Frauen in Afghanistan werden unsichtbar gemacht – allein, weil sie Frauen sind. Deshalb brauchen sie Schutz. Diese Forderung stellt PRO ASYL schon lange, nun hat auch der Europäische Gerichtshof das anerkannt. Das Urteil bedeutet: Deutschland muss afghanischen Frauen grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft gewähren.

Frauen aus Afghanistan wird »das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt«, indem ihnen »in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden.« Deutlicher hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die grauenhafte Situation, die sich wie von PRO ASYL dokumentiert rapide verschlechtert, nicht beschreiben können. Keine Frau in Afghanistan kann ein Leben frei von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen führen.

Genderapartheid in Afghanistan anerkannt

Das Urteil des EuGH reiht sich in mehrere aktuelle politische Ereignisse ein. Die Situation der Frauen in Afghanistan hat zuletzt endlich die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erregt.

So hat das Europäische Parlament am 19. September eine Resolution verabschiedet, in der die Diskriminierung von Frauen verurteilt und klar als Genderapartheid benannt wird. Laut der Resolution haben die Taliban ihre extreme Auslegung der Scharia durchgesetzt und Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt.

Einen Monat später, am 27.09.2024, forderten Deutschland, Australien, Kanada und die Niederlande die Taliban in einer Erklärung auf, diesen Verpflichtungen nachzukommen: »Afghanistans Frauen und Mädchen verdienen nichts weniger als die uneingeschränkte Wahrnehmung ihrer Menschenrechte.«

Dieser Erklärung schlossen sich 26 Staaten sowie die Generalsekretäre der Vereinten Nationen an. Sie beklagen, dass die Taliban die Rechte der Frauen missachtet. Damit verstoßen sie gegen die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW, die Afghanistan 2003 unterschrieben hat. Die Vertragsstaaten drohen mit Konsequenzen.

Flüchtlingseigenschaft auch ohne individuelle Prüfung

Mit seinem Urteil vom 4. Oktober 2024 hat der EuGH diese Realität anerkannt und entschieden, dass allen afghanischen Frauen, die in Europa Schutz suchen, dieser Schutz auch gewährt werden muss.

Dem neuen EuGH-Urteil lag der Fall der afghanischen Frauen AH und AF zugrunde, die in Österreich Asyl beantragt hatten. Ihre Anträge wurden zunächst von den österreichischen Behörden und anschließend erneut von dem Bundesverwaltungsgericht abgelehnt. Der österreichische Gerichtshof zweifelte jedoch an diesen Entscheidungen und legte dem EuGH die Frage vor, ob nicht allein die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.

Der EuGH entschied nun, dass die Situation der Frauen in Afghanistan so gravierend ist, dass sie die rechtliche Schwelle zur Verfolgung erreicht: eine Handlung, die eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt. Nach Artikel 9 Abs. 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie kann Verfolgung auch in der Kumulierung verschiedener Maßnahmen bestehen.

So könnten Zwangsverheiratungen als eine Form der Sklaverei betrachtet werden, die nach Art. 4 EMRK verboten ist. Der mangelnde Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt wird zudem als unmenschliche und erniedrigende Behandlung gewertet, die nach Art. 3 EMRK ebenfalls untersagt ist. Die »diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen« führen insgesamt zu gravierenden Beeinträchtigung. Diese Einschränkungen erreichen zusammengenommen den erforderlichen Schweregrad, um als Verfolgung eingestuft zu werden.

Dies führt zur zweiten Frage, die vom Gericht beantwortet wurde: Wenn die Situation der afghanischen Frauen so eindeutig ist, ist eine individuelle Prüfung dann überhaupt noch erforderlich? Nein, sagt der Gerichtshof. Die nationalen Behörden dürfen davon ausgehen, dass afghanische Frauen grundsätzlich Verfolgung ausgesetzt sind. Daher können die Behörden ihnen den Flüchtlingsstatus gewähren, ohne die individuellen Umstände jeder Frau näher zu betrachten.

Afghanische Studentinnen protestieren gegen das Verbot, die Universität zu besuchen. Quelle: X

Rechtliche Möglichkeiten für afghanische Frauen in Deutschland

Die Entscheidung des EuGH ist eine positive Nachricht für alle afghanischen Frauen, die sich noch im Asylverfahren befinden, da das Urteil für deren Entscheidung bindend ist. Es bietet aber auch eine Chance für afghanische Frauen, deren Anträge (teilweise) abgelehnt wurden: Sie können nun einen Asylfolgeantrag stellen, da das neue EuGH-Urteil eine »Änderung der Rechtslage« und damit ein »neuer Umstand« darstellt, was für die Durchführung des Folgeantrags erforderlich ist (vergleiche § 71 Abs. 1 Asylgesetz in Verbindung mit § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz und Art. 33 Abs. 2 lit. d der Asylverfahrensrichtlinie). Wurde den Frauen in der Vergangenheit nur ein Abschiebungsverbot oder der subsidiäre Schutz anerkannt, haben sie nun die Chance, nachträglich doch noch den besseren Schutz der Flüchtlingseigenschaft zugesprochen zu bekommen. Betroffene sollen sich hierfür im Zweifel an eine Beratungsstelle oder  Anwält*innen wenden.

Zum Hintergrund: Lange Zeit erhielten afghanische Frauen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oft nur den subsidiären Schutzstatus, der mit weniger Rechten verbunden ist, oder gar nur ein Abschiebeverbot darstellt. Damit blieben ihnen wichtige Rechte vorenthalten. Seit letztem Jahr beobachten wir ein Umdenken beim BAMF, das afghanischen Frauen mittlerweile meist den Flüchtlingsstatus zuspricht: Während im Jahr 2022 nur 29,2 Prozent der afghanischen Frauen den Flüchtlingsstatus erhielten, stieg die Anerkennung im Jahr 2023 auf 76,2 Prozent und im ersten Halbjahr 2024 sogar auf 91,6 Prozent.

Das Urteil ist dennoch äußerst wichtig, da eine Praxis der grundsätzlichen Flüchtlingsanerkennung für afghanische Frauen sich noch nicht vollständig etabliert hat. Die beiden afghanischen Frauen AH und AF beispielsweise, die die Schutzsuchenden im Verfahren vor dem EuGH waren, wurden von einem untergeordneten österreichischen Gericht abgelehnt, weil sie nicht ausreichend eine »westliche Lebensführung« entwickelt hätten, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgeben müssten.

Eine ähnliche Argumentation wurde in den vergangenen Jahren von deutschen Verwaltungsgerichten vorgebracht. Eine Klägerin vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg sollte »zur sozialen Gruppe der Frauen gehören, deren Identität aufgrund eines mehrjährigen Aufenthalts in Europa westlich geprägt ist« und somit den Flüchtlingsstatus erhalten. (VG Arnsberg, Urteil vom 27.04.2023 – 6 K 8857/17.A) Das Verwaltungsgericht Sigmaringen entschied vor weniger als einem Jahr, dass einer afghanischen Frau der Flüchtlingsstatus gewährt werden sollte, da sie »mit ihrem besonderen individuellen Risiko- und Gefährdungsprofil« als unverheiratete, schiitische Frau der Volksgruppe der Hazara wahrscheinlich Verfolgung ausgesetzt wäre. (VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2023 – A 5 K 4009/21)

Das Urteil des EuGH macht aber deutlich: Alle afghanischen Frauen sind Verfolgung ausgesetzt und sollten daher per se den Flüchtlingsstatus erhalten. Es ist unerheblich, inwieweit sie sich »verwestlicht« haben oder zu anderen diskriminierten sozialen Gruppen gehören.

Forderung an das BAMF: Afghanische Frauen müssen als Flüchtlinge anerkannt werden

PRO ASYL fordert das BAMF auf, das Urteil des EuGH in der Praxis konsequent umzusetzen. Das Urteil stellt unmissverständlich klar, dass afghanische Frauen politisch verfolgt werden und als Flüchtlinge anerkannt werden sollten. Das BAMF muss den Leidtragenden dieser Geschlechterapartheid Schutz in Form der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gewähren.

(ll, aa)

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