Medea Benjamin ist Mitbegründerin der von Frauen geführten Friedensorganisation CODEPINK sowie der Menschenrechtsgruppe Global Exchange. Zudem war sie an der Gründung der Peace in Ukraine Coalition, der Initiative Unfreeze Afghanistan, der ACERE: Alliance for Cuba Engagement and Respect und der Kampagne für den Friedensnobelpreis kubanischer Ärzte beteiligt.

Seit über 50 Jahren setzt sich Medea unermüdlich für soziale Gerechtigkeit ein. Die New York Newsday bezeichnete sie als „eine der engagiertesten – und effektivsten – Menschenrechtskämpferinnen Amerikas“, während die Los Angeles Times sie als „eine der prominentesten Anführerinnen der Friedensbewegung“ würdigte. Sie war eine von 1.000 herausragenden Frauen aus 140 Ländern, die für den Friedensnobelpreis nominiert wurden – stellvertretend für Millionen Frauen, die weltweit entscheidende Friedensarbeit leisten.

Wir haben Medea Benjamin am Rande ihres Treffens mit römischen Aktivist:innen am 3. September interviewt und ihr einige Fragen gestellt.

Kannst du uns erzählen, wie du Aktivistin geworden bist? Gab es einen Punkt in deinem Leben, an dem sich alles änderte?

Ich bin in der Zeit des Vietnamkriegs aufgewachsen und habe schon in der High School gesehen, dass meine Regierung lügt und dass ihre Lügen sehr negative Folgen für den Rest der Welt und für die US-Bürger selbst haben. Ich habe auch gesehen, dass es die Aufgabe der Bürger:innen ist, die Wahrheit herauszufinden und zu versuchen, die Politik der Regierung zu ändern.

Zu dieser Zeit, in den so genannten 68ern, gab es eine starke Bewegung gegen den Krieg in Vietnam; diese Bewegung gab mir einen Grund zu kämpfen und ein Gefühl der Verantwortung. Ich wurde unter anderen von Jane Fonda und Tom Hayden inspiriert, ich bewunderte die Kühnheit ihrer Aktionen und ihre Fähigkeit, strategisch zu handeln. Aber am meisten hat mich inspiriert, dass ich unter Menschen war, unter so vielen Menschen, die mir vieles beigebracht haben – zum Beispiel, die Tragödie des Krieges mit den Tragödien der normalen Menschen zu verbinden wie Armut, Vertreibung, Unterernährung – Zusammenhänge, von denen Martin Luther King oft sprach.

Deine Proteste sind so bunt und aufrüttelnd: Woher nimmst du deine Inspiration?

Ich mag farbenfrohe Dinge, wie die Kunst der Karibik. Ich war in Kuba und habe mich in die Kunst dort verliebt, in die Musik, die Tänze, die Wandmalereien, alles war bunt und lebendig. Was die Quelle des Erfindungsreichtums angeht, so ist es die Notwendigkeit, die originelle Ideen hervorbringt – insbesondere das Bedürfnis, unsere Ziele zu erreichen und uns einen Namen zu machen.

Ein Beispiel: Wir wollten bei den Vorstandssitzungen der großen Unternehmen, die die Umwelt verschmutzen und Waffen produzieren, protestieren. Wir wollten unsere ökologische und antimilitaristische Botschaft an die Großinvestoren weitergeben, die unsere Plakate auf der Straße oder unsere Flugblätter nie lesen würden. Also beschlossen wir, Aktien einiger dieser Unternehmen zu kaufen, was uns das Recht gab, an Versammlungen teilzunehmen und unseren Protest direkt an die Quelle zu tragen, d.h. an die Großaktionäre. Natürlich haben diese Aktionäre nach einer Weile unsere Strategie erkannt, und jetzt werden die meisten Vorstandssitzungen online abgehalten, wo man nicht aufstehen und schreien und Fuchsien und schockrosa Luftballons werfen kann, wie wir es vorher in den Sitzungssälen taten. Macht nichts. Das bedeutet nur, dass wir jetzt neue Strategien erfinden müssen.

Deine Protestaktionen sind immer gewaltfrei, also glaubst du offensichtlich an die aktive Gewaltfreiheit, die außerdem die Grundlage der humanistischen Bewegung ist. Wenn das so ist, was sagst du dann zu den Skeptikern, die Gewaltfreiheit für eine Utopie halten, für etwas, das gegen rohe Gewalt und Mobbing nutzlos ist?

Wir glauben an die aktive Gewaltfreiheit, auch wenn wir wissen, dass sie nur ein Ziel ist, etwas, das man anstreben muss, eine Richtung, die man einschlagen muss, um zivilisierter zu werden. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass Gewaltfreiheit vor allem dann wirklich effektiv ist, wenn sie kollektiv ausgeübt wird. Ich gebe dir ein Beispiel: Um Konflikte gewaltfrei zu lösen, wurden die internationalen Institutionen geschaffen, die eine kollektive Antwort darstellen. Im Moment funktionieren diese Institutionen nicht so, wie sie sollten, aber jetzt liegt es an uns, sie effektiver zu machen. Und wie? Nehmen wir den Fall der Vereinten Nationen: Obwohl der Sicherheitsrat alle Befugnisse hat, kann er keine Konflikte lösen, weil er fortwährend durch Vetos dieses oder jenes ständigen Mitglieds behindert wird, während die UN-Generalversammlung zwar recht gut über die zu ergreifenden Initiativen beraten kann, ihr aber die Exekutivgewalt fehlt, um diese in die Tat umzusetzen. Es kann nur eine Lösung geben: den Sicherheitsrat zu ändern bzw. abzuschaffen und seine Befugnisse der Generalversammlung zu übertragen. Es lohnt sich, diesen Kampf zu führen, weil er kollektive Antworten ermöglicht und damit die Gewaltfreiheit in der Welt durchsetzbarer macht.

Hier ein weiteres Beispiel: Gewaltfreie Bewegungen gibt es in Palästina schon seit Jahrzehnten, aber wie gesagt, um effektiv zu sein, braucht die Praxis der Gewaltfreiheit auch die Unterstützung der Gemeinschaft. Im Falle Palästinas hat genau diese Unterstützung leider gefehlt. Wir Amerikaner:innen und ihr Europäer:innen haben den Palästinensern immer den Rücken zugewandt. Und deshalb ist die Gewalt ausgebrochen: Eine Gruppierung von Palästinensern, die gegenüber einem brutalen Angreifer, der sie langsam erstickte, allein gelassen wurde, schlug schließlich zurück. Aber die Schuld dafür liegt auch bei uns, den Amerikaner:innen und den Europäer:innen, weil wir die gewaltfreie Bewegungen in Palästina im Stich gelassen haben.

2018 unternahmen die Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza eine dramatische gewaltfreie Aktion, um die Belagerung zu durchbrechen, die Israel ihnen seit Jahren zumutet. Sie riefen zum Großen Marsch der Rückkehr auf: Mit bloßen Händen, ohne Waffen, näherten sich Dutzende von Gazawis den Barrieren, die den Gazastreifen umzäunen, und riefen den israelischen Soldaten auf der anderen Seite ihre Forderung zu, palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr auf das Land zu erlauben, das ihnen von israelischen Siedlern gestohlen wurde. Was war die israelische Antwort auf diese gewaltfreie Aktion? Schusswaffen- und Maschinengewehrfeuer. So wurden zweihundertdreiundzwanzig unbewaffnete Palästinenserinnen und Palästinenser kaltblütig getötet – einige waren Ärzte, die versuchten, ihre verwundeten Brüder vor Ort zu behandeln. Und wie haben die Vereinigten Staaten und Europa darauf reagiert? Haben sie sich etwa erhoben? Haben sie das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Rückkehr gefordert? Haben sie wenigstens gefordert, dass der israelische Beschuss aufhört? Ganz und gar nicht. Genau dort ist die palästinensische Gewaltfreiheit gelandet: im westlichen Mülleimer. Denn, ich wiederhole, damit Gewaltfreiheit funktioniert, muss auch die Gemeinschaft ihre Verantwortung übernehmen und sich zwischen Angreifende und Angegriffene stellen, anstatt wegzuschauen.

Damit das klar ist: Mit all dem will ich keineswegs sagen, dass die verzweifelte und gewalttätige Reaktion bestimmter Gazawis auf die israelische Besatzung (und die westliche Gleichgültigkeit) am 7. Oktober der richtige Weg war. Das sind Entscheidungen, die nur direkt Beteiligte treffen können, aber die darauf folgenden, noch schrecklicheren Gräueltaten liessen sofort erkennen, dass Gewalt nur noch mehr Gewalt hervorruft und so weiter und so fort. Gewaltfreies Handeln hingegen funktioniert auf lange Sicht, erfordert allerdings Beständigkeit und Ausdauer sowie die Fähigkeit, eine kollektive Reaktion zu mobilisieren.

Schließlich gibt es noch einen letzten Grund, warum wir versuchen sollen, aktive Gewaltfreiheit zu praktizieren und Menschen dazu zu bringen, sie zu praktizieren („aktive“ Gewaltfreiheit bedeutet in diesem Fall genau genommen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen für ihr wirkliches Funktionieren geschaffen werden müssen), und zwar diesen: Wenn die Anwendung von Gewalt abzulehnen ist, dann deshalb, weil Gewalt auch gegen diejenigen wirkt , die sie ausüben. Sie erniedrigt sie. Sie vernichtet sie von innen heraus. Sieh dir zum Beispiel all die Soldaten an, die aufgrund der Gewalt, die sie gesehen haben und ausüben mussten, an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden; viele sind nur nach Hause zurückgekehrt, um Selbstmord zu begehen oder auf den Straßen Gemetzel zu veranstalten.

So ist es tatsächlich. Die Deutsche Welle hat gerade eine wunderbare Dokumentation mit dem Titel „Julian Assange und die dunklen Geheimnisse des Krieges“ veröffentlicht. Sie zeigt die schrecklichen Auswirkungen des Irakkriegs auf die Psyche des Soldaten, der den verwundeten Jungen gerettet hat, den wir in Assanges Video „Collateral Murder“ sehen. Es ist ein schockierender Dokumentarfilm, den ihr euch unbedingt ansehen solltet (achtet darauf, dass ihr die Untertitel richtig einstellt, indem ihr auf das kleine Zahnrad auf dem Bildschirm klickt).

Vielen Dank für deine Zeit, wir werden die Proteste von CodePink nun mit noch größerem Interesse verfolgen.

Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!