Pluriversum ist eine Reihe von Beiträgen aus dem gleichnamigen Buch, gewidmet all jenen, die für das Pluriversum kämpfen, indem sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren und nach Wegen suchen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt in die viele Welten passen. Die Einführung zur Serie gibt es hier und die Entstehungsgeschichte hier.

von Erik Gómez-Baggethun

Nachhaltige Entwicklung wurde über den Bericht Unsere gemeinsame Zukunft – weithin bekannt als Brundtland-Bericht – definiert als eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können“ (WCDE 1987). Seitdem gilt dieser Grundsatz als Leitprinzip für die weltweite Harmonisierung der Umwelt­ und Entwicklungspolitik und hat in jüngster Zeit mit der Verabschiedung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs)[1] neuen Schwung erhalten.

Trotz ihrer Popularität in politischen Kreisen haben Umweltschützer*innen die nachhaltige Entwicklung als Greenwashing der konventionellen Wachstums­ und Entwicklungspolitik kritisiert. Sie wurde auch dafür verantwortlich gemacht, dass in den 1980er Jahren wieder ein internationaler Konsens zum Wachstum hergestellt wurde, obwohl der Club of Rome-Bericht Grenzen des Wachstums (1972) viele Politiker*innen in der ganzen Welt (einschließlich des vierten Präsidenten der Europäischen Kommission, Sicco Mansholt) davon überzeugt hatte, dass ein immerwährendes Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht möglich ist.

In diesen Anfängen der internationalen Nachhaltigkeitspolitik wurden die konsumorientierten Gesellschaften der reichen Industrieländer als größte Bedrohung für die globale Umwelt ausgemacht. Angesichts der Grenzen des Wachstums war die Umverteilung des Wohlstands die bevorzugte Option, um Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Dieser Geist wurde in dem Begriff ‚Öko­Entwicklung‘ festgehalten und in der Stockholmer Konferenz über die menschliche Umwelt von 1972. Der Einfluss der Öko­Entwicklung erreichte seinen Höhepunkt auf dem Cocoyoc-Symposium von 1974, in dessen Abschlusserklärung festgestellt wurde, dass die Hoffnung, dass ein schnelles Wirtschaftswachstum, das einigen wenigen zugute kommt, auf die Masse der Bevölkerung ‚herunterrieseln‘ wird, sich als illusorisch erwiesen hat“, und die Vorstellung abgelehnt wurde, dass „zuerst das Wachstum und später erst die gerechte Verteilung des Gewinns“ erfolgen soll (UNEP/UNCTAD 1974: Artikel 1).

Wie auch immer, die Öko­Entwicklung stieß bald auf den heftigen Widerstand mächtiger Akteure wie Henry Kissinger, der als Chef der US­Diplomatie die Cocoyoc­Erklärung in einem Telegramm an die Direktoren von UNEP und UNCTAD vollständig ablehnte (Galtung 2010). Als neues Leitprinzip in der Nachhaltigkeitspolitik folgte in den 1980er Jahren die Nachhaltige Entwicklung, was die bisherigen Vorstellungen von Umweltproblemen und ­lösungen auf den Kopf stellte. Wachstum wurde nicht mehr als Ursache von Umweltproblemen gesehen, sondern als deren Lösung. Im Bruntland-Bericht heißt es, dass „die internationale Wirtschaft das weltweite Wachstum beschleunigen muss“ (WCED 1987: Absatz 74), und es wird ein „schnelleres Wirtschaftswachstum sowohl in den Industrie­ als auch in den Entwicklungsländern“ gefordert (ebd.: Absatz 72). Im Vorgriff auf die Idee des ‚grünen Wachstums‘ wird in den Berichten behauptet, dass ein schnelleres Wachstum nachhaltig sein könnte, wenn die Nationen den Inhalt ihres Wachstums auf weniger material- und energieintensive Aktivitäten verlagern und ressourceneffizientere Technologien entwickelten (ebd.: Absatz 32). Diese Erwartung einer ‚entmaterialisierten‘ Wirtschaft, in der das Wachstum von der Umweltverschmutzung und dem Ressourcenverbrauch abgekoppelt sei, wurde einige Jahre später in der so genannten Umwelt-Kuznets-Kurve (EKC – Environmental Kuznets Curve) formuliert, die seit den 1990er Jahren von Wirtschaftswissenschaftler­ und Bürokrat*innen herangezogen wird, um geltend zu machen, dass Wachstum und freier Handel gut für die Umwelt seien.

Nachhaltige Entwicklung hat letztlich die Grundsätze der Nachhaltigkeit so umgestaltet, dass sie den wirtschaftlichen Erfordernissen des Wachstums entsprachen – und die Verlagerung des Schwerpunkts von sozialer Gerechtigkeit auf Armutsbekämpfung passte ebenfalls zu den vorherrschenden wirtschaftlichen Vorstellungen, die das Herunterrieseln (trickle down) gegenüber der Umverteilung von Wohlstand bevorzugten. Darüber hinaus verschob der Bruntland-Bericht die Verantwortung für die Umweltzerstörung von den Reichen auf die Armen, indem er von einer „Abwärtsspirale von Armut und Umweltzerstörung“ sprach und behauptete, dass „Armut eine noch nie dagewesene Belastung der Böden, Gewässer, Wälder und anderer natürlicher Ressourcen des Planeten ausübt“ (S. 7).

Darüber hinaus ebnete die im Bericht formulierte Unterstützung einer „expansiven Wachstums­, Handels­ und Investitionspolitik“ (Artikel 24) den Weg für ein harmonisches Verhältnis zwischen nachhaltiger Entwicklung und der neoliberalen Globalisierungsstrategie der wirtschaftlichen Deregulierung und des Freihandels. Seit der Veröffentlichung des Bruntland-Berichts befürworten alle Erklärungen der Weltgipfel Wachstum und Handelsliberalisierung im Namen der nachhaltigen Entwicklung (Gómez­Baggethun/Naredo 2015). Die Nachhaltigkeitspolitik, die früher als Wächter und Gegengewicht zu den vorherrschenden wirtschaftlichen Interessen fungierte, wurde durch die Nachhaltige Entwicklung zu einer willfährigen Bediensteten gemacht.

Erstaunlicherweise (oder vielleicht auch bezeichnenderweise) fördert die internationale Nachhaltigkeitspolitik weiterhin das Wachstum, obwohl empirische Daten belegen, dass grünes Wachstum und Dematerialisierung ein Mythos sind und bleiben. Obwohl sich einige Umweltindikatoren auf lokaler und städtischer Ebene verbessert haben, ist das BIP auf globaler Ebene nach wie vor stark an den Ressourcenverbrauch und die Kohlenstoffemissionen gekoppelt. Einige Länder haben sich relativ gesehen (pro BIP­Einheit) dematerialisiert, aber es gibt keine Anzeichen für eine absolute Dematerialisierung (Wiedmann et al. 2015). Die EKC­Hypothese[2] der Dematerialisierung bei BIP­Wachstum hat sich nur in solchen Industrieländern bewahrheitet, die ihre Industrie in Entwicklungsländer mit billigeren Arbeitskräften und weniger strengen Umweltvorschriften verlagert haben (Jackson 2017). Empirische Daten haben gezeigt, dass die Behauptung, Wirtschaftswachstum sei eine Voraussetzung für ökologische Nachhaltigkeit, ebenso problematisch ist. Es ist erwiesen, dass der Kohlenstoff­ und Material­Fußabdruck pro Kopf der reichen Länder im Durchschnitt immer noch viel größer ist als der Fußabdruck pro Kopf der armen Länder (Martínez­Alier 2005).

Drei Jahrzehnte nach dem Start der globalen Agenda für nachhaltige Entwicklung belegen Wissenschaftler*innen, dass sich die Menschheit noch nie so schnell und so weit von der ökologischen Nachhaltigkeit entfernt hat wie heute. Es ist an der Zeit, dass die globale Nachhaltigkeitspolitik sich nicht länger den Geboten der vorherrschenden Wirtschaftsideologie unterordnet, wozu auch der technologische Traum von der Dematerialisierung und das Plädoyer für eine expansive Wirtschaft gehören, die auf der unabdingbaren Notwendigkeit von Wachstum beruhen. Die Deckung der Grundbedürfnisse für alle innerhalb der planetarischen Grenzen ist die größte Herausforderung für die Menschheit im 21. Jahrhundert, und die Erreichung dieses Ziels erfordert einen radikalen Wandel in unserer wirtschaftlichen Denkweise (Raworth 2017). Ob wir es nun nachhaltige Entwicklung nennen oder sonst wie, das Organisationsprinzip zur Bewältigung dieser Herausforderung muss die Wichtigkeit der Umverteilung unseres vorhandenen Reichtums anerkennen und die Wachstumsideologie hinter sich lassen – diese überholte Vorstellung, dass Wachstum im Mittelpunkt der Wirtschafts­ und Nachhaltigkeitspolitik stehen muss.

Übersetzung ins Deutsche von Hannelore Zimmermann.

Pressenza veröffentlicht in einer Reihe Auszüge aus „Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“ mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und unter Creative Commons Lizenz: CC-BY-NC-ND. Das Buch ist als PDf-Datei unter agspak.de/pluriversum kostenlos abrufbar.

Alle Beiträge in der Reihe Pluriversum gibt es hier.

Anmerkungen

[1] Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sind in einer Reihe von 17 globalen Zielen und 169 Vorgaben beschrieben, sie wurden von den Vereinten Nationen geschaffen und legen die Leitlinien für die Politik der nachhaltigen Entwicklung von 2015 bis 2030 fest.

[2] Die EKC­Hypothese (Environmental Kuznets Curve) ist eine Hypothese, die einen Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und wirtschaftlicher Entwicklung postuliert. Sie besagt, dass Umweltverschmutzung in den frühen Stadien wirtschaftlicher Entwicklung zunimmt, aber mit zunehmendem Wohlstand und technologischem Fortschritt abnimmt. (Anm. d. Übers.)

Weitere Quellen

Galtung, Johan (2010), „Die Cocoyoc­Erklärung“, TRANSCEND Media Service, https://www.transcend.org/tms/2010/03/the-cocoyoc-declaration/. (abgerufen am 5.7.2023)

Gómez­Baggethun, Erik und José Manual Naredo (2015), „In Search of Lost Time: The Rise and Fall of Limits to Growth in International Sustainability Policy“, Sustainability Science. 10: 385­95.

Jackson, Tim (2017), Prosperity without Growth. London: Earthscan. (deutsch: Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München: Oekom Verlag, 2017)

Martínez­Alier Joan (2002), The Environmentalism of the Poor. Cheltenham: Edward Elgar.

Raworth, Kate (2017), Doughnut economics: seven ways to think like a 21st-century economist. Vermont, US: Chelsea Green Publishing. (deutsch: Die Donut­Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Müchen: Hanser Verlag, 2023)

WCED (World Commission on Environment and Development) (1987), Our Common Future. Oxford: Oxford University Press.

Wiedmann, Thomas O., Heinz Schandl, Manfred Lenzen, Daniel Moran, Sangwon Suh, James West und Keiichiro Kanemoto (2015), „The Material Footprint of Nations“, Proceedings of the National Academy of Sciences. 112 (20): 6271­76.


Erik Gómez-Baggethun ist Professor für Umweltmanagement an der Norwegischen Universität für Biowissenschaften (NMBU), leitender wissenschaftlicher Berater am Norwegischen Institut für Naturforschung (NINA) und leitender Gastforscher an der Universität von Oxford. Seine Forschung umfasst Themen der Umweltpolitik, der ökologischen Ökonomie und der Nachhaltigkeitswissenschaft.

Der Originalartikel kann hier besucht werden