Das Taliban-Regime zielt mit neuen afghanischen Laster- und Tugendgesetzen auf die völlige Unsichtbarmachung der Frau. Selbst die Stimme der Frau wird als intim bezeichnet und darf in der Öffentlichkeit nicht mehr gehört werden – nicht singend, nicht reimend, nicht rezitierend. Das zeigt: Frauen aus Afghanistan brauchen Flüchtlingsschutz.

Das 114-seitige Dokument mit 35 Artikeln, das der Associated Press vorliegt, ist das erste Laster- und Tugendgesetzespaket der Taliban, die seit Mitte 2021 in Afghanistan die Macht innehaben. Bisher haben die Taliban ihre Vorschriften für Frauen per Dekrete erlassen – mittlerweile über 80 an der Zahl.

Mit dem nun neuen Gesetz erhält die Sittenpolizei des zuständigen »Ministeriums für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern« mehr Macht. Sie darf das persönliche Verhalten der Bevölkerung über Verwarnungen bis hin zu Untersuchungshaft regulieren. Das Gesetz wurde am 21.08.2024 vom Obersten Führer Hibatullah Achundsada in Kraft gesetzt. Maulvi Abdul Ghafar Farooq, Sprecher des Ministeriums, kommentierte: »Inshallah [so Gott will] versichern wir Ihnen, dass dieses islamische Gesetz eine große Hilfe bei der Förderung der Tugend und der Beseitigung des Lasters sein wird«.

Gesetz zielt vor allem auf Frauen

In Artikel 13 heißt es, dass eine Frau ihren Körper in der Öffentlichkeit jederzeit bedecken muss und dass eine Gesichtsbedeckung unerlässlich ist, um andere nicht zu »verführen«. Die Kleidung darf nicht dünn, eng oder kurz sein. Es heißt konkret: »Muslimische Frauen sind verpflichtet, ihren Körper und ihr Gesicht vor Nicht-Mahram-Männern zu verbergen«, und: »Muslimische Frauen sind verpflichtet, ihren Körper vor ungläubigen Frauen zu verbergen«.

Die Taliban wollen Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschließen. Außerdem ist es ihnen verboten, Männer anzusehen, mit denen sie nicht blutsverwandt oder verheiratet sind, und umgekehrt.

Selbst die Stimme der Frau wird als intim bezeichnet und darf in der Öffentlichkeit nicht länger zu hören sein – konkret verboten ist ihnen lautes Singen, Reimen und Rezitieren. Außerdem ist es ihnen verboten, Männer anzusehen, mit denen sie nicht blutsverwandt oder verheiratet sind, und umgekehrt. Die Taliban wollen Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschließen. Sie werden zu »unsichtbaren Wesen« gemacht.

Gesetz unterdrückt auch den Rest der Bevölkerung

Das Gesetzespaket betrifft vor allem Frauen, aber auch viele Aspekte des täglichen Lebens der ganzen Bevölkerung, wie öffentliche Gebets-Regeln, Männer-Kleidung, Bartlänge, Verkehrsmittel, Musik und das Feiern.

So verbietet das Gesetz zum Beispiel die Veröffentlichung und das Ansehen von Bildern von Menschen und Tieren, was die ohnehin fragile afghanische Medienlandschaft bedroht. Auch das Abspielen von Musik wird verboten. Die Beförderung allein reisender Frauen wird verboten und Fahrer und Fahrgäste werden verpflichtet, zu bestimmten Zeiten Gebete zu verrichten. Männern und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, wird es grundsätzlich verboten sich einander zu nähern. Homosexuelle Beziehungen, Ehebruch und Glücksspiele werden ebenfalls in dem Gesetz (erneut) verboten.

Internationale Kritik reicht nicht aus

Der Europarat hat in einer sogenannten Brüsseler Erklärung das Gesetz kritisiert, da es afghanischen Frauen faktisch ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung raubt. Auch der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk kritisiert scharf, dass es Frauen zu gesichts- und stimmenlosen Schatten degradiere, was »völlig inakzeptabel« und deshalb das Gesetz zurückzunehmen sei.

Das Fatale: Während sich die internationale Gemeinschaft mit Erklärungen zu Wort meldet, laufen in der Praxis Vorbereitungen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten.

Auch die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und mehrere Außenminister*innen, darunter Annalena Baerbock, äußerten sich kritisch über die Lage der Menschenrechte, insbesondere der Frauenrechte in Afghanistan.

Das Fatale: Während sich die internationale Gemeinschaft mit Erklärungen zu Wort meldet, laufen in der Praxis Vorbereitungen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Nach jedem neuen Dekrete-Paket gegen Frauenrechte gibt es aus der ganzen Welt Erklärungen – denen jedoch keine Taten folgen! Dasselbe geschieht nun mit dem Tugendgesetz.

Gleichzeitig sind es gerade die internationalen Institutionen, die Frauen von wichtigen Treffen ausschließen. Sie tragen die Verantwortung für die Machtergreifung der Taliban, sie kooperieren gerade mit denen, die Afghanistan auf Kosten der Frauen regieren und versuchen, die Frauen zu entmenschlichen. Einige europäische Länder versuchen derzeit mit den Taliban zu verhandeln. Norwegen hat die afghanische Botschaft der vorherigen afghanischen Republik vor wenigen Tagen geschlossen. Ebenso bereitet Deutschland afghanischen Quellen zufolge derzeit die Schließung der afghanischen Botschaft im eigenen Land vor. Das sind fatale Schritte in Richtung einer Normalisierung des jetzigen Taliban-Regimes, die zudem erhebliche Folgen für diejenigen haben werden, die vor der Taliban geflohen sind und nun gezwungen werden, sich für Dokumente an das verbrecherische Regime zu wenden.

Taten statt Lippenbekenntnisse

Den internationalen Erklärungen müssen Taten folgen. Die EU sollte den Internationalen Strafgerichtshof dazu drängen, die Taten der Taliban als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die geschlechtsspezifische Verfolgung zu legen. Die Situation der Frauen muss international als Geschlechterapartheid anerkannt werden, so dass die Taliban für ihre systematischen Verbrechen an afghanischen Frauen völkerrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.

In Deutschland und anderen westlichen Staaten muss Afghan*innen dauerhaft Schutz gewährt werden. Afghanische Frauen müssen aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung durch die Taliban grundsätzlich den Flüchtlingsstatus erhalten, wie es die Europäische Asylagentur (EUAA) bereits im Januar 2023 gefordert hat. Die Empfehlungen der EUAA sind zwar nicht bindend, stellen aber ein starkes Signal an die Mitgliedstaaten dar, ihre nationale Asylentscheidungspraxis anzupassen. Die schwedische Asylbehörde erkennt Frauen und Mädchen aus Afghanistan bereits seit Dezember 2022 die Flüchtlingseigenschaft zu, Dänemark seit dem 30. Januar 2023, die Schweiz seit dem 10. Juli 2023.

Obwohl die menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe in Afghanistan bekannt ist, gibt es zunehmend mehr Ablehnungen von Asylanträgen afghanischer Geflüchteter.

Obwohl die menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe in Afghanistan dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekannt ist, gibt es zunehmend mehr Ablehnungen von Asylanträgen afghanischer Geflüchteter. Das BAMF sieht zum Beispiel auch bei vorheriger Arbeit für die ehemalige afghanische Regierung nicht unbedingt eine Gefahr für die Betroffenen, selbst wenn Kolleg*innen verschleppt oder getötet wurden. Für PRO ASYL ist klar: Abschiebungen nach Afghanistan sind menschenrechtswidrig.

Das Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen steht nur drei Jahre nach dem chaotischen Abzug der internationalen Streitkräfte im Sommer 2021 nun vor dem Aus – trotz der nicht eingelösten Schutzversprechen der Bundesregierung. Nach dem aktuellen Haushaltsplan der Regierung wird für nächstes Jahr kaum noch Geld hierfür eingeplant. Doch gerade jetzt ist dieser Schutz dringend nötig – die neuen Tugendgesetze der Taliban zeigen einmal mehr, wie bedroht die Menschen in Afghanistan sind. Für PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte steht diese katastrophale Entwicklung des Bundesaufnahmeprogramms auch im Zusammenhang mit den flüchtlingsfeindlichen Debatten der letzten Monate. Sie fordern mit vielen weitere Organisationen in einem gemeinsamen Statement vom 15.08.24 den Erhalt und die tatsächliche Realisierung des Bundesaufnahmeprogramms und die Einhaltung der Schutzversprechen Deutschlands.

(aa, fw)

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