Die Berliner Paartanzszene ist aus dem Berliner Nachtleben nicht wegzudenken. Die Donnerstage und Sonntage im Berliner Soda Club (Kulturbrauereigelände), an denen auf 5 verschiedene Floors paarweise getanzt werden kann (Kizomba, Salsa Cubana, Mambo, Bachata, Zouk), sind schlichtweg eine Institution. Am Spreeufer sind im Sommer fast täglich Tanzveranstaltungen unter freiem Himmel zu finden, die die Hingabe dieser Community wiederspiegeln: Die Veranstaltungen sind gratis, die besten DJs der Stadt stellen ihr Können zur Verfügung und Menschen jeden Alters, mit den verschiedensten kulturellen und sozialen Hintergründen bewegen sich in Paaren rhythmisch zur Musik. Daneben gibt es jährliche Festivals, wie den Berlin Salsa Congress (für Salsa), Berlin Kizzes (für Kizomba) und Ritmo (für Bachata), wo gleich mehrere Tage hintereinander weg Tanzkurse und Tanzabende besucht werden können.

Von Yalira Santelmo

Die Zeit der Pandemie, die Paartanzende schwer getroffen hat, war auch für die großen Tanzschulen wie Mambita, Cumbancha oder Dolce Vita Dance eine echte Herausforderung – doch mit Masken, HEPA Filtern, Spenden und diversen Vorsichtsmaßnahmen wurde ihr erfolgreich getrotzt. Tanzen ist aus dem Leben einfach nicht wegzudenken – wo gelebt wird, wird getanzt. Dies war gerade in Zeiten dieser großen, zwischenmenschlichen Distanz eine Quelle der Freude und des Gefühls der Verbundenheit in Berlin.

Ob Tango, Salsa oder Zouk: Der Paartanz stellt eine Form der kulturübergreifenden Kommunikation dar, in der keine Worte notwendig sind: Durch Bewegungscodes, Musik und Rollenaufteilungen wird ein Bewegungsrahmen gestaltet, in dem Tänzer und Tänzerinnen ihrem kreativen Ausdruck freien Lauf lassen können. Durch die Übereinkunft, dass eine Person den Tanz führt (der Leader, traditionell gesehen die Rolle des Mannes) und eine Person im Tanz folgt (der Follower, traditionell gesehen die Rolle der Frau) werden synchronisierte Bewegungen ermöglicht. Hierdurch entsteht ein Prozess der Emergenz, in dem der Tanz nicht nur die individuellen Bewegungen zweier Personen darstellt, sondern ein neues, rhythmisches Bild gezeichnet wird. Damit ergeben sich vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten über die eigentlichen Tanzschritte hinaus.

Traditionelle Rollenbilder werden aufgehoben oder übertrieben (bspw. über Kleidung oder traditionell maskuline und feminine Bewegungsstile), Elemente aus anderen Tanzrichtungen übernommen oder die abendliche Laune in besonders gefühlvollen, zurückhaltenden oder energetischen Bewegungen ausgedrückt, die wechselseitig vom Partner aufgegriffen und interpretiert werden können. So bietet jeder einzelne Tanz die Gelegenheit, einen individuellen Ausdruck von Stärke, Sensualität, und Selbstbewusstsein zu finden. Das Ergebnis ist eine besondere Form des Empowerments, welches die subjektive Erfahrung der Tanzenden und der Beobachtenden prägt. Damit dies gelingen kann, ist Vertrauen notwendig. Vertrauen auf Seite des Followers, dass sorgsam mit dem Körper umgegangen wird, der geführt werden darf. Vertrauen auf Seite des Leaders, dass der Follower den Bewegungsimpulsen folgt, die vom Leader gestaltet werden.

Was passiert jedoch, wenn das Vertrauen missbraucht wird?

In Berlin wurden immer wieder Stimmen von Frauen laut, die in der Paartanzszene sexuell belästigt wurden. In Chatgruppen, in denen sich Tanzbegeisterte über die Neuigkeiten zu Tanzkursen und Tanzveranstaltungen austauschen, kam es anlässlich dieser Berichte zu regen Diskussionen. Die Meinungen gingen häufig weit auseinander – es handele sich um Einzelfälle, die in der Verantwortung der Betroffenen liegen, oder aber um ein nahezu allumfassendes Problem in Berlin, das von organisatorischer Seite, das heißt seitens Veranstalter:innen und Tanzlehrer:innen geklärt werden müsse. Nun hat eine kleine Gruppe von Tanzbegeisterten die Initiative ergriffen und auf eigene Kosten eine Umfrage konzipiert und ausgeführt, um ein genaueres Bild über das Ausmaß von den Belästigungen zu erhalten.

Die Ergebnisse sind ernüchternd. Innerhalb nur einer Woche haben rund 450 Paartanzende aus den verschiedensten Tanzbereichen, von Salsa bis Swing, den Fragebogen ausgefüllt (68% Frauen, 27%Männer, 1% nicht-binär, 4% ohne Angabe). Zwei Drittel aller Teilnehmenden gaben an, unangemessenes Verhalten erlebt zu haben – 80% der teilnehmenden Frauen, 33% der Männer – ein klares Gefälle. Weibliche POC (People Of Color) waren mit 84% am häufigsten betroffen. Bei dem unangemessenen Verhalten ging es in 70% der Fälle um körperliche und sexuelle Übergriffe, bspw. unerwünschte Berührungen oder Küsse bis hin zu Vergewaltigungen, gefolgt von emotionaler und digitaler Gewalt, bspw. Gaslighting, Stalking oder Catcalling (jeweils 40% und 30% der Fälle). Bei 50% der Teilnehmenden haben diese Erfahrung dazu geführt, dass sie mit dem Tanzen aufhörten oder aufhören wollten.

„Das Ergebnis bestätigt leider unsere Befürchtung, dass es sich hier um ein strukturelles Problem handelt“, so eine der initiierenden Personen. „Es drängt sich die Vermutung auf, dass Frauenfeindlichkeit immer noch die Realität ist- auch in Berlin. Frauen müssen ihre Grenzen aktiv verteidigen, Männer haben erstmal die Berechtigung, diese Grenzen zu überschreiten. Diese Auffassung ist besonders in dieser Konstellation, wo die körperliche Nähe in der Natur der Sache liegt, Gift.“ Der Paartanz bietet in Zeiten der zunehmenden sozialen Isolation Gelegenheit, anderen Menschen in einem geregelten Rahmen näher zu kommen. Ist die körperliche Nähe jedoch die Hauptmotivation und das Tanzen wird lediglich als Vehikel für eine Interaktion mit dem anderen Geschlecht benutzt, wird das weder dem Tanz gerecht, noch der Verantwortung für den Tanzpartner. Eine der Teilnehmenden beschreibt: „Während ich Bachata im Soda Club tanzte, nahm ein Typ meine Hand und legte sie auf seinen erigierten Penis“. Beispiele wie diese zeigen, dass die Tanzetikette ganz bewusst missachtet wird. Ein schöner Abend wird auf diese Weise ruiniert, ein Hobby wird zum Risiko für das Wohlbefinden und die eigene Sicherheit.

Wie kann dieses Problem gelöst werden? In größeren Clubs gibt es Türsteher, diese bieten jedoch in der Regel nur wenig Sicherheit. Schlimmstenfalls wird nach dem Motto „Aussage gegen Aussage“ gar nichts unternommen. Die Tatsache, dass ständig neue Veranstaltungen entstehen, zum Teil privat organisiert, ist in einer Stadt wie Berlin besonders reizvoll, bietet Abwechslung und neue Impulse – aber hier gibt es große Unterschiede, was die Professionalität der Veranstaltung und die Haltung der Organisator:innen und Besuchenden gegenüber Frauen angeht. Gerade Neulinge laufen hier Gefahr, schlechte Erfahrungen zu machen und sind häufig unsicher, was im Rahmen eines Tanzes „erlaubt“ ist, wo ein Übergriff beginnt und wie sie am besten reagieren sollen. Dies zeigt sich auch anhand der Umfrage. Die Teilnehmenden wurden gefragt, welche Lösungsansätze wünschenswert wären. 70% wünschen sich das Thematisieren von Consent (Einwilligung) im Tanzunterricht, knapp über 60% wünschen sich, dass Tanzlehrer:innen, Organisator:innen und DJs dahingehend speziell geschult werden und nahezu 60% wünschen sich das Ausschließen von übergriffigen Personen von Tanzveranstaltungen.

Besonders schwierig ist es, die Veranstalter:innen und Tanzlehrer:innen für das Thema zu sensibilisieren, denn das Thema wird gerne verharmlost oder verschwiegen. Tanzen soll Spaß machen, eine Flucht vor dem Alltag bieten, da ist ein Diskurs über Gewalt nicht sehr bequem – besonders wenn es um hart erkämpften Profit geht. Ein „Awareness Team“, das auf Veranstaltungen erkennbar ist und angesprochen werden kann, Poster, Öffentlichkeitsarbeit könnten zu einer Sensibilisierung für das Thema beitragen und es Betroffenen erleichtern, sich zu wehren. Am wichtigsten ist es jedoch, die Personen zur Verantwortung zu ziehen, die sich schuldig machen – dies kann eben auch den Ausschluss von Veranstaltungen oder aus dem Tanzunterricht bedeuten, wenn jemand durch wiederholte Übergriffe auffällt. Darüber hinaus muss es einen aktiven Dialog auf der Veranstaltungsebene geben, um eine Kulturänderung in der Szene anzustoßen. Veranstalter:innen müssen zu Verbündeten derjenigen Personen werden, die am stärksten unter den Übergriffen leiden und diese aktiv schützen. Dass es sich hier um ein Problem handelt, das weit über Berlin hinausgeht, beschreibt Liliana de Lima, international renommierte Tänzerin, Tanzlehrerin und Organisatorin im Bereich des Tarraxo und Urban Kiz (Ableger des ursprünglichen, angolanischen Kizomba). Auf ihrem Instagram Account äußert sie: „Frauen und Männern werden nicht die gleichen Standards auferlegt in der sozialen Tanzszene von Urban Kiz und Kizomba. […] Frauen werden häufig als „leicht“ oder „nuttig“ bezeichnet, wenn sie einfach nur den Tanz genießen. In einer Tanzverbindung für mehr als 30 Minuten zu bleiben, oder mit geschlossenen Augen zu Tanzen, wird ein Grund für Verurteilung – das heißt, wenn du eine Frau bist. Währenddessen leben die Männer ihr bestes Leben. Über multiple Sexpartner während nur einem Wochenende wird Witze gemacht, es wird sogar dazu ermutigt, wenn du ein männlicher DJ oder Organisator bist. Fremdgehen wird als normal erachtet bei vielen Männern in der Szene, weil es nicht zählt, wenn es während eines Festivals passiert, richtig?“ (von dem/der Autor:in übersetzt aus dem Englischen). Dieses Statement zeigt, wie tief die Frauenfeindlichkeit auch auf organisatorischer Ebene verankert ist.

Nur wenn es gelingt, auf verschiedenen Ebenen Veränderung zu bewirken, kann die Paartanzszene zu dem werden, was sie eigentlich sein soll – ein Ort der Begegnung, der Kreativität, des Feierns verschiedenster Kulturen und des Menschseins an sich.

Text von Yalira Santelmo

ALIAS: Bei Interesse an dem Thema melden Sie sich gerne: dancers4dancers.berlin@gmail.com

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