Am Spätnachmittag des 18. Oktober gab es erneut mehrere Proteste in Berlin. Im Mittelpunkt standen der Regierungsbesuch des US-Präsidenten Joe Biden und die israelischen Vernichtungskriege in Nahost, Völker- und Menschenrechtsverletzungen sowie die Kriminalisierung der Protestbewegung in Deutschland.

von Peter Vlatten

Nachdem der Besuch des US-Präsidenten um eine Woche verschoben worden war, hatten die Veranstalter – ein lokales Bündnis der Vertreter der vom Nahostkonflikt direkt betroffenen palästinensischen sowie nicht zionistischen israelisch-jüdischen Communities in Berlin und zahlreichen palästinasolidarischen Gruppierungen – flexibel ihre Auftaktkundgebung „Genocide Joe: Not Welcome in Berlin“ auf diesen Freitag zum Alexanderplatz verlegt – mit anschließender Demonstration mit in der Spitze ca. 2200 Teilnehmer:innen [1] Der Demonstrationszug konnte aufgrund der Behinderungen der Polizei sein Ziel, eine gleichzeitig stattfindende Kundgebung am Washingtonplatz zu Nahost, nicht erreichen. Hier hatten sich – zum Teil bundesweit – ca. 2700 Anhänger rund Vertreter:innen [2] von über 40 Nichtregierungsorganisationen aus dem demokratisch linken Spektrum unter dem Motto „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ zusammengefunden.

Parallel stellte Ilan Pappe im Oyoun sein mit Spannung erwartetes neues Buch zum Thema „Lobby Arbeit für Israel – gestern, heute, morgen!“ vor. Die Veranstaltung stieß auf so hohes Interesse, so dass kurzfristig zusätzlich eine Onlinezuschaltung zur Teilnahme organisiert werden musste. Aber auch das reichte nicht, um alle 1200 Interessenten teilnehmen zu lassen. Sie können die Veranstaltung demnächst über einen Mitschnitt nachverfolgen.

Am Folgetag, Samstag den 19.10., fand die wöchentliche – fast schon routinemäßige- propalästinensische Demonstration mit laut Veranstalter über 2000 Teilnehmer:innen statt. Erstmals wurden hier in Berlin – nach uns vorliegenden Informationen und Aufzeichnungen – auch Polizeihunde gegen Demonstrant:innen und sogar gegen Sanitäter:innen eingesetzt. Die Situation eskalierte.

Insgesamt hatten an den beiden Tagen also bis zu 8000 Menschen in Berlin an den Solidaritätsveranstaltungen teilgenommen. Eine beeindruckende Zahl, aber verglichen mit den beiden Vorwochen dennoch rückläufig.

„Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel„

Das bundesweit breite Spektrum aus Organisationen der Friedensbewegung, entwicklungspolitische Verbände, Flüchtlingshilfe- und Menschenrechtsinitiativen, Vereinigungen der politischen Linken und der palästinensischen Solidaritätsbewegung hatte sich zu einer über zweistündigen Kundgebung auf dem Washingtonplatz am Berliner Hauptbahnhof versammelt. Motto: „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“ „Forum Gewerkschaftliche Linke Berlin“ hatte zur Teilnahme aufgerufen. [3]

Es ist absolut zu begrüßen, dass sich jetzt nach über 12 Monaten Krieg auch in der links demokratischen Gesellschaft der Protest deutlich sichtbarer auf Strassen und Plätzen zu organisieren beginnt und zusammenschließt. Das ist ein Signal in die Gesamtgesellschaft.

Schon vor über einem halben Jahr konnten wir schreiben: „Das Momentum dreht sich“. [4] Schon seit einem halben Jahr lehnen laut Umfragen über zwei Drittel (69%) der deutschen Bevölkerung das Vorgehen der israelischen Armee in GAZA ab. Etwa 50 % sprechen sich klar gegen Waffenlieferungen aus. Trotz der Dauerpropaganda über alle Mainstreamkanäle, bedingungslos aus Gründen der Staatsräson, verpflichtend aus dem Holocaust, an der Seite Israels stehen zu müssen. Das ZDF stellte in einer eigenen Untersuchung mit Erschrecken fest, dass das Misstrauen in die öffentliche Berichterstattung noch nie so groß war wie in der Nahostfrage. Die authentischen Bilder aus dem Gaza sowie die trotz aller Einschüchterungsversuche nicht enden wollenden Proteste auf den Straßen, aus der Kultur- und Wissenschaftsszene hatten begonnen, ihre Wirkung zu hinterlassen. Aber auch die weltweit öffentliche Meinung, die schonungslose Aufklärungsarbeit und Aufdeckung von Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen durch Organisationen wie Amnesty International und Medico international, die eindeutigen Verurteilungen und Positionierungen von IGH und UN Institutionen haben Deutschland weiter in die Isolation getrieben. Um nicht vollends die Glaubwürdigkeit zu verlieren, scheint sich der Staat leicht dem Diskurs öffnen zu wollen, aber gleichzeitig die Repression gegen diejenigen, die an den Grundfesten rütteln, zu verstärken.

In der Vorankündigung der TAZ zur Kundgebung hieß es: „Es ist einer der ersten Demoaufrufe zum Nahostkonflikt, der in keinen der Fettnäpfe tappt, für die andere Palästina-Proteste nun seit über einem Jahr gegeißelt werden (…) Der Protest spricht ein politisches Spektrum an, das auf Palästina-Demos bisher oft nicht repräsentiert wurde: diejenigen, die sich solidarisch mit Palästinenser:innen fühlen, gegen Staatsräson und deutsche Waffenlieferungen sind – ohne aber Israel als gänzlich koloniales Konstrukt zu sehen oder sich gar antizionistisch positionieren zu wollen. [5]

Solidarität mit denen, die in die „Fettnäpfe“ treten!

Soweit wir sehen können, ist die Kundgebung dieser neuen Diskurs- und Spaltungslinie, die die TAZ anspricht, nicht gefolgt. „Zivilbevölkerung schützen, Waffenexporte stoppen!“ waren zwei Hauptforderungen der Veranstalter. Es gab Rede-Highlights wie die von Deborah Feldman.[6] Etliche Teilnehmer:innen trugen Plakate und Transparente, die eindeutig – übrigens vollkommen im Einklang mit den Forderungen der Weltgemeinschaft – in aller erster Linie Israel als Hauptaggressor und Besatzer adressieren und sich – „Nein zur Kriminalisierung der Palästinasolidarität“ – solidarisch mit denen erklären, die gerade am Alexanderplatz in die sogenannten „Fettnäpfe“ treten und nicht selten deshalb von der Polizei plattgemacht werden. „Stoppt den Krieg, stoppt den Völkermord“ und „Freiheit für GAZA, Freiheit für Palästina„, das wurde von der Berliner Polizei noch vor wenigen Monaten schon mal untersagt und als „antisemitische “ Parolen klassifiziert.

Noch letzte Woche soll ein Palästinenser in Berlin Neukölln festgenommen worden sein, weil er sein traditionelles Kufiya trug. Willkürliche Verhaftungsgründe sind auch immer wieder „Stoppt den Genozid“ oder „From the river to the sea“, auch wenn sie mit dem Zusatz „alle Menschen sind gleich“ versehen wird und damit eigentlich einer Würdigung des Grundgesetzes gleichkommt. Die öffentliche Rechtfertigung der Ermordung von fast 20 000 Kindern durch Anhänger des Zionismus juckt die deutschen Behörden überhaupt nicht, aber wehe es benennt jemand Israel als den Verantwortlichen und ruft „Kindermörder Israel“, das soll dann „Hassrede“ und „Antisemitismus“ pur sein!

Nicht durchgängig herrscht Einigkeit über Kontext und Ursachen des Kriegsgeschehens in Nahost. Dazu bedarf es des solidarischen Austauschs und vor allem des Respekts vor der Meinungsfreiheit. Zum Beispiel vor der Meinung (laut TAZ wohl ein Fettnapf), dass Unterdrücker und Unterdrückte nicht grundsätzlich gleichzusetzen sind. Aber auch zur Berücksichtigung des Kräfteverhältnisses. Mehrere Teilnehmer:innen trugen dazu ein Plakat mit den Worten des südafrikanischen Bischofs Desmond Tutu mit sich: „Wenn Du neutral in einer Situation der Ungerechtigkeit bist, hast Du dich für die Seite des Unterdrückers entschieden.“ Ein weiterer dieser „Fettnäpfe“ ist der Standpunkt, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Die Fakten dafür sind erdrückend. Aber es wäre eben auch falsch, diese „Fettnäpfe“ alle zur Voraussetzung einer Aktionseinheit zu machen.

„Etwa 3000 Teilnehmer:innen hatten fast 2 Stunden spannende Reden gehört. Wir lieben Menschen, nicht Nationen und deshalb schmerzt uns der Mord an über 40.000 Palästinenser*innen.“, schreibt Klaus Murawski vom Ak Internationalismus IG Metall Berlin.

„Genocide Joe: Not Welcome in Berlin“

Die Veranstalter am Alexanderplatz hatten aufgerufen, „ihre Ablehnung gegenüber der US-Kriegspolitik im Nahen Osten und der Ukraine auszudrücken (…) Es ist völlig klar: Ohne Unterstützung der USA wäre der verheerende Vernichtungs- und Vergeltungsfeldzug der israelischen Armee gegen die palästinensische und nun auch gegen die libanesische Bevölkerung nicht denkbar.
Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrors lässt die USA den Paria-Staat Israel die Neuordnung einer ganzen Weltgegend umsetzen, die zum Tod von Hunderttausenden und zur Vertreibung von Millionen von Menschen führen wird.“

Mit der Unterstützung der USA, aber auch der BRD im Rücken gilt für Netanyahu nichts mehr: kein Völkerrecht, kein Menschenrecht, kein Respekt vor der Völkergemeinschaft und ihren Institutionen!

Videoausschnitt von der Kundgebung „Not Welcome Genocide Joe“, Berlin 18. Oktober

In einem Facebookeintrag der Gruppe Arbeiter:innenmacht heisst es zum Verlauf: „Der Demonstrationszug sollte sich ursprünglich einer Protestkundgebung von NGOs gegen Waffenlieferungen und für einen gerechten Frieden im Nahen Osten am Washingtonplatz anschließen. Wegen anhaltender brutaler Polizeiübergriffe musste die Demonstration jedoch am U-Bahnhof Unter den Linden von den Veranstaltern abgebrochen werden.

Der Pressesprecher des Protest-Bündnis Georg Ismael dazu: „Wir verurteilen die erneute Polizeigewalt gegen eine friedliche Demonstration. Es ist unerträglich, dass diejenigen, deren Angehörige im Gaza und Libanon umgebracht werden, von der Berliner Polizei verprügelt, verhaftet und kriminalisiert werden, wenn sie ihre Trauer und ihre Wut auf die Strassen tragen. Gleichzeitig darf die notwendige Auseinandersetzung mit den Angriffen auf demokratische Grundrechte in Deutschland nicht von einer Debatte über unsere Kernforderung ablenken, für die wir hierzulande protestieren: Ein sofortiges Ende deutscher und US-amerikanischer Waffen- und Rüstungslieferungen an Israel und die Beendigung jedweder diplomatischen, ökonomischen oder politischen Unterstützungen für den israelischen Apartheidstaat.“

Trotz der Polizeiübergriffe, die zum vorzeitigen Abbruch führten und eine Vereinigung mit der Protestkundgebung am Washingtonplatz verhinderten, bewerten die Veranstalter die Proteste als starkes Zeichen gegen die Kriegspolitik der US-Regierung und deren Unterstützung für den Genozid im Gaza-Streifen.“


Quellen:

[1] die Angaben zu den Teilnehmern schwanken zwischen 2000 und 2500, unsere Computerauswertung des Bildmaterials hat 2200 ergeben, Fehlerrate 10 %

[2] die Angaben zu den Teilnehmern schwanken zwischen 2500 und über 3000, unsere Computerauswertung des Bildmaterials hat 2700 ergeben, Fehlerrate 10 %

[3] https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/fuer-einen-gerechten-frieden-in-palaestina-und-israel/

[4] https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/palaestinasolidaritaet-der-deutsche-staat-isoliert-sich-immer-mehr/

[5] Taz 17.10.2024

[6] hier ein Mitschnitt aller Reden: https://youtu.be/StG3tTmzmTs?si=KeiVpgYNrLDBsCbi

Der Originalartikel kann hier besucht werden