Nationalstaaten sind eine moderne Erfindung, die in der von westlichen Historikern so bezeichneten Neuzeit entstanden sind und bis heute andauern. Fünf Jahrhunderte sind ein Atemzug in der Geschichte der Menschheit.

Eine Sprache, ein Volk, eine Nation, ein Staat und damit das Recht, die Herrschaft über andere Völker zu erzwingen: Das ist das Schema, das seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts – mit der Heirat von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon – die tragische Geschichte ethnischer und „monotheistischer“ Nationalstaaten eingeleitet hat, die wir immer noch durchleben.

In der Tat kann die Kirche, die ja auch „eine einzige“ ist, nützlich und sogar unverzichtbar sein, wenn sie, anstatt Brüderlichkeit unter den Menschen zu predigen, Waffen und Wimpel segnet.

Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Spanien – eine geografische Region, die von verschiedenen Völkern mit artikulierten und manchmal mehrfachen sprachlichen und religiösen Identitäten bewohnt wurde, Kastilier und Katalanen, Zigeuner, Araber, Muslime (nicht unbedingt Araber), Juden – vereinheitlicht und zum Königreich Spanien zusammengeschlossen. Alle mussten sich zwischen erzwungener Assimilation und Vertreibung entscheiden. Man konnte auch versuchen, seine Gedanken und seine Religion zu verbergen, allerdings auf die Gefahr hin, von der Inquisition denunziert zu werden und auf dem Scheiterhaufen zu landen.

Die Eroberung Mittel- und Südamerikas – das die Spanier und Portugiesen in der Folge linguistisch in Lateinamerika verwandelten, indem sie dem Land ihre Sprachen aufzwangen – ist die Konsequenz des Begriffes Nationalstaat. So drückt sich nämlich die einzige Nation, die sich im Inneren durchgesetzt hat, in ihrer Außenpolitik aus: Die Vorherrschaft rechtfertigt Kolonialismus, Eroberungskrieg und, wenn nötig, Völkermord an den Aufständischen.

Spreche ich von der Russischen Föderation? Von Israel? Von den Vereinigten Staaten? Von der Ukraine?

Ich spreche von uns, den Menschen des 21. Jahrhunderts, hier auf dem Maidan-Platz in Kiew, einem weiteren Ort des Gedenkens, an dem eine große Zahl Flaggen an die Toten eines Krieges erinnert, der gar nicht erst hätte beginnen dürfen. Ein Krieg, der jetzt sofort beendet werden muss für einen stabilen und dauerhaften Frieden, der die Rechte aller Kinder, Frauen und Männer in dieser geschundenen Region respektiert. Ein Frieden, der auch in Palästina, im Sudan und in jedem Winkel unserer Welt durchgesetzt werden muss.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Maidan-Platzes, dem Unabhängigkeitsplatz, steht ein Denkmal aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Ukraine eine der wichtigsten Sowjetrepubliken war. Es zeigt die Weltkugel, umgeben von Tauben mit Olivenzweigen; am Sockel sind die Entfernungen zu allen großen Städten der Welt angegeben.

Als das sowjetische Kiew unser „Feind“ war, erinnerte uns der Schriftsteller und Pädagoge Gianni Rodari mit diesem wunderschönen Gedicht daran, dass der Mond derselbe ist:

Der Mond von Kiew

Ich frage mich, ob der Mond
von Kiew so schön ist
wie der Mond von Rom.
Wer weiss, ob er derselbe ist
oder nur seine Schwester…

„Aber ich bin doch immer derselbe!
– protestiert der Mond –
Ich bin doch nicht
eine Nachtmütze
auf deinem Kopf!

Ich reise hier oben,
gebe allen Licht
von Indien bis Peru,
vom Tiber bis zum Toten Meer,
und meine Strahlen reisen
ohne Reisepass.

Lasst uns das Feuer einstellen.

Alle Fotos von Mauro Zanella. Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!