Der Bundesrat missachtet die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR formulierten Anforderungen an einen menschenrechtskonformen Klimaschutz. Er behauptet, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR im Fall der KlimaSeniorinnen Schweiz sei bereits umgesetzt und folgt darin dem Parlament. Er übergeht, dass seine Argumente dazu bereits im Urteil widerlegt wurden. Zudem verpasst es der Bundesrat, für diese politisch motivierte Positionierung wissenschaftliche Beweise vorzulegen: Die Schweizer Klimaziele basieren nicht auf einem nationalen CO2-Budget, das auf das global noch verbleibende CO2-Budget für die Einhaltung des 1.5°C-Limits abgestimmt ist.
Der heute von der Landesregierung vorgelegten Position zum Urteil des EGMR fehlt es an nachvollziehbaren Begründungen. Statt mit einer seriösen Auseinandersetzung mit den im Präzedenzurteil aufgeführten Anforderungen an eine menschenrechtskonforme Klimapolitik, reagiert der Bundesrat mit Behauptungen, die im Gerichtsverfahren selbst schon widerlegt oder zurückgewiesen worden sind: Die Schliessung der Regulierungslücke beim CO2-Gesetz sowie auch das neue Stromgesetz reichen nicht aus, um die Menschenrechtsverletzung zu beheben.
Das gravierendste Versäumnis – obwohl gemäss Urteil ausdrücklich verlangt (§§ 569 ff. im Urteil): Der Bundesrat legt nicht dar, inwiefern die noch geplanten Emissionen der Schweiz tatsächlich damit vereinbar sind, dass die Erderwärmung global nicht über 1.5°C steigt. Der EGMR hat dieses von der Schweiz anerkannte und von der Bevölkerung unterstützte Erwärmungs-Limit von 1.5°C als menschenrechtlich relevante Grösse festgelegt.
Damit die 1.5°C-Grenze nicht überschritten wird, ist die Einhaltung des noch verbleibenden globalen CO2-Budgets massgebend. Dieses muss unter allen Ländern aufgeteilt werden. Das heisst, nationale CO2-Budgets müssen Bezug nehmen zum globalen Budget. Nationale Budgets ohne Bezugnahme zu einem globalen Budget besagen einzig, wie viel CO2 sich ein Staat selbst zugesteht – ohne Rücksicht zu nehmen auf das noch vorhandene globale Budget und die Ansprüche anderer Staaten daran. Ein solches Vorgehen kann nicht sicherstellen, dass die globale Erwärmung 1.5°C nicht übersteigt, und ist damit menschenrechtswidrig.
Die Schweiz vermochte bislang keine konkreten Zahlen zu einem nationalen CO2-Budget zu nennen. Doch ist heute schon klar: Mit dem bis 2030 geltenden CO2-Gesetz, dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien und dem Klimaschutzgesetz beansprucht die Schweiz ein deutlich zu grosses Stück des globalen Budgets. Würden alle so handeln wie die Schweiz, würde sich die Erde um bis zu 3°C erwärmen.
Der Bundesrat greift die Menschenrechte an. Die Menschenrechte sind universelle Rechte und gelten für uns alle. Mit seiner heutigen Verweigerung, den Klimaschutz in der Schweiz mit Blick auf die menschenrechtlichen Anforderungen des EGMR zu überprüfen und zu verstärken, setzt der Bundesrat die andauernden Menschenrechtsverletzungen fort. Das ist ein Schlag ins Gesicht der KlimaSeniorinnen und damit aller älterer Frauen, die besonders unter den Folgen der Klimaerhitzung leiden, wie das jüngste Schweizer Monitoring der hitzebedingten Todesfälle erneut aufzeigt. Das Vorgehen des Bundesrates ist eines Rechtsstaates nicht würdig.
Die KlimaSeniorinnen und Greenpeace Schweiz fordern darum weiterhin eine unabhängige wissenschaftliche Analyse des nationalen CO2-Budgets, das mit dem global noch verbleibenden CO2-Budget für die Einhaltung des 1.5°C-Limits abgestimmt ist. Auf der Grundlage dieses nationalen CO2-Budgets ist eine menschenrechtskonforme Klimapolitik zu erarbeiten und umzusetzen. Konkret heisst das: Die Zielsetzungen und Klimaschutzmassnahmen der Schweiz müssen mit dem CO2-Budget übereinstimmen, ansonsten sind sie ungenügend.
Verschärftes Verfahren für KlimaSeniorinnen-Urteil
Die Umsetzung des Urteils wird vom Ministerkomitee des Europarats überwacht. Dieses beschloss mit Entscheid vom 14. Juni 2024, die Umsetzung des KlimaSeniorinnen-Urteils im Rahmen eines sogenannten verschärften Verfahrens (enhanced procedure) inhaltlich zu überwachen, weil die Umsetzung des Urteils komplex ist.
Spätestens sechs Monate nach der Rechtskraft eines Urteils muss der betroffene Staat dem Ministerkomitee einen Aktionsplan vorlegen, der die geplanten Massnahmen und einen Zeitplan zur Umsetzung eines Urteils enthält. Im Fall der KlimaSeniorinnen ist der Aktionsplan der Schweiz somit am 9. Oktober fällig. Auch die Beschwerdeführenden sowie die Zivilgesellschaft können sich dem Ministerkomitee mitteilen.
Nächste Klimaklage vor dem EGMR
International hat das Klima-Urteil bereits diverse Auswirkungen gezeitigt. Kürzlich räumte der EGMR der Klimaklage gegen Österreich Priorität ein und forderte von der österreicher Regierung eine Stellungnahme zu verschiedenen Fragen. Diese Fragenfussen mehrheitlich auf den im KlimaSeniorinnen-Urteil entwickelten menschenrechtlichen Anforderungen an den Klimaschutz. Auch das anhängige Verfahren von Greenpeace Nordic and Others v. Norway kommt mit der Beantwortung von Fragen auf der Grundlage des KlimaSeniorinnen-Urteils voran. Auf der Grundlage des Urteils werden in Finnland und Deutschland neue Klagen eingereicht. An der Anhörung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Inter-American Court of Human Rights) über ein Gutachten zum Klimanotstand und den Menschenrechten im April verwiesen diverse Staaten bereits auf das Urteil des EGMR.