Die armenische NGO Democracy Today hatte (wieder, zum 14. Mal, vom 4. bis 6. Oktober 2024) Frauen (und auch Männer) der Zivilgesellschaft von fern (Kanada, USA) und nah (Europa, dem Kaukasus, Libanon) sowie weitere Personen per Video-Zuschaltung in der Hauptstadt Armeniens Jerewan zusammengerufen. Vertreter:innen aus der armenischen Regierung und Diplomat:innen ergänzten die Runde. „From Global Insecurity to Common Security – Women’s Role in Peaceing Peace“ hieß das Thema, es ging von globaler Unsicherheit zu gemeinsamer Sicherheit und welche Rolle Frauen spielen können, auf friedliche Weise Frieden zu schaffen.

Die gegenwärtigen Kriege in der Ukraine, in Gaza und Libanon sowie der „Blitz“ Krieg am 19./20. September 2023 in Artsakh, der Enklave Berg-Karabach in Aserbeidschan, mit über 100.000 armenischen Vertriebenen dominierten auf der Konferenz das Bild von globaler Unsicherheit, dem das Konzept von „common security“ entgegengesetzt wurde. Die Idee der „gemeinsamen Sicherheit“ wurde 1982, während des Kalten Krieges, von Olof Palmes Unabhängiger Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen entwickelt. Das bedeutet, dass sich Nationen und Bevölkerungen nur dann sicher fühlen können, wenn sich ihr Gegenüber sicher fühlt. Dies setzt Dialog und Diplomatie voraus, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen Kompromisse eingegangen werden müssen, damit man sich gegenseitig das Gefühl der Sicherheit geben kann.

Was unter globaler Unsicherheit zu verstehen ist, wurde mir schon bei der Zwischenlandung auf dem Istanbuler Flughafen deutlich: Flüge in den Iran waren gestrichen. – Zehn Tage später tauchen sie gar nicht mehr auf, nun sind auch die Flüge nach Riad und Medina gestrichen. Anfang Oktober erwartete der Iran Gegenschläge Israels. Als ich zurückflog, beriet Israel mit den USA nicht mehr, ob zurückgeschlagen wird, sondern welche Objekte ins Auge gefasst würden (Atomanlagen, Ölproduktion oder anderes). Der Iran warnte arabische Länder, die USA nicht bei einem gemeinsamen Schlag mit Israel zu unterstützen, sonst würde es sie selbst hart treffen. Die USA unterhalten Militärstützpunkte in Saudi-Arabien.

Doch der internationale Flugverkehr war nur ein erster Hinweis auf die Bedeutung des Wortes „Unsicherheit“. Ich kam in aller Frühe in Jerewan an und frühstückte mit Shirine Jurdi, die ich bislang in unserer gemeinsamen Organisation WILPF (Women’s International League for Peace and Freedom) nur im virtuellen Raum getroffen hatte. Vor ihr stand eine Tasse heißer Tee (die kalt wurde) und ein Teller mit Obst, Käse, Brot (der in der prallen Morgensonne heiß wurde), denn Shirine hielt ständig ihr Handy in der Hand, schrieb Chats, sprach Nachrichten, telefonierte, agierte, reagierte. Sie entschuldigte sich nach einer ersten herzlichen Umarmung und erzählte mir zwischen einem Schluck Tee und einem Bissen Brot, dass sie schon am Vortag eingetroffen sei.

Sie müsse sich Zahnpasta kaufen. Sie sei überstürzt von zu Hause abgereist. Erst machte sie sich Gedanken darum, dass die intensive Bombardierung während der Nacht dazu geführt haben könnte, die Zufahrtsstraße zum Flughafen zu blockieren oder schließen. Dann wieder nicht. Dann kamen israelische Warnungen, die Vororte der Hauptstadt in der Nähe des Flughafens sollten evakuiert werden, sonst würden sie von Bomben getroffen. Es fielen Bomben, aber der Weg zum Flughafen wurde nicht getroffen, also bestellte sich Shirine ein Taxi, fuhr zum Flughafen und flog ab. Sie müsse auch noch Geld wechseln. Ja, sie sei froh, draußen zu sein, aber sie müsse sich von Armenien aus weiter kümmern. Humanitäre Hilfe sei nie ihr Bereich gewesen, aber jetzt sei sie das Wichtigste.

„Kannst du dir vorstellen, was gerade stündlich teurer wird?“ fragt sie mich. Ich denke an Essen. „Matratzen – von 8 Dollar sind sie jetzt schon bei 18 Dollar. Keine Ahnung, woher wir sie überhaupt besorgen sollen. Kennst du eine Hilfsorganisation, die sie uns sofort liefern kann?“ Shirine kümmert sich um Vertriebene, die in Schulen untergekommen sind. Sie sind von der israelischen Armee gewarnt worden, wenn sie nicht sofort losgingen, würden sie vom Bombenhagel getroffen. Die Autoschlange aus dem Süden war lang und langsam. Neben ihr schlugen Bomben ein. Manche schlafen in ihren Autos, viele auf der Straße. Über eine Million sollen es sein, die von einer Minute auf die andere ihr Zuhause zurücklassen mussten, kaum das Nötigste mitnehmen konnten und froh sind sich selbst gerettet zu haben.

Auch in ihrer Zuflucht südlich von Beirut sind sie ihres Lebens nicht sicher, viele erleben, wie neben ihnen eine Bombe einschlägt, ein Wohnblock einstürzt. Ich erfahre von einer Mutter, deren Kinder den Tod einer Familie neben ihnen miterleben – sie macht den Kindern weis, das seien Phantome, das sei keine Wirklichkeit.

„Ich kümmere mich gerade um eine einzige Frau ganz besonders,“ lässt Shirine mich wissen. „Sie ist hochschwanger, das Baby kann jeden Moment kommen. Ich telefoniere mit dem Bürgermeister, der mir eine Stütze ist. Da kommt ein kleines neues Menschenwesen zur Welt, das soll in einem sicheren und schönen Raum sein, das Kind soll menschenwürdig empfangen werden.“

Ich treffe Shirine am frühen Abend wieder – sie hatte neben der Organisation von humanitärem Beistand noch beruflich einen Kurs online abgewickelt, sich einen Joghurt zum Mittagessen aus dem nahen Supermarkt geholt, die Zahnpasta wieder vergessen, noch immer kein Geld getauscht und grämte sich, dass sie sich noch gar nicht richtig mit mir unterhalten habe, sie hatte sich (wie ich) darauf gefreut, dass wir uns persönlich treffen. Wir suchten uns ein nettes Lokal zum Abendessen, sie fragte mich nach meinem Leben aus und ich entschuldige mich am Ende, dass ich sie so wenig nach ihrer Situation gefragt habe. „Nein, nein, das hat mir total gutgetan, ich habe Abstand gefunden und Energie getankt,“ antwortet sie mir. „Jetzt gehe ich in mein Zimmer und mache weiter. Nachts kommen die Bomber. Was soll ich meiner Familie nur raten? Wir wollen unser Zuhause nicht einfach aufgeben; es könnte auch schwierig werden zurückkehren zu können. Und es ist ja unser Zuhause. Außerdem ist es in den Bergen und selbst im Norden auch nicht mehr sicher. Einige Familien sind schon ein paar Mal weitergeflohen. Aber wenn meine Eltern bleiben und die Warnung so kurzfristig kommt, kann es sein, dass sie es nicht mehr schaffen, rechtzeitig wegzulaufen. Mein Vater ist alt.“ Ich weiß keinen Rat.

Am nächsten Tag sitzen wir mit einer weiteren Frau zusammen beim Wein. Immer wieder kommen Nachrichten über ihr Handy an. Ich sehe ein Foto von einem Schriftstück auf Arabisch. Shirine erstarrt, Tränen treten in ihre Augen, aber sie weint nicht. Sie ist sprachlos, fast apathisch. Eine Weile halte ich sie. Dann löst sie sich aus ihrer Erstarrung. „Sie bombardieren meinen Stadtteil. Das kann nicht stimmen.“ Hastig tippt sie eine Nachricht, spricht eine Sprachnachricht, ruft an. Wenige Minuten später hat sie ein Ergebnis. „Das war eine fake Nachricht. Damit wollen sie alle in Panik versetzen.“ Als ob es nicht ausreichen würde, dass die Nachrichten wenige Minuten vor der Bombardierung kommen, dass die Erschütterungen der sogenannten Bunkerbrecher (250 – 1000 kg Bomben) kilometerweit zu spüren sind, dass die schwarzen Rauchwolken das Atmen erschweren und die Nachbarschaft verdunkeln.

Während der Konferenz spielt Shirine eine starke Rolle. Sie spricht selbst, sie organisiert spontan die Zuschaltung einer Frau direkt aus dem libanesischen Kriegsgeschehen und überreicht am letzten Tag einer Palästinenserin, die aus Ramallah in Palästina nicht anreisen konnte, einen Friedenspreis. Sie lächelt und lacht, sie hört zu, sie argumentiert, sie ist vollkommen präsent in allen Debatten dabei und schaltet sich prompt ein, wenn sie es für angebracht hält, das Beispiel Libanon einzubringen.

Zwei Gelegenheiten allerdings regen sie auf und machen sie wütend: Wenn ein/e Redner/in von Konflikt spricht, meldet sie sich, wann immer das nur möglich ist, sofort zu Wort: Es geht nicht um Konflikt, weder im Jemen, im Sudan, in der Ukraine, in Gaza, den besetzten palästinensischen Gebieten oder Libanon. Es geht um Leben und Tod, es geht um bewaffneten Konflikt, es ist Krieg.

Sie bekommt viel Lob für ihre Resilienz. Shirine verweigert sich dieser Bezeichnung. Nein, sie passt sich dieser Situation nicht an, sie will sich nicht daran gewöhnen. Sie leistet Widerstand dagegen. Sie möchte eine Frau sein, die sich nicht an Kriegsbedingungen ausrichtet, ausrichten muss. Sie möchte eine Frau sein, die frei entscheiden kann, wie ihre Lebensbedingungen aussehen und was für ein Leben sie leben will. Ein Leben fernab von Furcht und mit einem Traum, den sie selbst ausformt und der nicht am nächsten Tag schon wieder vernichtet wird.

Ich verspreche, ihr dann und wann Fotos aus meinem Leben daheim zu schicken, die ihre Hoffnung aufrechterhalten, dass es solches Leben gibt, dass so ein Leben kein Traum sondern Möglichkeit ist.