Fall auf 1,25 US-Dollar. Der IPV-Impfstoff kostet also mehr als das Zehnfache. Für Länder, die vor der Frage stehen, ob sie mit ihrem kleinen Budget ihre Bevölkerung besser ernähren oder impfen, fällt dieser Unterschied ins Gewicht.

In den letzten zehn Jahren wurden laut der «Globalen Polio Ausrottungs-Initiative» über zehn Milliarden Polio-Impfdosen an Kinder verabreicht. Bei solchen Mengen summieren sich selbst kleine Preisunterschiede. Hinzu kommen die Kosten des Impfens. Sie betragen zwischen 1,3 und 2,5 US-Dollar pro Person.

Die Behandlungskosten für ein Kind mit Kinderlähmung belaufen sich auf ein Vielfaches: 700 US-Dollar veranschlagte eine Studie in «The Journal of Infectious Diseases» für die Behandlung in einem armen Land, 750’000 Dollar in einem reichen Land.

Unspezifische Wirkungen sind vorhanden, aber viel zu wenig untersucht

Der dritte Nachteil fällt besonders ins Gewicht: Die Polio-Impfung zum Spritzen verhindert Todesfälle bei Kindern insgesamt vermutlich schlechter als die Schluckimpfung, insbesondere in armen Ländern.

Eine ernstzunehmende und grösser werdende Gruppe von Wissenschaftlern ist überzeugt, dass Impfstoffe unspezifische Effekte haben können, vor allem bei Kindern in armen Ländern. Gemeint ist damit, dass sie nicht allein «spezifisch» vor einer bestimmten Erkrankung (wie zum Beispiel der Kinderlähmung) schützen, sondern darüber hinaus weitere Wirkungen entfalten.

Bessere Immunabwehr

Bei Kindern in armen Ländern würden sogenannte Lebendimpfstoffe wie die Schluckimpfung die allgemeine Sterblichkeit senken, weil sie vermutlich das Immunsystem insgesamt stärken. Die Nicht-Lebendimpfstoffe wie der IPV-Impfstoff dagegen bieten keinen solchen vergleichbaren Nutzen. So lautet die Hypothese, die inzwischen durch etliche Studien gestützt wird.

Prominente Kräfte dahinter sind die dänischen Impfforscher Christine Stabell Benn und Peter Aaby sowie der Immunologe Mihai Netea von der Radboud-Universität Nijmegen (Infosperber berichtete).

In Guinea-Bissau, wo Aaby seit langem arbeitet, habe von 2002 bis 2014 jede Impfrunde mit der traditionellen Schluckimpfung die Sterblichkeit bei Kleinkindern in den Städten um durchschnittlich 14 Prozent (relativ) gesenkt – obwohl es in dem Land gar keine Fälle von Kinderlähmung gab. Keine andere Impfkampagne, beispielsweise gegen Masern, zeigte solche positiven Effekte.

Wegen dieses grossen Vorteils der Polio-Schluckimpfung, den der Impfstoff zum Spritzen nicht zu bieten scheint, warnte die Professorin für Globale Gesundheit Christine Stabell Benn in den «Embo Reports» bereits im Jahr 2020: Der Plan der WHO, die Schluckimpfung 2024 auslaufen zu lassen, sei «ein Riesenfehler».

4000 Todesfälle pro einen verhinderten Fall von Polio

Die kanadische Immunologin Eleanor Fish von der Universität Toronto und 14  weitere Kolleginnen und Kollegen pflichten ihr bei: Falls die WHO die Polio-Schluckimpfung durch den Impfstoff zum Spritzen ersetzt, würde sie Todesfälle bei Kindern in Kauf nehmen.

Diese Gruppe Wissenschaftler hatte 2016 eindringlich in einem Brief an die Medizinzeitschrift «The Lancet» 2016 gewarnt: «Die Ergebnisse einer randomisierten Studie aus dem Jahr 2015 deuten darauf hin, dass die Schluckimpfung positive unspezifische Wirkungen haben könnte, welche die Gesamtsterblichkeit um 17 Prozent senken […], während frühere Erkenntnisse darauf hindeuten, dass die IPV-Impfung die Gesamtsterblichkeit um 10 Prozent erhöht.

Pro Fall von schluckimpfungs-verursachter Kinderlähmung, den die IPV-Impfung verhindere, könnte es zu etwa 4000 Todesfällen kommen, schrieben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Wechsel von der Schluckimpfung auf die IPV-Impfung könnte somit jährlich 300’000 zusätzliche Todesfälle bei Kindern verursachen.

Appelle an die WHO-Impfexperten ohne Resonanz

«Diese Sorge gilt auch jetzt noch. Seit 2016 veröffentlichten wir weitere Studien zu den positiven Wirkungen der Schluckimpfung gegen Polio», sagt die Professorin Christine Stabell Benn von der Universität von Süddänemark. Sie zählt neun neue wissenschaftliche Arbeiten auf, die ihre These stützen.

In zwei Briefen an die WHO-Impfexpertengruppe 2015 und erneut 2017 brachten Stabell Benn und Aaby ihre Bedenken vor. Sie warnten, die Schluckimpfung aufzugeben und unterstrichen ihre Bedenken mit Resultaten von Beobachtungsstudien und sogenannten randomisierten Studien, bei denen die Teilnehmenden per Los einer Gruppe zugeordnet wurden. Einige Beispiele:

  • Pro 50 schluckgeimpfte Kinder in Guinea-Bissau bzw. 88 geimpfte Kinder in Bangladesch stirbt (wegen der unspezifischen Effekte) eines dank der Schluckimpfung weniger, rechneten die Impfforscher in einem Artikel in der Zeitschrift «Open Forum Infectious Diseases» vor.
  • Russische Wissenschaftler fanden heraus, dass die Schluckimpfung die Grippe- und Atemwegsinfekte bei gesunden Erwachsenen um das Zwei- bis Vierfache vermindert.
  • Die Sterblichkeit bei Babys, die (wegen Impfstoffmangel) einzig die Schluckimpfung erhielten, war nur ein Drittel so hoch wie bei Babys, die zusammen mit der Schluckimpfung auch mit einem Nicht-Lebendimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten geimpft wurden.
  • Von 100 Neugeborenen in Guinea-Bissau, die gegen Tuberkulose und Kinderlähmung (Schluckimpfung) geimpft wurden, starben in einer Studie 2,6 pro Jahr. Erhielten sie bloss die Tuberkulose-Impfung, starben 3,9 von 100 pro Jahr.
  • Noch grösser war der Unterschied bei neugeborenen Knaben in Guinea-Bissau, die eine Schluckimpfung bekamen, verglichen mit Knaben, die stattdessen Vitamin A erhielten. In der Impfgruppe starben pro Jahr pro 100 Knaben 9,3, in der Vitamin A-Gruppe dagegen 13,6.
  • In Bangladesch und Burkina Faso zeigten Studien ebenfalls einen Rückgang der Sterblichkeit bei schluckgeimpften Babys.
  • In Finnland bekamen Kinder, die mit der Schluckimpfung geimpft wurden, weniger Mittelohrentzündungen, verglichen mit Kindern, die den IPV-Impfstoff gegen Kinderlähmung erhielten.

Seit Jahren fordern Fachleute Studien – doch es fliesst kein Geld dafür

Demgegenüber habe keine Studie bisher einen positiven Effekt der IPV-Impfung auf die Sterblichkeit gezeigt. Sie wurde sogar mit mehr Todesfällen bei Mädchen in Verbindung gebracht. Doch: «Überraschend wenige Studien untersuchten die Wirkung der IPV auf die Überlebensraten bei Kindern», stellten Aaby und Stabell Benn fest.

Deshalb fordern die beiden Impfforscher: «Bevor die IPV-Impfung die Schluckimpfung ersetzt, sollten Studien ihre Wirkungen auf die Gesamtsterblichkeit untersuchen.»

Auch Eleanor Fish und ihre Kollegen forderten zuerst gute Studien, um das mögliche Risiko genauer zu untersuchen, bevor die Schluckimpfung aufgegeben werde.

Selbst Stanley Plotkin, «Grandseigneur» der Impf-Wissenschaft, geht mittlerweile davon aus, dass Impfstoffe bedeutsame, unspezifische Wirkungen haben, die noch viel mehr erforscht werden müssen.

Solche Studien sind teuer. Grosse Sponsoren wie die Gates-Stiftung oder die WHO hätten die nötigen finanziellen Mittel dafür. Doch die Gesamtsterblichkeit nach der IPV-Impfung sei auch in den letzten Jahren, als sich die Hinweise immer weiter verdichteten, nie mit derjenigen nach der Schluckimpfung verglichen worden, sagt Stabell Benn. Warum weder die WHO noch die Gates-Stiftung noch sonst ein Sponsor auf die Bedenken eingehen, ist ihr ein Rätsel.

«Unverantwortlich»

Die bisherige WHO-Strategie zum Ausrotten der Polio sei zum Scheitern verurteilt, finden immer mehr Wissenschaftler. Es wäre «unverantwortlich», die Schluckimpfung zurückzuziehen, ohne den Entscheid auf solide Studien abzustützen, schrieb beispielsweise eine solche Gruppe 2021 in «The Lancet». Einer der Autoren war der Vize-Direktor für Impfstoffforschung und -prüfung bei der US-Arzneimittelbehörde. Auch er wies auf die positiven, unspezifischen Wirkungen der Schluckimpfung hin.

Christine Stabell Benn und ihre Kolleginnen und Kollegen haben laut eigenen Aussagen bei der WHO-Impfexpertengruppe (SAGE) bisher kein Gehör gefunden. Diese hält offiziell an ihrem Ziel fest, weltweit auf die IPV-Impfung umzustellen.