Die Vorgeschichte des Gaza-Konflikts erklärt einiges. Und das abscheuliche Hamas-Massaker rechtfertigt keinen Vernichtungskrieg.

Urs P. Gasche  für die Online-Zeitung INFOsperber

Exponenten der israelischen Regierung und viele Juden im Ausland verteidigen sämtliche Missetaten der israelischen Regierung mit dem Argument, dass die Hamas Israel am 7. Oktober 2023 auf grausame Weise überfallen hat. Am 7. Oktober 2023 habe alles angefangen.

Tatsache ist, dass die Hamas über 1400 Menschen – fast alles Zivilisten – ermordet und etwa 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hat. Es war einer der schwerwiegendsten Terroranschläge weltweit seit 9/11 in New York.

Es gibt stets eine Vorgeschichte

Tatsache ist ebenfalls, dass dieser unentschuldbare Terroranschlag eine Vorgeschichte hat. Hier nur einige Stichworte:

  • Die Hamas gewann im Gazastreifen im Jahr 2007 demokratische, international überwachte Wahlen. Sie agierte als politische Partei, aber auch als militärische Bewegung, die das Existenzrecht eines jüdischen Staates ablehnte. Trotzdem hatte die israelische Regierung die Hamas bereits ab den Neunzigerjahren mit Geld und Logistik unterstützt, um damit zu verhindern, dass die gemässigte Fatah, welche im Westjordanland die Autonomiebehörde führte, auch in Gaza an Macht gewinnt.
  • Bis zum Terroranschlag vom 7. Oktober hat Israel den Ölstaat Katar erlaubt, die Hamas massiv zu unterstützen. Das Motiv: So lange im Gazastreifen eine Terrororganisation regiert, kann Israels Regierung eine international geforderte Zweistaatenlösung ablehnen.
  • Seit dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2007 verwandelte Israel den Gazastreifen in ein Freiluftgefängnis. Die Land-, Luft- und Seeblockade konnten und können Einwohnerinnen und Einwohner des Gazastreifens nur mit Genehmigung der israelischen Regierung durchbrechen. Die meisten Menschen blieben isoliert und konnten ihr Gebiet nicht mehr verlassen.
  • Die Blockade führte mit dazu, dass rund 80 Prozent der Bevölkerung im dicht besiedelten Gazastreifen schon vor dem jetzigen Krieg auf humanitäre Hilfe angewiesen waren. In vielen Wohnhäusern gab es kein Trinkwasser, es kam zu vielen Stromausfällen und die sanitären Bedingungen waren schon vor dem Krieg prekär.
  • Die Bevölkerung sah sich zunehmend einer willkürlichen Herrschaft der fundamentalistischen und frauenfeindlichen Hamas-Regierung ausgesetzt. Wahlen gab es seit 2007 keine mehr.

Merke: Jeder Konflikt hat seine Vorgeschichte. Wer diese analysiert und zum Schluss kommt, dass ein Krieg hätte vermieden werden können, rechtfertigt damit in keiner Weise einen Terrorakt.

Historiker, die beispielsweise überzeugt sind, Hitlers Aufstieg und der 2. Weltkrieg wären mit einer anderen Vorgeschichte vermeidbar gewesen, rechtfertigen in keiner Weise Hitlers Kriege und noch viel weniger den Holocaust.

Wenn man künftige Kriege vermeiden will, muss man aus den Vorgeschichten vergangener Kriege lernen.

Ein noch so scheusslicher Terroranschlag darf kein Grund sein für einen Vernichtungskrieg

Seit dem 7. Oktober 2023 führt die israelische Regierung im Gazastreifen einen Vernichtungskrieg. Mindestens 40’000 Menschen wurden ermordet, fast 30’000 von ihnen Kinder, Minderjährige und Frauen. Die schon vorher prekäre Infrastruktur des Freiluftgefängnisses hat die israelische Armee zerstört.

Der Krieg hat Züge eines Genozids, vergleichbar mit jenem der IS-Terroristen, die Im Sommer im Nordirak zwischen 5000 und 10’000 «ungläubige» Jesiden ermordeten und über 7000 jesidische Frauen und Kinder entführten.

Die fast 30’000 getöteten palästinensischen Kinder, Jugendliche und Frauen sind ebenso unschuldig wie die 1400 israelischen Opfer der Terroranschlags der Hamas.

Alle diese Opfer sollten in Medien einen prominenten Platz einnehmen – einen prominenteren als Bilder von Raketen oder Drohnen in der Luft, die wie ein Feuerwerk aussehen.

Zu Recht kommen viele trauernde oder angsterfüllte Hinterbliebene und Verwandte von getöteten Israelis oder von Geiseln zu Wort. Die Öffentlichkeit wird mit dem unendlichen Leid konfrontiert.

Es fällt aber auf, dass über Hinterbliebene und Verwandte der ebenso unschuldig getöteten palästinensischen Frauen und Jugendlichen kaum berichtet wird. Palästinenser werden als Menschen offensichtlich nicht gleichwertig wie Israelis wahrgenommen. Dies ungleiche Behandlung trägt rassistische Züge.

Merke: Wer den israelischen Vergeltungskrieg und die Ungleichbehandlung ziviler Opfer nicht akzeptieren will, rechtfertigt damit in keiner Weise den Terroranschlag.

Historiker und Völkerrechtler, die zum Schluss kamen, dass der Terroranschlag von 9/11 weder den US-Einmarsch im Irak noch den zwanzigjährigen Krieg in Afghanistan legitimierte, rechtfertigen damit in keiner Weise 9/11.

Demonstrieren gegen Israels Kriegsführung, aber nicht für die Hamas

Wer die Politik der israelischen Regierung mit Präsident Benjamin Netanyahu ablehnt, soll am heutigen Jahrestag des Terroranschlags der Hamas öffentlich demonstrieren können, ohne als Judenhasser diffamiert zu werden.

Die Proteste sollten sich allerdings gegen die Politik Israels wenden und nicht die Hamas oder den palästinensischen Hamas-Staat unterstützen. Es fällt auf, wie viele Frauen sich direkt oder indirekt mit der Hamas solidarisieren, obwohl sie wissen müssen, dass die fundamentalistische Hamas die Frauenrechte mit Füssen tritt.

Viele empören sich über die Forderung von Protestierenden «From the river to the sea». Es handle sich um eine unakzeptable Aufforderung, Israel zu zerstören. Dass damit ein Einheitsstaats gemeint sein könnte, sehen sie nicht.

Es fällt auf, dass die Gleichen nicht noch empörter reagieren, wenn sogar amtierende Minister der israelischen Regierung ein Grossisrael fordern, in dem die Palästinenser keinen Platz mehr haben. Israels Finanzminister Bezalei Smotrich plädiert öffentlich für eine israelische Kontrolle über das Gebiet «vom Jordan bis zum Mittelmeer». Unterstützt wird er mit dieser Forderung vom Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Be-Gvir.

Auch für diese Forderung werden Israels rechtsradikale Regierungsmitglieder den 7. Oktober 2023 als Vorwand verwenden.