Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Sam Bliss und Giorgos Kallis

Die Ökomoderne erwartet Rettung durch Technologie. Die Lösung für die von der Technologie verursachten Umweltprobleme, so behaupten die Ökomodernist*innen, ist mehr Technologie. Sie plädieren dafür, die Konzentration menschlicher Aktivitäten auf verdichtete Städte und Fabrikfarmen zu verlagern, um mehr Raum für die Tierwelt zu schaffen. Sie befürworten den Ausbau der Kernenergie, genetische Veränderungen, synthetische Materialien und weitere neue Technologien, die den Menschen von der Natur ‚abkoppeln‘. Ihr Ziel ist es, die Umweltbelastung durch die Menschheit insgesamt zu verringern und eine wirtschaftliche Entwicklung für alle zu erreichen. Diese beiden Ziele, so behaupten sie, können nur erreicht werden, wenn man sich von den biologischen Ressourcen und den natürlichen Kreisläufen loslöst. Viehzüchter­, Waldbewohner­, Bäuer*innen und Fischereigemeinschaften, die direkt auf die von ihnen bewohnten Ökosysteme angewiesen sind, werden als Umweltschurk*innen dargestellt, die die ansonsten unberührte Natur zerstören. Ökomodernist*innen räumen ein, dass eine größere Energie­ und Materialeffizienz die Gesellschaft wohlhabender macht und zu mehr Konsum führt. Sie glauben jedoch, dass Innovationen billige, reichlich vorhandene, saubere und leistungsfähige Energiequellen freisetzen werden, die ein nachhaltiges Wachstum ermöglichen.

Der Ökomodernismus ist eine Idee, die in den Vereinigten Staaten entstanden ist. Im Gegensatz zu den in Europa verbreiteten umweltpolitischen Denkschulen „Ökoeffizienz“ und „ökologische Modernisierung“ legen die Ökomodernist*innen keinen Wert auf Energieeinsparung oder erneuerbare Energien. Sie sprechen selten von freien Märkten oder der Bepreisung von Kohlendioxid; stattdessen schlagen sie vor, dass die Regierungen die Forschung für die notwendigen technologischen Durchbrüche finanzieren.

Im April 2015 veröffentlichte eine Gruppe von achtzehn Wissenschaftler*innen und Intellektuellen ein Ökomodernistisches Manifest mit der „Überzeugung, dass Wissen und Technologie, klug eingesetzt, ein gutes oder sogar großartiges Anthropozän ermöglichen kann“. Das Manifest ist ein leicht zu lesender, 3000 Wörter langer Text mit einfachen Argumenten, in dem eine ökomoderne Zukunft voller künstlicher Hightech­Städte und intakter, unberührter Wildnis dargestellt wird. Er wurde vom Breakthrough Institute verfasst, einer Denkfabrik in Oakland, Kalifornien, die 2003 von Michael Shellenberger und Ted Nordhaus gegründet wurde, beides langjährige Strategen von Umweltgruppen. Im Jahr 2004 verfasste das Duo den Aufsatz The Death of Environmentalism, der die politischen Strategien der Umweltbewegung angriff und einen neuen Post-Umweltschutz forderte. Die Vorsilbe ‚post‘ signalisierte eine Abkehr von den klassischen Forderungen der Umweltschützer*innen nach Einschränkungen und Regulierung. Es spielte auch auf die postmaterialistische These an, dass die Menschen die Natur schätzen und für ihren Schutz bezahlen werden, sobald sie reich sind. In den folgenden zehn Jahren bauten die beiden um das Breakthrough Institute1 ein Netzwerk von Befürworter*innen der Kernenergie und Gegner*innen des Ressourcenschutzes auf. Ökomodernismus ist Post­Umweltschutz.

Das Manifest von 2015 versuchte, entfernte Pole des politischen Spektrums hinter seiner technologisch optimistischen, in positiver, unpolitischer Sprache formulierten Aufsteiger­Vision zu vereinen. Eine soziale Bewegung ist nicht zustande gekommen. Ein Marsch für ökologische Hoffnung im Juni 2016 zur Rettung eines Kernkraftwerks in Kalifornien wurde von Shellenbergers neuer Pro­Atomkraft­Gruppe Environmental Progress2 organisiert und von nur 80 Personen besucht. Offenbar ist die Rettung der Umwelt durch die Beschleunigung der industriellen Entwicklung, die sie zerstört hat, kein Narrativ, das die Massen mobilisiert. Warum also sollte man dem Ökomodernismus überhaupt Aufmerksamkeit schenken?

Da mächtige Akteur*innen dies tun, schenkten die Mainstream­Medien und die akademische Welt dem Manifest viel Aufmerksamkeit. Die Kritiken reichten von Begeisterung über Skepsis bis hin zu harscher Kritik. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass Publikationen wie die New York Times, der Guardian und sogar die Redaktion von Nature, der weltweit meistzitierten wissenschaftlichen Zeitschrift, die Botschaft des Manifests gelesen und weitergegeben haben. Zu den Autoren des Textes gehören angesehene Umweltwissenschaftler wie David Keith von der Harvard University und Ruth De Fries von der Columbia University.

Es gibt keine soziale Bewegung, die mit dem Post­Umweltschutz in Verbindung gebracht werden kann, denn der Post­Umweltschutz braucht keine Bewegung. Es handelt sich einfach um eine übertriebene Version einiger der dominantesten Einstellungen und Überzeugungen der Gesellschaft: dass der Konsum wie bisher weitergehen kann, wenn wir saubere Technologien fördern; dass arme Gemeinschaften ihre Umwelt selbst zerstören, weil sie die Ressourcen, von denen sie leben, direkt bewirtschaften und ernten; dass der Klimawandel eine technische Herausforderung ist, die keinen sozialen oder kulturellen Wandel erfordert; dass Wirtschaftswachstum ein natürlicher, unausweichlicher Prozess ist. In gewissem Sinne ist der Post­Umweltschutz ein Anti­Umweltschutz mit der verdrehten, angeblich wissenschaftlich begründeten Überzeugung, dass der einzige Weg, die Umwelt zu retten, darin besteht, das zu tun, was wir bisher für schlecht gehalten haben. Man kann sich vorstellen, dass es die Menschen beruhigt, zu hören, dass Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung erreicht werden könnten, ohne den komfortablen Lebensstil, den sie genießen oder anstreben, zu opfern. Es besteht noch nicht einmal die Notwendigkeit, zu protestieren oder zu demonstrieren, denn alles, was getan werden muss, ist, Prozesse zu beschleunigen, die schon lange im Gange sind: Verstädterung, Intensivierung der Landwirtschaft, Wirtschaftswachstum, Ersetzung biologischer Ressourcen und Arbeit durch Bodenschätze und durch moderne Energie – jetzt Kernspaltung oder Kernfusion. Das Manifest liefert konservativen Politikern einen überzeugenden Ansatz zu behaupten, sie stünden auf der Seite der Umwelt, während sie gleichzeitig weitere Zerstörungen zulassen.

Aber alle Prozesse, die im Manifest gefeiert werden, haben in der Vergangenheit zu immer größeren – und nicht zu geringeren – Umweltschäden geführt. Der Glaube, dass die Beschleunigung dieser Prozesse den Trend umkehren wird, widerspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen. Unsere sorgfältige Überprüfung der Literatur zeigt, dass die grundlegenden Behauptungen der Post­Umweltschützer*innen nicht auf Fakten beruhen. Die Verstädterung geht mit einem erhöhten Ressourcenverbrauch und einer stärkeren Umweltverschmutzung einher, sofern der Fußabdruck der Städte berücksichtigt wird. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft wird nicht mehr Land für die Wildnis frei. Neue Energiequellen kommen zu den alten hinzu, anstatt diese zu ersetzen. Die Industrieländer reduzieren Umweltbelastungen nur scheinbar, indem sie sie in weniger entwickelte Länder exportieren. Menschen, die sich von der Natur abkoppeln, kümmern sich weniger um deren Schutz. Soziale Bewegungen verändern die Welt zum Besseren. Technologien allein tun das nicht. Der Ökomodernismus erstickt die Leidenschaft, sich im Sinne eines sozial­ökologischen Wandels zu organisieren und zu mobilisieren, weil er den Menschen verspricht, dass fortschrittliche künstliche Technologien die Natur in der Wirtschaft ersetzen werden, so dass wir die natürliche Welt einfach nur sein lassen können. Die Botschaft lautet, dass wir Menschen niemals lernen werden, unseren gemeinsamen Planeten so zu bewohnen, dass wir mehr Rücksicht auf die anderen Arten nehmen, mit denen wir ihn teilen; stattdessen müssten wir unsere Ökonomien von ihren Ökologien trennen. Das hat das Zeug zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Eine, die, wenn sie sich erfüllt, zu einer totalen Katastrophe führen wird.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Das Breakthrough Institute ist eine Forschungs­ und Interessenvertretungsorganisation, die als inoffizielles Hauptquartier der Ökomoderne agiert, https://thebreakthrough.org/.

[2] Environmental Progress (ökologischer Fortschritt) ist das neue Projekt des Ökomodernisten Michael Shellenberger, eine Kampagnengruppe, die dafür kämpft, dass alte Atomkraftwerke nicht abgeschaltet werden, https://environmentalprogress.org/.

Weitere Quellen

Asafu­Adjaye, John, Christopher Foreman, Rachel Pritzker, Linus Blomqvist, David Keith, Jayashree Roy, Martin Lewis, Stewart Brand, Mark Sagoff, Barry Brook, Mark Lynas, Michael Shellenberger, Ruth Defries, Ted Nordhaus, Robert Stone, Erle Ellis, Roger Pielke, Jr and Peter Teague (2015), An Ecomodernist Manifesto, http://www.ecomodernism.org/.

Blomqvist, Linus, Ted Nordhaus and Michael Shellenberger (2015), Nature Unbound: Decoupling for Conservation. Oakland: Breakthrough Institute. Shellenberger, Michael and Ted Nordhaus (2004), The Death of Environmentalism: Global Warming Politics in a Postenvironmental World, https://s3.us-east-2.amazonaws.com/uploads.thebreakthrough.org/legacy/images/Death_of_Environmentalism.pdf .


Sam Bliss ist Doktorand in ökologischer Ökonomie an der Universität von Vermont, USA. Er ist der US­Korrespondent des akademischen Kollektivs Research & Degrowth und ein Gründungsmitglied von Degrow US.

Giorgos Kallis ist Umweltwissenschaftler und beschäftigt sich mit ökologischer Ökonomie und politischer Ökologie. Er ist Mitglied des Katalanischen Instituts für Forschung und Fortgeschrittene Studien und Professor an der Autonomen Universität von Barcelona.

Der Originalartikel kann hier besucht werden