Vor 20 Jahren wurde in Ostdeutschland gegen die Einführung von Hartz IV protestiert. Im Museum des Kapitalismus in Berlin wurde kürzlich über die heutige Situation von Arbeitslosen diskutiert.
Friedrich Merz war erst wenige Stunden zum Kanzlerkandidaten der Union ausgerufen, als er von einem Journalisten im Fernseh-Interview gefragt wurde, was aus seiner Sicht die „wichtigste Einzelmaßnahme“ sei, „um die Wirtschaft in Gang zu bringen“. Der CDU-Politiker gab darauf seine bekannte Position zur Antwort, dass er dafür sorgen wolle, dass das Bürgergeld so geändert werde, dass sich Arbeit wieder lohne. Menschen, die einer Arbeit nachgingen, müssten mehr Geld haben als Menschen, die nicht arbeiteten.
Für Gitta Schalk von der Berliner Initiative Basta, die Erwerbslose und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen unterstützt, sind die Äußerungen des Unionskanzlerkandidaten eine Bedrohung für arme Menschen. Sie saß vergangenen Woche auf einem Podium mit Aktiven aus Erwerbslosengruppen und Wissenschaftlern im Museum des Kapitalismus in Berlin-Kreuzberg. „Armut ohne Widerstand“ hieß die Veranstaltung, die ich selbst mitorganisiert habe. Eingeladen hatten die Herausgeberinnen und Herausgeber des Buches „Klassenlos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“, wozu ich ebenfalls gehöre. Bei der Veranstaltung selbst hörte ich aber nur aus dem Publikum heraus zu.
„Bei der Hetze gegen Bürgergeldbezieher überbieten sich AfD und CDU schon lange. Da hat es nie eine Brandmauer gegeben“, erklärte Gitta Schalk. Sie verwies darauf, dass sowohl die AfD als auch die Unionsparteien das Bürgergeld als leistungsloses Einkommen diffamierten und schärfere Sanktionen gegen Menschen forderten, die sich angeblich weigerten, Arbeit um jeden Preis anzunehmen.
Der Protest gegen diese Diffamierung ist heute allerdings sehr leise. Anne Seeck, die vor 20 Jahren im Kampf gegen Hartz IV aktiv war und noch heute in Stadtteilinitiativen in Berlin-Neukölln mitarbeitet, merkte etwa an: „Vor 20 Jahren, im Spätsommer und Herbst 2004, sind in vielen deutschen Städten Zehntausende gegen die Einführung von Hartz IV auf die Straße gegangen. Der Schwerpunkt der Proteste lag in Ostdeutschland. Heute geht die Hetze gegen das Bürgergeld weitgehend ohne Protest über die Bühne.“ Stattdessen werde in der öffentlichen Debatte der Eindruck erweckt, nicht die Armut, sondern die Migration sei das größte Problem in Deutschland. Davon würden die rechten Parteien profitieren, vor allem die AfD, so Seeck.
Roman und Zlatina von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), die seit über 40 Jahren eine unabhängige Erwerbslosenberatung anbietet, konnten von Fällen berichten, die in starkem Kontrast stehen zu dem, was Merz und andere behaupten. „Wir machen in unserer Beratungsarbeit die Erfahrung, dass die Armut zugenommen hat und viele Menschen nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, obwohl sie in Arbeitsverhältnissen stehen und große Probleme bei der Beantragung und Bewilligung ihnen eigentlich zustehender sozialer Leistungen haben“, sagte Roman. Zlatina berät auch Beschäftigte der Fleischindustrie, die im Umkreis von Oldenburg stark vertreten ist. Es sind oft Menschen aus Osteuropa, die dort zu Bedingungen schuften müssen, wie man sie eigentlich eher aus dem Frühkapitalismus kennt. Der Lohn ist gering, der Arbeitsdruck hoch, bei Arbeitsunfällen werden die Beschäftigten oft gekündigt. Mithilfe der ALSO fordern die Beschäftigten ihre Rechte ein, die sie vor der Beratung oft gar nicht kannten.
Zlatina selbst kam als Akademikerin nach Deutschland und musste als Reinigungskraft arbeiten. Sie ließ sich zur Integrationsberaterin ausbilden und setzt sich in dieser Rolle für die Rechte der Beschäftigten in der Fleischindustrie ein. Bei der Podiumsdiskussion berichtete sie allerdings, mit welchen Widerständen sie in ihrer Arbeit konfrontiert wird. Sie erzählte etwa folgende Anekdote: Als sie bei den zuständigen Behörden angefragt habe, ob sie einen Raum für sich und die Ratsuchenden bekommen könnte, in dem sie sich treffen und über ihre Probleme reden könnten, sei das Ansinnen vehement abgelehnt worden. Da könnten ja Widerstandsstrukturen entstehen, die man nicht unterstützen wolle, so die Begründung. Im Sozialen Zentrum, in dem die ALSO seit langem Sozialberatung anbietet, habe sie schließlich einen geeigneten Raum gefunden.
Arme Menschen sind nicht nur Opfer der Verhältnisse
Die Berichte von den Aktiven der Erwerbslosengruppen Basta und ALSO machten deutlich, dass das Bild von armen Menschen als bloße Opfer der Verhältnisse, die zu Protest und Widerstand nicht in der Lage seien, einer Korrektur bedarf. Diese Beobachtung wurde während der Veranstaltung vom Sozialwissenschaftler Harald Rein unterstützt. Er berät seit Jahrzehnten in einem Arbeitslosenzentrum in Frankfurt am Main Menschen in Notlagen.
Auf dem Podium wandte er sich gegen eine auch unter Linken verbreitete Erzählung, dass Lohnarbeit solidarische Beziehungen ermögliche, während Erwerbslose dazu nicht fähig seien. Für Rein ist diese Annahme doppelt falsch. „Weder sind die Beziehungen unter Arbeitern automatisch solidarisch noch sind alle Erwerbslosen hilflos und resigniert.“ Rein verwies auf historische Beispiele, die er in dem Buch „Wenn arme Menschen sich nicht mehr fügen“ ausführlich beschreibt.
Allerdings würden auch viele Linke den Fehler machen, die Bereitschaft zu Protest und Widerstand von Erwerbslosen an der Teilnahme an Kundgebungen und Demonstrationen ablesen zu wollen. Dass es eher selten zu solchen Protesten komme, werde dann als Beweis für die These herangezogen, dass Erwerbslose nicht bereit seien, für ihre Interessen zu kämpfen. Dabei würden die sehr unterschiedlichen Formen von individuellem Widerstand ignoriert, mit denen sich arme Menschen gegen die Zumutungen von Jobcentern und anderen Behörden wehren würden. Dazu zählte Rein beispielsweise die Praxis bei Terminen im Jobcenter Personen des Vertrauens mitzunehmen, um nicht allein der Bürokratie ausgeliefert zu sein; ebenso erwähnte Rein den Gang vor die Sozialgerichte. Die Vertreter von ALSO und Basta betonten, dass viele Sanktionen und Leistungskürzungen des Jobcenters vor Gericht gekippt würden.
Nichtsdestotrotz stand das Podium dem Sozialstaat teilweise ambivalent gegenüber. Der Übersetzer und Aktivist Christian Frings bezeichnete den Sozialstaat aus historischer Perspektive als Instrument der Spaltung: „Die Aufteilung in angeblich verschuldete und unverschuldete Armut wird oft auch von den Betroffenen übernommen und trägt dazu bei, dass sich oft Protestbewegungen schnell spalten.“
Diese Spaltung erschwere auch größere Bündnisse zwischen Gewerkschaften und aktiven Erwerbslosen, so Frings. Die Vertreter von ALSO und Basta beklagten, dass sie öfter solidarisch Streiks der Gewerkschaften unterstützt hätten, indem sie sich als Erwerbsloseninitiative an Kundgebungen und Demonstrationen beteiligt hätten. Sie hätten es aber selten erlebt, dass Aktionen von Erwerbslosen gewerkschaftlich unterstützt wurden. Aktuell vermissen sie auch Stellungnahmen des DGB und der Einzelgewerkschaften gegen die Angriffe auf das Bürgergeld.
Dabei wäre eine solche Positionierung auch im Interesse der Gewerkschaftsmitglieder. Denn laut Christian Frings sähen die Kapitalverbände in den Erwerbslosen immer eine Reservearmee, die Druck auf die Lohnabhängigen ausübe. Mit dem Argument, es stünden genügend Menschen bereit, die ihre Arbeitskraft zu einem niedrigeren Preis verkaufen würden, könnten auch die Beschäftigten gefügig gemacht werden. So seien die Angriffe auf das Bürgergeld durchaus auch ein Angriff auf die Menschen, die (noch) in Lohnarbeit sind.
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