Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Samantha Hargreaves

Ein politischer Diskurs tauchte in den späten 2000er Jahren auf, der eine neue Welle des Extraktivismus in den lateinamerikanischen Ländern beschreibt. Sie geht mit dem weltweiten Anstieg der Rohstoffpreise einher und fällt mit dem Machtantritt einiger linksgerichteter lateinamerikanischer Regierungen zusammen. Der damit verbundene Begriff Neo-Extraktivismus beschreibt eine Variante des Extraktivismus, die von diesen Staaten zur Finanzierung von Sozialreformen eingesetzt wurde.

Der Ressourcen-Nationalismus ist ein Verwandter des Neo-Extraktivismus in Afrika und wird als Anspruch einer Regierung auf die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen in ihrem Hoheitsgebiet und den Nutzen daraus verstanden.

Typischerweise umfasst eine neo-extraktivistische Politik die völlige Verstaatlichung einiger oder aller Rohstoffindustrien, die Erhöhung der öffentlichen Beteiligung, die Neuverhandlung von Verträgen, Bemühungen zur Steigerung der Rohstofferträge durch innovative Besteuerungsmechanismen und wertschöpfende Verwertungsmaßnahmen. Neo-extraktivistische Ansätze werden zunehmend durch globale Institutionen und Initiativen wie die Vereinten Nationen, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI–Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft) gefördert. Im afrikanischen Kontext haben die Afrikanische Union, die Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB) und das Africa Progress Panel hier eine aktive Rolle gespielt.

Der Neo-Extraktivismus und sein schwächeres afrikanisches Gegenstück, der Ressourcen-Nationalismus, werden von Befürworter*innen als Alternativen dargestellt, die die nationale Entwicklung fördern, die Umwelt schützen und den lokalen Gemeinschaften zugute kommen. Hinter dieser Fassade des Progressivismus (Progresismo) bleibt das kapitalistische Akkumulationsmodell jedoch unverändert erhalten.

„Der lateinamerikanische Neo-Extraktivismus hat die Grenzen dieses Modells aufgezeigt, das davon ausgeht, dass Exporte und Auslandsinvestitionen historische und strukturelle Probleme wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit und vor allem die Zerstörung der Umwelt lösen können“ (Aguilar 2012: 7).

Auch wenn sich die Eigentumsverhältnisse ganz oder teilweise vom privaten Sektor auf den Staat verlagern, so folgen die Produktionsprozesse doch weiterhin den üblichen Regeln der Gewinnmaximierung, der Wettbewerbsfähigkeit, der Effizienz und der Auslagerung der Folgen. Obwohl die Rede von nationaler Selbstbestimmung den Neo-Extraktivismus begleitet, behalten die reichen Länder die Kontrolle und bestimmen, welche Ressourcen sie importieren und woher diese stammen. Die Ideologie des Progressivismus verteidigt den Extraktivismus mit seiner Wachstumslogik und behauptet, dass der „Kuchen wachsen müsse“, um die Armut zu bekämpfen. Daher werden Auslandsinvestitionen und Produktivismus stärker gefördert als der Schutz der natürlichen Ressourcen und die Existenzrechte indigener und anderer Gemeinschaften.

Der Neo-Extraktivismus führt zu Konflikten um natürliche Ressourcen, schafft keine Arbeitsplätze und externalisiert die sozialen und ökologischen Kosten. Dort, wo eine Verstaatlichung stattgefunden hat, arbeiten staatliche Bergbauunternehmen oft nicht anders als private Firmen, denn sie zerstören weiterhin die Umwelt und missachten soziale Beziehungen. Die gesellschaftliche Verantwortung des Staates wird durch die notwendige Sicherung der Akkumulationsbedingungen beeinträchtigt. Der Staat verteidigt den Neo-Extraktivismus mit dem Argument, er liege im nationalen Interesse, und Bewegungen sowie Gemeinschaften, die dessen Einflüsse in Frage stellen, werden als entwicklungsfeindlich abgestempelt. Gudynas (2010) stellte fest, dass der Staat eine neue Quelle sozialer Legitimität gewinnt, wenn er die Überschüsse zur Finanzierung von Sozial­ und Wohlfahrtsprogrammen einsetzt. Die Idee, dass der Extraktivismus für die Weiterentwicklung unverzichtbar sei, wird im öffentlichen Diskurs massiv propagiert, was ihm einen hegemonialen Status verleiht.

Die Erfahrungen Lateinamerikas sind lehrreich für andere Regionen, die versuchen, durch Neo-Extraktivismus und Ressourcen-Nationalismus voranzukommen. Die African Mining Vision (AMV) und die dazugehörige politischen Rahmenbedingungen, Mining and Africa‘s Development (2011), sind der konkreteste Ausdruck dieser Tendenz in Afrika. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist die Feststellung, dass Afrika reich an unerschlossenen Mineralien ist, die in der Vergangenheit missbraucht wurden und nun auf transparente, gerechte und optimale Weise innerhalb des Kontinents ausgebeutet werden sollten, um sozioökonomische Entwicklung zu ermöglichen. Der Schlüssel zu dieser modernistischen Entwicklungsstrategie ist die auf Mineralien basierende Industrialisierung, von der man sich die Beseitigung der Armut und ein nachhaltiges Wachstum im Sinne der Millenniums­Entwicklungsziele verspricht. Die AMV, die von afrikanischen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Rahmen der African Initiative on Mining Environment and Society (AIMES – Afrikanische Initiative für Bergbau, Umwelt und Gesellschaft) weitgehend unterstützt wird, ist jedoch angesichts der jüngsten Rohstoffpreiskrise, des zwischenstaatlichen Wettbewerbs und der Einmischung von Unternehmen in die nationale Politik gescheitert.

Um auf die Frage der Externalisierung zurückzukommen: Die Auswirkungen der auf Extraktion basierenden Entwicklung sind zutiefst geschlechtsspezifisch. WoMin, ein von Frauen geführtes Frauenrechtsbündnis, das gegen den zerstörerischen Abbau natürlicher Ressourcen in Afrika kämpft, arbeitet in diesem Bereich eng mit anderen feministischen Bewegungen in Lateinamerika, Asien und dem Pazifik zusammen. Diese Organisationen verdeutlichen, wie die billige oder unbezahlte Arbeit von Frauen der Arbeiterklasse und von Bäuerinnen im Globalen Süden zur Kapitalakkumulation beiträgt. Diese oft unsichtbaren Ausbeutungsverhältnisse bleiben unter dem staatlich gelenkten Neo-Extraktivismus unverändert bestehen. Die Rolle der Frauen als Reproduktionsarbeiterinnen führt dazu, dass Arbeiterinnen und Bäuerinnen härter und länger arbeiten als arbeitende Männer, um sich Zugang zu sauberem Trinkwasser und Energie zu verschaffen und Kinder, Arbeiter und andere Familienmitglieder zu pflegen, die Schadstoffen ausgesetzt sind. Die traditionelle Verantwortung der Frauen für die soziale Reproduktion wird nur teilweise durch staatliche Investitionen in soziale Dienste entlastet. Zusätzlich zu den unmittelbaren sozialen und ökologischen Kosten für die Gemeinschaften werden die langfristigen Auswirkungen des Klimawandels durch den Rohstoffabbau vor allem von armen Frauen getragen, die für die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme arbeiten.

Neo-Extraktivismus oder Ressourcen-Nationalismus ist weder transformativ noch emanzipatorisch. Es handelt sich bestenfalls um einen reformistischen Weg, der in den Mantel der neoliberalen Entwicklung – des Progressivismus‘ – gehüllt ist. Er mag kurz­ bis mittelfristig einige soziale Reformen unterstützen, wird aber den tiefen Widerspruch zwischen Kapital und Leben, der die Menschheit und den Planeten selbst zerstört, nicht auflösen können.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Weitere Quellen

Aguilar, Carlos (2012), Transitions towards Post-extractive Societies in Latin America, https://womin.org.za/images/the-alternatives/fighting-destructive-extractivism/ C%20Aguilar%20-%20Post%20Extractive%20Societies%20in%20Latin%20 America.pdf. (Datei unter https://www2.weed-online.org/uploads/transitions_towards_post_extractive_societies_in_latin_america_2012.pdf dokumentiert, abgerufen am 7.6.2023)

Alternautas (Re)Searching Development http://www.alternautas.net/about-us/ (abgerufen am 7.6.2023)

Climate and Capitalism (2014), Progressive Extractivism: Hope or Dystopia?, https://climateandcapitalism.com/2014/06/24/progressive-extractivism-hopedystopia/ (abgerufen am 7.6.2023)

Gudynas, Eduardo (2010), The New Extractivism of the 21st Century: Ten Urgent Theses about Extractivism in Relation to Current South American Progressivism, America’s Program Report. Washington, DC: Center for International Policy.

Petras, James and Henry Veltmeyer (2014), The New Extractivism: A Post-Neoliberal Development Model or Imperialism of the Twenty-First Century? London: Zed Books.

WoMin: African Gender and Extractives Alliance, http://wo­ min.org.za/ (abgerufen am 7.6.2023)


Samantha Hargreaves ist Gründerin und Direktorin der African Gender and Extractives Alliance (WoMin), einer kontinentweiten afrikanischen feministischen Nichtregierungsorganisation, die sich gegen den zerstörerischen Rohstoffabbau einsetzt. Ihre Geschichte als Aktivistin liegt in der Land­ und Agrarreform und im Aufbau von Frauenbewegungen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden