Mehrere Staaten des nördlichen Afrikas, mit denen die EU in der Flüchtlingsabwehr kooperiert, setzen Migranten ohne Wasser und Nahrung in der Wüste aus, zuletzt vergangene Woche in Tunesien. Viele kommen dabei zu Tode.
(Eigener Bericht) – Zum wiederholten Mal haben Tunesiens Behörden in der vergangenen Woche eine große Zahl an Flüchtlingen in die Wüste deportiert – und kooperieren in der Flüchtlingsabwehr mit der EU. Wie Menschenrechtler in Tunis berichten, setzten tunesische Beamte rund 40 Flüchtlinge in einem isolierten Wüstengebiet ohne Wasser und Nahrung aus. Ob die Betroffenen noch leben oder ob sie mittlerweile verdurstet sind, ist unbekannt. Die EU hatte im Juli 2023 einen Flüchtlingsabwehrpakt mit Tunesien geschlossen und dafür 785 Millionen Euro zur Verfügung gestellt – dafür fordernd, dass Tunis alles unternimmt, um Flüchtlinge von der Fahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Um die Migranten loszuwerden, lässt die tunesische Regierung sie in die Wüste deportieren. Dies tun auch die Regierungen Marokkos, Mauretaniens und Algeriens, mit denen die EU gleichfalls in der Flüchtlingsabwehr kooperiert. So hat Brüssel Mauretanien im Februar als Gegenleistung 210 Millionen Euro zugesagt, wenn es nur bereit ist, Flüchtlinge nicht mehr auf die Kanarischen Inseln reisen zu lassen. Immer wieder werden in der Wüste an den Grenzen Tunesiens, Algeriens und weiterer Staaten Leichen entdeckt.
In die Wüste deportiert
Dass Staaten im nördlichen Afrika mit Wissen und mit zumindest indirekter Unterstützung der EU Flüchtlinge in die Wüste abschieben, ist seit rund zwei Jahrzehnten gut dokumentiert. Ein früher Fall ereignete sich, als im Herbst 2005 eine größere Zahl afrikanischer Flüchtlinge aus Marokko in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu gelangen versuchten. Auf Druck aus Europa setzten die marokkanischen Behörden viele Flüchtlinge fest und begannen sie in ein Wüstengebiet an der Grenze zu Algerien zu deportieren, wo sie sie aussetzten, in vielen Fällen ohne Nahrungsmittel und Wasser. Amnesty International schilderte damals, gut 1.500 von ihnen hätten den Weg in eines der verstreuten Dörfer der Region gefunden und überlebt.[1] Wie viele sich verirrten und verdursteten, ist unbekannt. Über ähnliche Praktiken ist seitdem immer wieder berichtet worden. Bei einer Abschiebeaktion im Jahr 2018 seien wohl rund 5.000 Menschen in marokkanische Wüstengebiete verschleppt worden, teilte die Association Marrocaine des Droits Humains (AMDH) damals mit; viele seien gefesselt, zum Teil sogar an den Händen aneinandergebunden gewesen.[2] Zumindest Abschiebungen in Wüstengebiete ganz im Norden der marokkanisch-algerischen Grenze fänden, so berichten Menschenrechtsorganisationen, noch heute statt.
Geld gegen Flüchtlinge
Vergleichbare Fälle sind auch für Mauretanien dokumentiert, seit die EU im Jahr 2006 das Land zu nötigen begann, Flüchtlinge vom Übersetzen von seiner Küste auf die Kanarischen Inseln abzuhalten. Bis heute werden festgesetzte Flüchtlinge zuweilen in die Wüstenregion um Gogui an der Grenze Mauretaniens zu Mali verschleppt und dort ausgesetzt, auch dies ohne angemessene, zuweilen ganz ohne Versorgung.[3] Dabei wird Mauretanien – wie Marokko – von der EU bei der Flüchtlingsabwehr unterstützt. Laut Recherchen der Organisation Statewatch erhielt Marokko aus Brüsseler Töpfen allein von 2001 bis 2010 mehr als 68 Millionen Euro mit der Vorgabe, die Gelder zum Aufhalten von Migranten zu nutzen. Bis 2019 folgten demnach weitere 140 Millionen Euro.[4] Deutschland leistete bilaterale Beihilfe, etwa – schon seit 1999 –, indem es marokkanische Polizisten trainierte oder die marokkanische Armee aufrüstete.[5] Mauretanien wiederum hat nach Recherchen der französischen Abendzeitung Le Monde allein seit 2015 mindestens 80 Millionen Euro von der EU erhalten, um Flüchtlinge aufzuhalten. Am 8. Februar 2024 versprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Präsidenten Mauretaniens, Mohamed Ould Ghazouani, weitere 210 Millionen Euro unter anderem zur Flüchtlingsabwehr.[6] Es kamen noch 300 Millionen Euro aus Spanien hinzu.
„Team Europe“
Zu den wenigen Fällen, die in deutschen Medien zeitweise eine gewisse Aufmerksamkeit erhalten haben, gehören Abschiebungen, die Tunesiens Behörden in das Wüstengebiet an der Grenze zu Libyen vornehmen. Das tun sie, seit im vergangenen Jahr Tunesiens Präsident Kaïs Saïed eine rassistisch geprägte Kampagne gegen Flüchtlinge entfachte (german-foreign-policy.com berichtete [7]), immer wieder. Zum ersten Mal setzten tunesische Stellen Flüchtlinge, die sie vor allem in der Küstenstadt Sfax aufgegriffen hatten – von dort machen sich regelmäßig Boote auf die gefährliche Reise nach Europa –, im Juli 2023 in der extrem unwirtlichen, bis zu 50 Grad heißen Grenzregion aus, dies ohne Wasser, Nahrungsmittel und Mobiltelefone. Die genaue Zahl ist unbekannt. Bekannt ist, dass am 16. Juli 2023 EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte, in Tunis weilte („Team Europe“), um Präsident Saïed 785 Millionen Euro zuzusagen – als Gegenleistung für die Verhinderung der Abreise weiterer Flüchtlinge nach Europa. Nach Angaben der United Nations Support Mission in Libya (UNSMIL) retteten libysche Grenzer bis März 2024 8.664 Menschen im Grenzgebiet zu Tunesien.[8] 29 Leichen wurden gefunden. Die Zahl der unentdeckten Todesopfer ist unbekannt.
Die Hölle von Assamaka
Letzteres gilt auch für die Todesopfer an der Grenze zwischen Algerien und Niger. Im März 2017 hatten die EU und die algerische Regierung sich geeinigt, unter anderem in der Abwehr von Flüchtlingen enger zusammenzuarbeiten. Unmittelbar darauf begann Algier, Flüchtlinge, die sich in der Nähe des Mittelmeeres aufhielten, aufgreifen und in die südalgerische Wüstenstadt Tamanrasset bringen zu lassen. Von dort wurden sie unmittelbar an die Grenze zu Niger deportiert und ausgesetzt. Rund 15 Kilometer südlich liegt das nigrische Wüstendorf Assamaka, in dem die International Organization for Migration (IOM) Flüchtlinge betreut. Seien im Mai 2017 nur 135 Flüchtlinge angekommen, so seien es im April 2018 bereits 2.888 gewesen, berichtete die IOM; mittlerweile ist von Jahresgesamtzahlen von 23.000 (2023) bis 25.000 (2018) die Rede.[9] Die Lebensbedingungen in Assamaka, wo zahlreiche Flüchtlinge festsitzen, sind katastrophal. Auf dem Fußweg durch die Wüste von der Grenze, an der sie ausgesetzt werden, bis nach Assamaka kommen außerdem immer wieder Menschen zu Tode, weil sie sich verirren, verdursten oder entkräftet liegenbleiben. Allein im Mai fand die Hilfsorganisation Alarme Phone Sahara dort sterbliche Überreste von elf Verdursteten.[10] Le Monde schrieb bereits im vergangenen Jahr von der „Hölle von Assamaka“.[11]
Verschollen im Sand
In der „Hölle von Assamaka“ enden auch zahlreiche Flüchtlinge, die Tunesiens Behörden nicht an der Grenze des Landes zu Libyen, sondern an seiner Grenze zu Algerien aussetzen: Zuweilen übergeben sie die Flüchtlinge dort direkt an algerische Grenzer, die wiederum dafür sorgen, dass die Betroffenen nach Tamanrasset weitergeschoben und anschließend an der Grenze zu Niger ausgesetzt werden. Auch in diesem Fall ist die Zahl der Todesopfer gänzlich unbekannt. Zuweilen setzen tunesische Beamte Flüchtlinge an der Grenze zu Algerien aber auch im Nichts aus. Dies war der Fall bei den rund 40 Migranten, die in der vergangenen Woche die Menschenrechtsorganisation Forum tunisien pour les droits économiques et sociaux (FTDES) wenigstens nachzuverfolgen suchte, zu der sie aber schließlich den Kontakt verlor. Die Menschen seien „ohne Wasser oder etwas zu essen in einer sehr isolierten Region“ ausgesetzt worden, teilte der Sprecher des FTDES, Romdhane Ben Amor, mit.[12] Nach Schätzungen der Nachrichtenagentur AFP wurden allein von Juni bis September 2023 mehr als 3.000 Menschen an Tunesiens Grenze zu Algerien ausgesetzt; im Mai 2024 wurden in einer größeren Einzelaktion laut Angaben des FTDES gut 300 Flüchtlinge in das Grenzgebiet deportiert.[13] Zuweilen werden in der Region Leichen gefunden. Die Zahl der Todesopfer ist unbekannt.
[1] Spain and Morocco: Failure to protect the rights of migrants – Ceuta and Melilla one year on. Amnesty International, October 2006.
[2] Morocco: Relentless crackdown on thousands of sub-Saharan migrants and refugees is unlawful. amnesty.org 07.09.2018. S. dazu Flüchtlinge als Spielball.
[3] En Mauritanie, Euros contre migrants. enass.ma 06.06.2024.
[4] Aid, border security and EU-Morocco cooperation on migration control. statewatch.org 24.11.2019.
[5] S. dazu Opfer unbekannt.
[6] The EU announces 210 million euros in aid to help Mauritania curb migration. apnews.com 08.02.2024.
[7] S. dazu Sperrriegel gegen Flüchtlinge.
[8] Migrants Abandoned on the Edge of the Sahara. spiegel.de 04.06.2024.
[9] UN Migration Agency “Greatly Concerned” by Reports of Migrants Stranded at the Algeria-Niger Border. iom.int 26.06.2018.
[10] Charlotte Boitiaux: Expulsions in Algeria: 11 migrants died of thirst in desert, Alarm Phone Sahara says. infomigrants.net 21.05.2024.
[11] « Nous sommes devenus du bétail » : au Niger, les migrants jetés dans l’enfer d’Assamaka. lemonde.fr 06.04.2023.
[12] 40 Migrants allegedly expelled into desert by Tunisian authorities. infomigrants.net 30.08.2024.
[13] Tunisia expels hundreds of sub-Saharan migrants from capital: NGO. newarab.com 03.05.2024.