Scholz zieht laut einem Bericht ein Telefonat mit Putin in Betracht. Die ukrainischen Truppen befinden sich in einer desolaten Lage, die Stimmung in der Bevölkerung droht zu kippen, rechte Militärs schließen „bewaffnete Proteste“ nicht aus.

(Eigener Bericht) – Bundeskanzler Olaf Scholz zieht einem Bericht zufolge ein Telefonat mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Betracht. Das Gespräch könne im Vorfeld des G20-Gipfels Mitte November in Brasilien stattfinden, heißt es. Es wäre das erste Gespräch zwischen Scholz und Putin seit beinahe zwei Jahren. Die Pläne dazu werden zu einem Zeitpunkt bekannt, zu dem die ukrainischen Streitkräfte im Donbass klar auf dem Rückzug sind. Zuletzt mussten sie die Stadt Wuhledar verlassen. Zudem melden ukrainische Kommandeure zunehmende Schwierigkeiten mit neuen Rekruten, die schlecht ausgebildet und schwach motiviert seien; bis zu 70 Prozent von ihnen würden schon in den ersten Tagen ihres Fronteinsatzes verwundet oder getötet. Auch in der ukrainischen Zivilbevölkerung verschlechtert sich die Stimmung zusehends; laut einer Umfrage schließen außerdem 15 Prozent der Soldaten und Veteranen bei Abschluss eines ihnen missliebigen Friedensvertrags „bewaffnete Proteste“ nicht aus. Berichten zufolge sind Waffenstillstandsverhandlungen wieder einmal im Gespräch. Deutsche Leitmedien urteilen, dass der „neue Eiserne Vorhang“ zu Russland „möglichst weit östlich“ verlaufe, liege „im deutschen Interesse“.

Auf dem Rückzug

Mit dem Verlust der Stadt Wuhledar, aus der sich die ukrainischen Streitkräfte am Mittwoch endgültig zurückzogen, hat Kiew militärisch erneut einen Rückschlag erlitten. Von Wuhledar aus konnten russische Versorgungslinien angegriffen werden, vor allem diejenigen, die vom russischen Kernland nördlich am Asowschen Meer vorbei auf die Krim führten. Diese sind jetzt deutlich sicherer vor ukrainischen Attacken als zuvor.[1] Der Fall von Wuhledar belegt einmal mehr, dass die Kiewer Invasion in das russische Gebiet Kursk ein Fehler war. Die Invasion war auch in Deutschland bejubelt worden: Endlich spüre die russische Bevölkerung selbst, was es bedeute, angegriffen zu werden, hieß es. Allerdings fehlen die angeblich rund 30.000 in das Gebiet Kursk einmarschierten ukrainischen Soldaten, darunter vor allem gut ausgebildete und ausgerüstete Truppen, seit dem Beginn der Invasion an der ostukrainischen Front. Dort sei es den russischen Streitkräften allein im August und im September gelungen, den geschwächten ukrainischen Einheiten mehr als 800 Quadratkilometer Land abzunehmen, räumt ein Experte der Black Bird Group ein, einer „OSINT-Gruppe“ [2] aus Helsinki, die die Lage an der ukrainischen Front untersucht [3]. Auch der Fall von Wuhledar ist demnach durch die Verlegung ukrainischer Truppen nach Kursk beschleunigt worden.

Rekrutierungsprobleme

Zur Schwächung der ukrainischen Truppen durch die Verlegung von Einheiten nach Kursk kommen weitere Probleme hinzu. Abgesehen von einem Mangel an Waffen beklagen ukrainische Kommandeure zunehmend Schwierigkeiten mit neuen Rekruten. Diese seien oft nur unzulänglich ausgebildet und schwach bis gar nicht motiviert, in den Krieg zu ziehen, heißt es. Als Ursachen werden einerseits kurze Ausbildungszeiten genannt, andererseits die berüchtigte Rekrutierungspraxis Kiews, Männern im wehrfähigen Alter in aller Öffentlichkeit aufzulauern, sie zu ergreifen und in Rekrutierungsbüros zu verschleppen. Man könne mittlerweile klar davon ausgehen, dass 50 bis 70 Prozent der neu an der Front eintreffenden Soldaten innerhalb von wenigen Tagen verwundet oder getötet würden, wird berichtet.[4] Die ukrainischen Bestrebungen, zum Ausgleich eigener militärischer Schwäche die Genehmigung für Angriffe mit weitreichenden westlichen Raketen auf russisches Territorium zu erhalten, sind bislang an Washington und an Berlin gescheitert. Über den Grund heißt es, US-Geheimdienste seien zu der Überzeugung gelangt, Moskau werde auf derlei Angriffe mit – womöglich verdeckten – Attacken etwa auf europäische oder US-Militärbasen reagieren. Der militärische Nutzen von Angriffen mit – nicht allzu zahlreich vorhandenen – westlichen Raketen sei dabei gering: Moskau werde Waffen und Munition einfach noch weiter von der Front zurückverlagern.[5]

„Bewaffnete Proteste“

Zu den rasch wachsenden militärischen Schwierigkeiten kommt eine zunehmend verzweifelte Lage der Zivilbevölkerung hinzu. Setze Russland seine Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung fort, dann drohten im kommenden Winter Stromausfälle von bis zu 18 Stunden pro Tag, wurde kürzlich eine Expertin des Berliner Helmholtz-Zentrums zitiert.[6] In Kiew räumen Regierungsmitarbeiter ein, im Winter könne man „in wirklich tiefe Probleme“ geraten; es lasse sich nicht ausschließen, dass die Bevölkerung „zermürbt, deprimiert und wütend“ reagiere.[7] Anton Gruschetsky, Geschäftsführer des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS), warnt, schon jetzt beobachte er „eine wachsende Müdigkeit“ unter den Menschen in der Ukraine; das könne sogar neue Konflikte heraufbeschwören, „da die Leute psychologisch instabil werden“. Zwar ist der Anteil derjenigen, die zu Zugeständnissen bereit sind, um den Krieg zu beenden, gestiegen; schon im Mai waren 32 Prozent der Ukrainer zur Preisgabe von Land für Frieden bereit.[8] Doch warnt der Vorsitzende des Außenausschusses im Kiewer Parlament, Oleksander Mereschko, das „radikale Element“ in der Bevölkerung, das jede Verhandlung als „Kapitulation“ einstufe, wachse.[9] Einer Umfrage zufolge sind 15 Prozent der Soldaten und Veteranen bereit, im Fall der Unterzeichnung eines ihnen nicht genehmen Friedensvertrags „bewaffnete Proteste“ zu starten.[10]

Die „Dringlichkeit eines Deals“

Vor diesem Hintergrund sind nach wie vor widersprüchliche Meldungen über die Bereitschaft der ukrainischen Regierung zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu hören. Dies war bereits im Sommer der Fall, als zunächst der damalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nach China reiste, um dort in puncto Verhandlungen vorzufühlen, bis kurz danach die ukrainischen Streitkräfte in das russische Gebiet Kursk einmarschierten. Damit waren alle Chancen auf Friedensgespräche vorläufig zerstört.[11] Nun heißt es, europäische Diplomaten berichteten, am Rande der UN-Generalversammlung in New York habe mit Blick auf eine mögliche Beilegung des Konflikts ein spürbar veränderter Ton geherrscht. Ukrainische Regierungsmitarbeiter und auch Außenminister Andrij Sybiha hätten größere Bereitschaft zur Preisgabe von Territorien erkennen lassen, während westliche Regierungsmitarbeiter deutlich „offener“ über die „Dringlichkeit eines Deals“ gesprochen hätten als zuvor.[12] Allerdings äußerte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj in New York äußerst abfällig über Brasilien und China (german-foreign-policy.com berichtete [13]), die am Rande der Generalversammlung gemeinsam mit elf weiteren Staaten eine „Gruppe von Freunden für Frieden“ initiierten. Dass die Schweiz an den Gesprächen darüber teilnahm, wurde vom Kiewer Außenministerium scharf attackiert.[14]

Im deutschen Interesse

Unklar ist der Hintergrund eines aktuellen Berichts, dem zufolge Bundeskanzler Olaf Scholz es in Erwägung zieht, erstmals seit beinahe zwei Jahren mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu telefonieren. Wie die Wochenzeitung Die Zeit berichtet [15], könnte dies im Vorfeld des G20-Gipfels geschehen, der für den 18./19. November in Rio de Janeiro anberaumt ist. Die Zeitung hatte zuvor geurteilt, „die Ukraine-Frage“ stehe im Zusammenhang mit der nötigen Stabilisierung einer neuen „Ordnung“ in Europa, in der Polen „entscheidende[r] Frontstaat im neuen Kalten Krieg“ mit Russland sein werde. Deshalb gehe es bei der Frage, wie der Ukraine-Krieg beendet werde, „nicht nur um die Ukraine“, sondern auch „um die künftige Grenze zwischen der EU und Russland“ – also um „den wichtigsten Teil des neuen Eisernen Vorhangs“.[16] „Im deutschen Interesse muss diese Grenze möglichst weit östlich verlaufen“, hieß es weiter, „idealerweise dort, wo sie 1991 zwischen der Ukraine und Russland festgelegt wurde“. Könne das „vorerst militärisch nicht erreicht werden“, dann müsse „im deutschen Interesse die Aufmerksamkeit auf die Stabilisierung möglichst großer Teile der souveränen Ukraine gelegt werden“. Die Ukraine ist dabei Mittel zum Zweck.

 

[1] Was der Fall von Wuhledar für Kiew bedeutet. zdf.de 02.10.2024.

[2] Als OSINT (Open Source Intelligence) wird die Gewinnung von Informationen aus öffentlich zugänglichen Informationen bezeichnet.

[3] Alex Horton, Serhii Korolchuk: Ukraine’s east buckling under improved Russian tactics, improved firepower. washingtonpost.com 02.10.2024.

[4] Christopher Miller: Ukraine’s new infantry recruits ‘freeze’ in face of Russian onslaught. ft.com 27.09.2024.

[5] Adam Entous, Julian E. Barnes: U.S. Intelligence Stresses Risks in Allowing Long-Range Strikes by Ukraine. nytimes.com 26.09.2024.

[6] Hauke Friederichs, Maria Mitrov, Maxim Kireev: Der nächste Winter wird hart. zeit.de 27.09.2024.

[7] David L. Stern: Ukraine’s winter energy woes expected to weigh heavily on a tired people. washingtonpost.com 26.09.2024.

[8] Dynamics of readiness for territorial concessions and attitudes towards separate packages of peace agreements. kiis.com.ua 23.07.2024.

[9] Ben Hall, Christopher Miller, Henry Foy: Ukraine faces its darkest hour. ft.com 01.10.2024.

[10] Ian Lovett, Nikita Nikolaienko: More Ukrainians Want to Negotiate an End to the War. Soldiers Don’t Agree. wsj.com 10.09.2024.

[11] S. dazu Kursk und die Folgen.

[12] Ben Hall, Christopher Miller, Henry Foy: Ukraine faces its darkest hour. ft.com 01.10.2024.

[13] S. dazu Selenskyjs „Siegesplan” (II).

[14] Ukraine verärgert über Schweizer Position zu Friedensplan. spiegel.de 01.10.2024.

[15] Olaf Scholz erwägt Telefonat mit Wladimir Putin. zeit.de 01.10.2024.

[16] Jörg Lau: Über den neuen Eisernen Vorhang wird längst verhandelt. zeit.de 25.09.2024.

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